Himmel (jetzt reicht's aber)

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Jene »arme Belinda« im rosa Berufskittel stieß einen schrillen Freudenjauchzer aus, als sie Stephen hereinkommen sah. Im nächsten Moment ließ sie ihre vollschlanke Kundin einfach mit Watte-Pads auf den Augen liegen und hing ihm um den Hals. »Du bist ein Schatz, bringst mir bestimmt mein Handy zurück, oder?«

»Aha, das scheint dir wohl öfters zu passieren, nicht wahr? Aber woher wusstest du, dass es im Café lag und ich es mitgenommen habe?«, fragte Stephen scherzhaft.

Erwischt. Belinda schlug dekorativ die Augen nieder und murmelte etwas Unverständliches. Stephen drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, sie habe es absichtlich liegen lassen, um ihn wiedersehen zu können. Nur warum? Sie hätte doch einfach bloß zu fragen brauchen. Er befreite sie aus dieser peinlichen Situation und meinte: »Ach, ist total egal. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein Mensch je erklären könnte!«

Belinda hob den Blick und strahlte. »Genau das sage ich auch immer! Ich habe nämlich einen Hang zum Mystischen, musst du wissen! Die ganzen alten Geschichten, von Legenden über die Insel Avalon bis hin zu archaischen Ritualen – da stehe ich total drauf!«, verkündete sie stolz.

Stephen musterte Belinda von oben bis unten. Kein Zweifel, unter diesem Kittel trug sie ausnahmslos Schwarz. »Na, wer wäre denn auf so etwas von selbst gekommen?«, lachte er.

Die Chefin Belindas, eine stark geschminkte Mittdreißigerin, sah bereits missbilligend in ihre Richtung; Belinda schien es gar nicht zu registrieren, doch Stephen wollte nicht zum Grund für Ungemach werden. »Ich muss weiter, Belinda. Du besitzt jetzt schließlich wieder ein Handy, kannst dich gerne demnächst mal bei mir melden, wenn du magst.« Schon war er durch die Tür verschwunden und stieg draußen auf sein Motorrad.

»Darauf kannst du dich allerdings verlassen«, dachte Belinda vergnügt, als sie Frau Scheunenhauers Gesicht weiter bearbeitete und gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus beobachtete, wie Stephen mit seiner heißen Maschine aus ihrem Sichtfeld entschwand.

Die Inhaberin des Salons guckte noch immer reichlich argwöhnisch aus der Wäsche. Belinda bemerkte es und zuckte mit den Schultern. »WAS denn?«, fragte sie eine Spur zu trotzig. »Das eben war mein Bruder!«

* * *

Kirstie erwartete Stephen am späten Nachmittag bereits ungeduldig im Vorgarten. »Da bist du ja endlich! Warum konnte ich dich denn nicht auf deinem Handy erreichen?«

Stephen schüttelte den Kopf. »Während ich Motorrad fahre? Na ja, ich habe keine Lust, frontal gegen einen Möbel-Laster zu prallen. Oder gegen etwas anderes«, fügte er hinzu. Seine Mutter würde den makabren Joke mit Verweis auf die Vorkommnisse in seinem parallelen Leben schließlich nicht verstehen können; was ein Glück für ihn war, denn sonst hätte er das Motorrad vermutlich nie wieder berühren dürfen.

»Ach so, alles klar. Es ist ja nur … die haben es so dringend gemacht. Aber von vorne! Die LAMANTEC hat mich angerufen, man erwarte uns »gestern« in der Firma, wie diese Hugler meinte. Volker Mühlenstein sei auf 180, so wörtlich, weil er unbedingt Sachen aus dem Safe in Vaters Büro benötige. Die sind dort einvernehmlich der irrigen Ansicht, DU wärst im Besitz der ZahlenKombination, die sie brauchen, um das Ding aufzubekommen.« Stephen musste herzhaft lachen. Aha, er hatte Recht behalten. Der Hugler war inzwischen vermutlich das Lachen doch vergangen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Sie hatte offensichtlich bei Mühlenstein zu Kreuze kriechen müssen.

Kirstie nickte und lachte ebenfalls. »Ja, ich habe mich auch köstlich amüsiert! Als ob Vater so etwas Wichtiges ausgerechnet uns auf die Nase gebunden hätte. Aber weißt du was? Das ist DIE Gelegenheit für mich, endlich dieser Hugler eine kleine Abreibung zu verpassen. Wir können das Missverständnis ja dann später immer noch aufklären, findest du nicht? Auf diese Weise lassen sie uns wenigstens anstandslos hinein.«

So gefiel Stephen seine Mutter schon wieder viel besser. Mit ihrem verschmitzten, hintergründigen Lächeln und den hellwachen grünen Augen sah sie fast wieder aus wie die schöne Frau, die sie vor Vaters Tod gewesen war.

»Logisch! Von mir aus können wir gleich los. Was ist, hast du Lust?« Stephen tätschelte mit der flachen Hand die Rückbank der Harley und vollführte eine auffordernde Bewegung mit dem Kinn in Richtung seiner Mutter.

»Au ja, das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht! Warte, ich hole nur schnell Helm und Lederjacke!« Kirstie war augenblicklich Feuer und Flamme. Mit wehender Mähne verschwand sie im Haus.

Stephen empfand glühenden Besitzerstolz. Seine Mutter! Das Geburtsdatum auf ihrem Ausweis stimmte so gar nicht mit ihrem gefühlten Alter überein. Sie war trotz ihrer eher problematischen Ehe eine spontane, lebendige Persönlichkeit geblieben, auch wenn Vater das immer missfallen hatte. Seiner Ansicht nach hätte sie sich vermutlich wie diese dumme Zicke Hugler verhalten sollen, um an der Seite des erfolgreichen Geschäftsmannes lediglich die perfekte Verzierung zu spielen. Aber er hatte mit der Zeit lernen müssen, dass man mit solch einem Ansinnen speziell bei Kirstie auf Granit biss. Auf besonders harten Granit.

Kurze Zeit später trafen Mutter und Sohn auf dem Parkplatz der LAMANTEC AG ein; mit den Helmen unter die Arme geklemmt strebten sie zielstrebig auf das Bürogebäude zu, welches unter anderem das international tätige Software-Unternehmen beherbergte. »Auf in den Kampf!«, forderte Kirstie mit einem vielsagenden Seitenblick ihren Sohn auf, in den Fahrstuhl zu steigen. Während sich der Aufzug nahezu lautlos nach oben bewegte, sprachen Stephen und Kirstie kein Wort. Jeder überlegte für sich selbst, wie es mit der Firma nun wohl weitergehen würde. Stephen wusste aufgrund seiner Bankrecherchen, dass er anscheinend noch für die I-COMP GmbH tätig war; somit erübrigte sich derzeit eigentlich die Idee, für die LAMANTEC arbeiten zu wollen.

Kirstie hingegen musste erstens ihren aufgestauten Frust bei Annika Hugler loswerden und zweitens ihren Sohn daran hindern, dort drinnen unbedachte Äußerungen wegen einer Übertragung der Firmenleitung auf sich selbst bei den falschen Leuten von sich zu geben. Alles nicht so einfach.

Schließlich standen sie beide sinnierend vor dem großzügigen Eingangsportal zu den Firmenräumen; Thomas hatte die Notwendigkeit von dessen eindrucksvoller Größe damals vor dem Aufsichtsrat damit begründet, dass ja schließlich technische Anlagen durch diese Tür befördert werden müssten und somit die immensen Kosten gerechtfertigt seien. Er hatte eigentlich immer seine oft egoistischen Pläne durchsetzen können.

»Alles nur eine Frage der einleuchtenden Begründung und deren klarem Vortrag!«, hatte eines seiner Lieblings-Credos gelautet. Diese Fähigkeit kultivierte Thomas im Laufe seines Geschäftslebens wahrlich bis zur Perfektion; seiner Familie allerdings war er mit dieser unbeirrbaren Hartnäckigkeit nicht selten tierisch auf den Geist gegangen.

Er betonte in solchen Fällen gerne seine schottische Ahnenlinie, in welcher sich angeblich so mancher edle Clanführer befunden hatte. Es war unübersehbar, dass sich auch Thomas McLaman aus der Tradition heraus einen solchen Status zurechnete, wenn auch in leicht modernisierter Form. Thomas ersetzte einfach den traditionellen Schotten-Kilt mit einem Designeranzug von Armani. Kirstie allerdings hatte seine ehrgeizigen Führerambitionen oft reichlich respektlos »schottischer Dickschädel« genannt.

»Willst du oder soll ich?«, riss Kirstie ihren Sohn aus seinen Gedanken.

»ICH melde mich an«, erwiderte dieser selbstbewusst. »Schließlich wollen die von MIR den Code haben!« Er drückte den Klingeltaster und war echt erstaunt, wie schnell die Hugler ihm dieses Mal Einlass gewährte. Nicht nur das, sie kam sogar persönlich zur Tür, um ihn wie einen Ehrengast zuvorkommend hinein zu geleiten. Kirstie hingegen ignorierte sie einfach.

»Stephen, wie schön, Sie zu sehen! Bitte gehen Sie doch gleich hinein, Herr Mühlenstein hat mich angewiesen, Sie jederzeit sofort zu ihm vorzulassen. Er weiß schon Bescheid, dass Sie die richtige Zahlenkombination kennen! Bitte öffnen Sie uns dieses stählerne Ungeheuer, wir müssen dringend an die Unterlagen heran!«

Wenn Steve eines hasste, dann war es derartig freche Heuchelei. Diese blöde Kuh! Dachte sie denn allen Ernstes, er habe ihren dämlichen Auftritt von neulich schon vergessen? Na ja, die würde es jetzt erst einmal mit Mutter zu tun bekommen, dachte er mit Genugtuung, als er den Thronsaal ansteuerte.

Volker K. Mühlenstein verhielt sich ebenfalls völlig atypisch.

»Denen muss ja wirklich der Kittel lichterloh brennen«, freute sich Stephen in Gedanken, als Mühlenstein ihn übertrieben höflich bat, Platz zu nehmen. Sogar den Stuhl rückte er ihm höchstpersönlich zurecht. Stephen zementierte seinerseits achtlos seinen Motorradhelm mit einem dumpfen Geräusch auf die polierte Tischplatte.

»Sososo, Herr McLaman. Sie sind also Thomas‘ Sohn. Ich freue mich sehr, Sie endlich persönlich kennen zu lernen. Sie sind Programmierer, wie ich hörte?« Während er sprach, hielt dieser Schleimscheißer ununterbrochen die Mundwinkel krampfhaft nach oben verbogen, während seine Augen jedoch absolut unbeteiligt wirkten. Stephen hoffte insgeheim, dass er sich im letzten Leben, als er selbst der Geschäftsleitung angehörte, nicht ebenfalls derart bescheuert benommen hatte. Die Antwort auf Mühlensteins Frage ersparte er sich, denn bei derartig oberflächlichem Small-Talk wäre sie ohnehin nicht erwünscht gewesen.

Mühlenstein schleimte munter weiter, während er selbstgefällig seine Krawatte glatt strich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Wollen Sie die Kombination direkt eingeben, während ich Ihnen über die Schulter blicke, oder möchten Sie diese lieber gleich für uns aufschreiben?« Schon lag ein eleganter Schreibblock aus handgeschöpftem Papier vor Stephen, auf welchem ein luxuriöser Waterman-Füllfederhalter prangte. Bestimmt stammte dieser noch aus dem Fundus seines Vaters, der stets größten Wert auf Statussymbole aller Art gelegt hatte.

 

Stephen holte Luft. »Nun mal nicht so schnell! Aufschreiben werde ich überhaupt nichts, denn ich bin bei dieser Firma nicht beschäftigt; somit habe ich rechtlich auch keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber. Alles, was ich tun oder auch nicht tun werde, erfolgt aus freien Stücken. Soviel ich weiß, sind Sie derzeit sowieso nur kommissarisch eingesetzt, richtig?«

Mühlensteins Miene hatte sich deutlich verfinstert. Verschwunden war nun das krampfhafte Lächeln; das Gesicht, welches er jetzt zur Schau stellte, spiegelte jedoch wenigstens seine ehrlichen Empfindungen wider – seine Mimik ließ keinen Zweifel daran entstehen, dass er seinen jungen Gesprächspartner geradewegs zum Teufel wünschte. Dennoch behielt er seine Reaktionen weitgehend im Griff, zwang sich weiterhin zu einem relativ freundlichen Tonfall.

»Herr McLaman, lassen wir doch bitte diese albernen Spielchen! Wir sind hier schließlich nicht im Kindergarten und Sie sollten das Andenken Ihres Vaters ehren, meinen Sie nicht? Die Firma muss reibungslos weiterlaufen, gerade auch im finanziellen Interesse Ihrer Mutter, nicht wahr? Sie wissen ja sicherlich, wie viele Aktien Ihre Familie hält! Man wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach auf meinem Posten bestätigen, das ist im Grunde nur noch eine Formsache. Es wäre nicht sehr klug von Ihnen, mir mit voller Absicht Steine in den Weg zu legen!«

Volker K. Mühlenstein saß nun nicht mehr in betont lässiger Haltung hinter dem »Kommandostand«, wie Vaters riesiger Schreibtisch hinter vorgehaltener Hand von den Bediensteten allzu gerne genannt wurde. Vielmehr tigerte er angespannt hin und her, behielt Stephen dabei im Blick, als handele es sich um ein gefährliches Raubtier.

Stephen freute sich diebisch, dass es ihm augenscheinlich gelungen war, diesen Möchtegern-Chef ziemlich aus der Fassung zu bringen. »Nein, es liegt mir selbstverständlich fern, unserem einstigen Familienunternehmen Schaden zuzufügen. Genau deshalb würde ich das weitere Schicksal der Firma gerne weiterhin aus der Nähe beobachten und in guten Händen wissen. Wie Sie schon sagten – auch und nicht zuletzt im Interesse meiner Mutter.«

Mühlenstein rang sichtbar um Fassung, lockerte nervös seinen Krawattenknoten. »Was soll das, Stephen? Wollen Sie mich um einen Job ersuchen, mich erpressen, oder was sonst genau führen Sie im Schilde? Ich sage Ihnen gleich, dass …!«

Stephen fiel ihm ins Wort. »Moment mal! Erstens wollen aktuell SIE etwas von MIR, schon vergessen? Da werde ich doch wohl über eine kleine Gegenleistung nachdenken dürfen. Zweitens kommen Sie um mich sowieso nicht herum. Mein Vater hatte kurz vor seinem Tod die Absicht, mich einzustellen, und Sie als sein Stellvertreter dürften hierüber informiert sein. Nur für den Fall meiner Absage wäre Simon Jansen für die offene Stelle infrage gekommen.« Er lehnte sich zufrieden zurück und wartete auf den emotionalen Vulkanausbruch.

Draußen schien ein solcher soeben bereits stattgefunden zu haben; es war deutlich die hysterisch hohe Stimme Annika Huglers zu vernehmen. »Super«, dachte Steve anerkennend. »Gutes Timing, Mama.« Er wartete deshalb nicht ab, bis Mühlenstein zu einer Erwiderung fähig war und legte sofort nach:

»Bevor Sie etwas dazu äußern – das war noch nicht alles an Bedingungen, die ich an die heutige Öffnung des Safes knüpfe! Also: Sie stellen mich als Projektleiter für die Programmierabteilung ein, sobald mein Vertrag mit der I-COMP GmbH ausgelaufen sein wird. Die Papiere hierzu unterzeichnen wir noch heute. Was die persönlichen Besitztümer meines Vaters aus diesem Büro angeht

– die können Sie praktischerweise gleich in MEIN Büro schaffen lassen. Einschließlich dieses Fotos dort hinten.«

Stephen zeigte auf die gerahmte Fotografie, welche die Firmenbelegschaft der LAMANTEC zur Zeit des Börsengangs des Unternehmens abbildete; auf diesem Foto war auch Mirjam Krahler, Thomas‘ einstige Sekretärin, zu sehen, die gleichzeitig Lenas Mutter war. Jetzt, im Jahre 2004, galt sie noch für jedermann als verschollen, war nach ihrem plötzlichen Verschwinden schließlich mangels anderer Erkenntnisse für tot erklärt worden. Einzig Stephen wusste dank seiner parallelen Existenzen, dass sie putzmunter mit falschem Pass in der tschechischen Hauptstadt lebte.

Stephen nahm seinen Blick von der Fotografie, fixierte wieder Volker Mühlenstein und fuhr fort. »So ehren wir dann gleichzeitig das Andenken meines Vaters, woran Ihnen ja dankenswerterweise anscheinend viel zu liegen scheint. Simon Jansen wird trotzdem zusätzlich als Programmierer eingestellt, denn mit ihm kann ich mir eine sehr gute Zusammenarbeit vorstellen; er wird gleichzeitig mein Stellvertreter. Wir haben viel vor, daher kann ich von Anfang an eine Verstärkung meines Teams gut gebrauchen.«

Die Frauenstimme aus dem Vorzimmer referierte noch lauter und Volker Mühlenstein blickte bereits missbilligend in Richtung der Türe. Stephen bemerkte das mit unverhohlener Freude.

»Und außerdem werden Sie eine neue Chefsekretärin benötigen, diese Hugler können Sie vergessen. Die arbeitet sowieso nicht effektiv, außer beim Spinnen von Intrigen. Ihre Nachfolgerin habe ich heute gleich mitgebracht; es handelt sich um meine Mutter Kirstie McLaman, die vor Jahren diesen Posten schon einmal innehatte. Auch ihre Verträge werden gleich im Anschluss unterzeichnet, wobei sie selbst entscheiden kann, wann sie zu uns wechseln möchte.«

Steve schlug lässig die Beine übereinander und schickte ein verschwörerisches Augenzwinkern in Richtung des hypernervösen Volker K. Mühlenstein. »Nach alledem können wir meinetwegen diesen Safe öffnen und Ihre angeschlagenen Nerven beruhigen. Dann haben Sie als Gegenleistung wenigstens die reelle Chance auf den Posten als Vorstandsvorsitzender und General Manager.«

Mühlenstein explodierte nicht. Er fräste lediglich mit stahlhartem Blick ein imaginäres Loch in die dezent grau gestrichene Wand hinter dem »Kommandostand«. Anscheinend zeigten die vielen Seminare für Führungspersonen, die ihm die LAMANTEC AG hatte angedeihen lassen, eine sehr gute Wirkung. Vielleicht fehlte ihm auch nur das schottisch-irische Temperament, welches bei Mitgliedern der Familie McLaman hin und wieder zu ungewollt emotionalen Ausbrüchen führte, überlegte Stephen.

»Sie meinen also, dies sei eine Sache auf Gegenseitigkeit, ja?«

»Genau das meine ich. Eine Win-Win-Situation für Sie, meine Mutter und auch für mich. Vor allem aber für die LAMANTEC AG, deren Überleben mir mehr am Herzen liegt, als mein Vater jemals ahnte.« Stephen lächelte und fügte in Gedanken hinzu:

»Jedenfalls nicht in diesem Leben und nicht im Jahre 2004.« Volker K. Mühlenstein seufzte und strich eine seiner mit Gel behandelten Haarsträhnen zurück an ihren Platz. »Ich muss Ihr

… na, sagen wir: Angebot … kurz überdenken. Bitte warten Sie einen Moment draußen, Annika soll Ihnen und Ihrer Mutter einstweilen eine Tasse Kaffee machen.«

Als er den Raum nach einer genickten Zustimmung verließ, wusste Stephen McLaman bereits, dass er dieses Duell gewonnen hatte. Es war ihm gelungen, seine Erpressung so aussehen zu lassen, als handele es sich um einen notwendigen Deal. Natürlich war Mühlenstein nicht von gestern, er hatte diese Finte sehr wohl bemerkt. Dennoch blieb ihm unglücklicherweise keine andere Wahl, sofern er an seinem neuen Posten hing und auf der bevorstehenden Aufsichtsratssitzung nicht wie ein desinformierter Idiot dastehen wollte. Stephen hatte ihm diese unangenehme Tatsache auf eine äußerst intelligente Weise untergeschoben, welche ihm nun kaum eine alternative Möglichkeit des Handelns übrig ließ; der Vorschlag gab Mühlenstein allerdings fairerweise gleichzeitig die Chance, dem vorgeschlagenen Kuhhandel zuzustimmen, ohne dabei komplett sein Gesicht zu verlieren.

Die Lebenserfahrung aus zwei verschiedenen Vorleben schien sich eben doch manchmal auszuzahlen, musste Stephen vor sich selbst widerstrebend zugeben. »Schlimmer noch«, überlegte Stephen grimmig, »ein paar von Vaters berüchtigten Clanführergenen haben sich offensichtlich in seinem Sohn verewigt.«

* * *

Die junge Frau rutschte schwitzend auf ihrem Autositz hin und her. Hätte sie vorhin nur Hosen oder einen längeren Rock angezogen! Es gab wenig Unangenehmeres, als an einem heißen Tag im Minirock auf einem Ledersitz auszuharren und zu warten, während man auf einem schmierigen Feuchtigkeitsfilm saß. Wäre sie nicht derart sauer gewesen, sie wäre nach Hause gefahren und hätte sich unter die erfrischende Dusche gestellt.

Die Frau wollte ihre halblangen Haare zurückwerfen, um wenigstens ein wenig das Gefühl von Kühle in ihrem Nacken zu erzeugen, doch die Strähnen klebten ihr längst zäh auf dem nassen Hals fest. Wenn er jetzt nicht bald auftauchte, würde sie für heute aufgeben müssen. Verdammt!

* * *

»Stephen, was geht hier eigentlich vor?!« Kirstie verschränkte energisch die Arme vor der Brust und funkelte ihren Sohn mit schief gelegtem Kopf wütend an; ihre grünen Augen verschossen gefährliche Blitze. »Du bist mir gleich mehrere Erklärungen schuldig!«

Ihr Gegenüber stöhnte und zeigte auf die Harley. »Ich weiß! Komm, wir fahren erst einmal nach Hause. Dort bestellen wir uns eine schöne, große Pizza mit allem drauf, was du magst – ich zahle! Und dann erkläre ich dir alles, versprochen!«

Kirstie McLaman stand noch immer mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem Parkplatz. »Eine lausige Pizza? Das reicht nicht! Ein Tiramisu kannst du hinterher auch noch ausgeben, wenn du schon ungefragt über das Leben deiner Mutter bestimmst! Das ist das Mindeste!«

Jetzt musste Stephen lachen. Man hätte dem äußeren Anschein nach wieder einmal wirklich nicht entscheiden können, ob Kirstie tatsächlich sauer war, oder ob sie nur auf seine Kosten ein Abendessen herausschinden wollte.

»Schön, meine eigene Mutter will mich in den Ruin treiben. Also auch eine Tiramisu; sehr wohl, die Dame!« Stephen verdrehte theatralisch die Augen.

Kirstie rührte sich noch immer nicht vom Fleck, sah nachdenklich aus. »Was nun noch?«, fragte Steve. »Fehlt etwa die passende Vorspeise unseres opulenten Mahls?«

»Quatsch! Nein, im Ernst, Stephen – ich verstehe das alles nicht. Wieso konntest du dich vorhin nicht mehr daran erinnern, dass dein Projekt bei der I-COMP GmbH längst ausgelaufen ist? Du warst erst vor zwei Wochen dort auf der Abschiedsparty, bist wie ein Held gefeiert worden. Dank deines Erfolges hat diese Firma lauter positive Kommentare aus der Fachwelt für sich verbuchen können. Es KANN doch gar nicht sein, dass dir all das entfallen ist! Und woher rührt bitteschön dein plötzliches Interesse an der LAMANTEC? Vater hat mir erst neulich erzählt, du hättest üble Kraftausdrücke gebraucht, um die Firma und deren »geldgeile Schergen« zu beschreiben; ihn selbst eingeschlossen. Weshalb dieser extreme Sinneswandel? Seit wann verstehst du etwas von Verhandlungstaktik und, vor allen Dingen – wer hat dir den verdammten Code des Safes verraten? Vater doch bestimmt nicht!« Stephen konnte und wollte seiner Mutter diese Fragen nicht sofort beantworten. Schließlich durfte er zu seinem Leidwesen nicht vollkommen ehrlich sein, sonst hätte er ihr ungeschminkt die volle Wahrheit seiner drei Existenzen präsentieren müssen. Das erschien ihm aber nicht möglich, jedenfalls nicht ohne umgehend in den Verdacht einer schlimmen Geisteskrankheit zu geraten. Er musste sich unbedingt erst eine halbwegs plausible Geschichte bereitlegen, die zwar nicht vollständig gelogen sein durfte, jedoch auch nicht zur Gänze der furchtbar komplizierten Wahrheit entsprechen konnte. Vor allem jedoch musste sie Kirsties sprichwörtlicher Spürnase für Ungereimtheiten standhalten.

Als Mutter und Sohn eine Stunde später vor riesigen aufgeklappten Pizza-Schachteln saßen und Pizza »Quattro Stagioni« futterten, konnte Stephen langsam aufatmen. Kirstie hatte die Darstellung geschluckt, dass er in Mühlensteins Gegenwart nur geblufft hatte, als er sein angeblich noch bestehendes Arbeitsverhältnis bei der I-COMP GmbH erwähnte; es komme auf diese Weise einfach besser herüber, als im Status eines Arbeitslosen über einen lukrativen Vertrag zu verhandeln.

Den Code für den Safe wollte Vater ihm selbstverständlich nicht freiwillig verraten, erzählte Steve grinsend. Der selbsternannte Clanführer habe versehentlich nicht aufgepasst, als er diesen in Stephens Gegenwart vor einigen Wochen eingegeben habe; vermutlich sei er durch das gleichzeitig stattfindende Streitgespräch abgelenkt gewesen.

 

Im Übrigen stecke in ihm, Stephen, erheblich mehr, als Vater und sie, Kirstie, jemals wahrgenommen hätten, verkündete er stolz. Solche Dinge wie Verantwortungsbewusstsein und Verhandlungsgeschick eben – Vater habe einfach nur zu wenige Möglichkeiten seiner Entfaltung zugelassen, hauptsächlich um seine eigene allwissende Machtposition nicht zu gefährden. Schon gar nicht durch den eigenen Sohn.

Schließlich hatte Kirstie verständnisvoll genickt und sämtliche Erklärungen mehr oder weniger bereitwillig akzeptiert. »Na gut! Aber ein Hühnchen habe ich mit dir dennoch zu rupfen«, mahnte Kirstie und klappte mit Schwung ihre leere Pizzaschachtel zu.

»Du weißt, dass ich meinen derzeitigen Job sehr schätze, ich bin jetzt schon seit vielen Jahren bei dieser Firma beschäftigt. Wie kannst du einfach über meinen Kopf hinweg behaupten, ich wolle wieder bei der LAMANTEC anfangen?« In dieser Frage schwang ein deutlicher Vorwurf an Stephens Adresse mit.

»Ach Mama, es tut mir leid, wenn ich mir da etwas angemaßt haben sollte. Aber schau mal, du hast diese Firma doch von Grund auf mit aufgebaut. Gegangen bist du damals nur, weil Vater dich im Vorzimmer dauernd schikaniert hat, so wie er es mit allen Bediensteten tat. Und das war richtig so, er hat dadurch lernen müssen, dass er bei dir damit an Grenzen stößt. Auf diese Weise hast du dir wenigstens ein bisschen Respekt gesichert. Aber jetzt liegen die Dinge doch ganz anders. Vater ist nicht mehr da und wir müssen sehen, dass die Firma reibungslos weiter läuft. Du selbst hast mir vor einigen Tagen deine Ängste geschildert, wegen der unsicheren finanziellen Zukunft und unserer mangelhaften Möglichkeit der Einflussnahme auf das Unternehmen. Und jetzt? Wir sind beide drin, direkt am Puls des Geschehens. Man kann uns nicht mehr so leicht übergehen; außerdem haben wir für einen würdigen Abgang dieser Hugler gesorgt, findest du nicht?« Jetzt lächelte Kirstie, zwirbelte versonnen eine dicke Haarsträhne um ihren linken Zeigefinger. »Na ja, du hast natürlich Recht. Gleich morgen werde ich in den sauren Apfel beißen und meinem Chef die Kündigung schonend beibringen müssen. Ich hoffe, er wird meine Gründe verstehen können – Dieter hat ohnehin schon immer befürchtet, dass ich eines Tages reumütig in die LAMANTEC zurückkehren müsste. Tja – ich habe ihn jedes Mal, wenn die Sprache hierauf kam herzhaft ausgelacht und gemeint, eher gefriere wohl die Hölle zu … wie es jetzt aussieht, erlebt der Teufel demnächst also tatsächlich einen unvorhergesehenen Kälteeinbruch«, witzelte Kirstie süß-sauer.

Stephen riss voller Vorfreude die Plastikverpackung seiner Tiramisu-Portion auf und genoss sichtlich den leicht alkoholischen Duft, der ihm sogleich aus dem Behältnis entgegenschlug.

»Hmmm … ich denke, das mit dieser Nachspeise war eine Spitzenidee von dir«, murmelte er anerkennend in Richtung seiner Mutter, schon um endlich das Thema wechseln zu können.

Doch Kirsties steile Falte zwischen den schön geschwungenen Augenbrauen, welche stets unangenehme Denkprozesse signalisierte, war noch immer nicht vollständig verschwunden. »Stephen? Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Baum, dessen Zeichnung auf deinem Schreibtisch liegt?«

Herrjeh … Stephens Appetit auf Tiramisu sank augenblicklich gen Nullpunkt.

* * *

Eine Kundin noch! Nur eine, versuchte Belinda McLaman sich selbst zu beruhigen. Sie verachtete ihre Chefin dafür, dass sie ihr regelmäßig noch in letzter Minute Kosmetikbehandlungen am späten Nachmittag hineindrückte und selbst indessen gut gelaunt schon mal nach Hause ging. Dabei hätte sie die Anruferin auch locker auf den nächsten Tag vertrösten können, fand Belinda. Denn diese war noch nicht einmal in der Kundenkartei zu finden, somit konnte es sich lediglich um Laufkundschaft handeln. Einzig damit diese Eintagsfliege von Kundin mit frisch gefärbten Wimpern herumlaufen konnte, durfte Belinda nachher wieder im gefühlten Tiefflug zum Kindergarten fahren und sich auch noch für ihr verspätetes Auftauchen entschuldigen, während Dennis sie vorwurfsvoll mit seinen großen, braunen Kinderaugen mustern würde. Vermutlich heftete auch längst ein schöner, teurer Strafzettel an der Windschutzscheibe ihres Peugeot, denn der Parkschein war schon vor einer Stunde abgelaufen. Wenn sie nur eine Alternative zu diesem Ausbeuter-Job gesehen hätte …

Gerade als Belinda sich trotzig einen Verzweiflungskaffee mit der verbotenen weil teuren Kaffeemischung der Chefin aufbrühen wollte, welchen diese ab und zu von ihren dekadenten ItalienWochenenden mitbrachte, kündigte die Türklingel des Ladens auch schon die Ankunft der eingeschobenen Kundin an. Auch noch zu früh! Ein schneller Blick aus der Küche verriet der genervten Kosmetikerin, dass es sich wenigstens um eine relativ junge Kundin handelte. Die redeten normalerweise nicht so viel, machten keine zusätzlichen Umstände.

»Hallo, guten Abend! Bitte nehmen Sie schon einmal dort drüben Platz, ich bin gleich bei Ihnen!« Auch wenn Belinda demotiviert war, hinderte ihre Professionalität sie stets daran, sich ihren Gemütszustand in irgendeiner Form anmerken zu lassen.

An Tagen wie diesen fiel das gar nicht leicht. »Sagen Sie mal, weshalb wollen Sie denn färben lassen? Das wurde doch offenbar erst gemacht?« Belindas fachkundige Musterung hatte ergeben, dass die letzte derartige Behandlung allerhöchstens zwei Wochen zurückliegen konnte; die Wimpern der Kundin bildeten samtig glänzend tiefschwarze Bögen über ihren graublauen Augen. Was also sollte das Ganze?

»Ach, wenn Sie meinen, dann können wir gerne auch etwas anderes machen«, verkündete die junge Kundin leichthin. »Die Augenbrauen zupfen vielleicht, oder eine Gesichtsmassage?« Die Kundin zuckte mit den Schultern und taxierte Belinda interessiert, lächelte dabei verbindlich. Was wollte die? War sie vielleicht lesbisch und wollte auf diese Weise mit ihr in Kontakt kommen? Jedenfalls ärgerte sich Belinda zunehmend über die unentschlossene Nervensäge, welche ihr diesen späten Zusatztermin ohne jeden ersichtlichen Grund aufgebrummt hatte.

»Wenn es Ihnen wirklich egal ist, welche Form der Behandlung ich Ihnen angedeihen lasse … wie wäre es dann mit einem Make-Up in den neuen Farben?« Belinda wählte mit Bedacht etwas aus, das recht schnell gehen würde und die Kundin war es seltsamerweise ohne Diskussion zufrieden, fragte nicht einmal nach dem Preis. Kaum auf der Liege platziert, ging es los; Belinda bekam echte Schwierigkeiten, diese Frau zu schminken, denn sie hielt nicht für einen Moment ihren Mund, blieb nur selten still liegen. Die Kosmetikerin war durchaus einiges an Smalltalk und persönlichen Peinlichkeiten gewohnt, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt.

Die Konversation glich einer einseitigen Befragung, fast schon einem Verhör. Belinda grübelte angestrengt. Weshalb, verflixt nochmal, wollte diese fremde Kundin alles über ihr reichlich verkorkstes Leben wissen? Ganz besonders brennend schien sie die Frage zu interessieren, ob Belinda einen Freund hatte, oder vielleicht nette männliche Bekannte; wie, mit wem und wo sie ihre Abende verbrachte. Ob ihr dichtes Blondhaar echt oder gefärbt sei. In welchem Stadtteil sie denn wohne?

Nach einer gefühlten Ewigkeit zog die mysteriöse Kundin mit einem triumphierenden Lächeln ab, gab sogar ein großzügiges Trinkgeld. Belinda blieb keine Zeit, allzu lange über die merkwürdige Situation nachzudenken; sie hatte schließlich ein dringendes Date mit einem sehr jungen Mann, der gerne aus dem Kindergarten befreit werden wollte.