Himmel (jetzt reicht's aber)

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Die Angestellte trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und wäre vor Verlegenheit am liebsten im Teppichboden versunken.

»Frau Hugler ist … unpässlich und kann jetzt gerade nicht, Entschuldigung«, quetschte sie leise hervor. »Es tut mir leid, sie

…« Weiter kam sie nicht, denn Mühlenstein fiel ihr unwirsch ins Wort. »Das ist mir so was von egal! Die soll machen, dass sie hier wieder auftaucht, sonst ist ihre eigene Kündigung das Erste, was sie morgen früh auf ihrem Schreibtisch vorfindet! Sagen Sie ihr das!« Damit war die Audienz beendet und Mühlenstein würdigte die unglückliche Frau hinter dem Türspalt keines Blickes mehr.

»Es muss an diesem großkotzigen Thronsaal liegen«, überlegte diese, als sie die Türe leise und behutsam wieder zuzog. »Da drin werden sie scheinbar alle in Windeseile größenwahnsinnig.« Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg zur Damentoilette, um sich wider Willen ein gerüttelt Maß an Zicken-Terror bei Annika abzuholen.

* * *

Kirstie McLaman hätte am liebsten einfach kommentarlos aufgelegt. Seit einer halben Stunde nervte diese Kati Kierstein am Telefon, was das Zeug hielt; dabei musste sie sich noch um so einiges kümmern, was sonst immer Thomas erledigt hatte. Rechnungen bezahlen, Steuerunterlagen zusammensuchen, Pool-Service bestellen und ähnlich unangenehmes Zeug. Schon morgen musste sie nach ihrer Auszeit, die sie wegen des unerwarteten Todes ihres Ehemannes genommen hatte, wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihr lief bereits ziemlich die Zeit davon.

»Mensch Kati, ich weiß es doch wirklich nicht! Er ist heute Morgen aus dem Haus gegangen, hat mir aber nicht verraten, wohin! Meine Güte, Stephen ist längst erwachsen. Da informiert er seine Mutter nicht mehr über jeden Schritt, den er tut. Er könnte überall sein: in der Firma, auf Jobsuche, Kaffee trinken, einkaufen

… ich habe nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung! Aber auch das sagte ich schon!«

Kati überlegte. »Wieso in der Firma? Ich dachte, sein Projekt bei der I-COMP GmbH sei vor ungefähr drei Wochen ausgelaufen? Ich habe in diversen Fachzeitschriften darüber gelesen, dass Stevie recht erfolgreich war. Und sorry, ich kann mir echt nicht vorstellen, dass er sich in der Firma seines Vaters aufhalten könnte. Wenn Sie wüssten, wie er da so manchen mir gegenüber tituliert hat!«, erklärte Kati besserwisserisch.

Kirstie verlor nun endgültig die Geduld. »Kati, ich lege jetzt auf! Es ist weder meine Schuld noch mein Problem, wenn eure Beziehung nicht funktioniert hat. Manchmal muss man eben einen Schluss-Strich akzeptieren, nicht wahr? Ruf mich bitte nicht mehr an. Entweder, du erreichst Stephen doch noch auf seinem Handy, oder er drückt deine Anrufe absichtlich weg. In diesem Fall hätte es ohnehin keinen Zweck, ihm weiter nachzulaufen, meinst du nicht auch?«

Kirstie hatte Kati nie gemocht und machte keinen Hehl dar aus. Sie hielt das Mädchen für ein Erfolgs-Groupie, das sich an ihren Sohn nur herangemacht hatte, weil er gut verdiente und großzügig alles bezahlte, sobald sie zusammen waren. Wobei sie ziemliche Ansprüche stellte, ihr dünkte kaum etwas gut genug. Neulich hatte sie glatt versucht, Stephen zur Buchung eines kostspieligen Urlaubs auf den Malediven zu bewegen; auf seine Kosten, versteht sich. Dabei waren die beiden nicht länger als vier Monate zusammen gewesen, wovon mindestens zwei nicht ganz harmonisch, eher wie eine stetige Achterbahnfahrt der Gefühle verlaufen waren.

Kirstie hatte Kati gleich beim ersten kurzen Aufeinandertreffen in die Augen gesehen und seither eine gehörige Antipathie entwickelt. Es hatte kalte, hinterlistige Augen, dieses Mädchen. Und so eine hatte bei Mama Kirstie von vorneherein verspielt.

Seufzend machte sich Kirstie daran, mühselig ihre begonnenen Arbeiten fortzusetzen. Aber wo befand sich eigentlich der Ordner mit den Gehaltsnachweisen ihres Mannes? Hatte sich den vielleicht Stephen mit aufs Zimmer genommen, etwa wegen seines plötzlich erwachten Interesses für die LAMANTEC, welche er neuerdings sogar zu leiten trachtete? Was dachte er sich nur dabei, ihr Sohn neigte doch sonst nicht dermaßen zur Selbstüberschätzung?

Natürlich, er hatte in seinen jungen Jahren bereits beachtliche Erfolge als Programmierer gefeiert, das war schon richtig. Aber es war eben etwas gänzlich anderes, den Dompteur in einer Aktiengesellschaft zu spielen, zwei Paar Stiefel waren das! Ihr verstorbener Thomas hatte nie richtig programmieren gelernt, dafür beschäftigte er seine Leute. Stattdessen verstand er viel vom Geschäft und den für Erfolg notwendigen Winkelzügen.

Vor der Tür zu Stephens Zimmer stutzte Kirstie. Sollte sie einfach hineingehen oder wäre dies ein Einbruch in die Privatsphäre ihres Sohnes? »Ach Quatsch!«, schalt sich die attraktive Rothaarige. »Bei dieser Gelegenheit kann ich das Bermuda-Dreieck auch gleich ein bisschen von dreckiger Wäsche und Müll befreien! Muss ja ab und zu sein, bevor einiges einen Pelz bekommt oder wieder zu leben anfängt«, schmunzelte sie.

Nanu? Kirstie traute ihren Augen kaum. Stephen hatte offensichtlich sein Zimmer picobello aufgeräumt; absolut nichts lag auf Boden oder Bett herum, wobei letzteres sogar ordentlich gemacht worden war. Seit dem Tod seines Vaters kam er ihr insgesamt verändert vor, irgendwie gereifter. So als müsse er nun endgültig seine Jugend und seinen Leichtsinn ablegen, und unmittelbar danach in Vaters Fußstapfen treten.

Vielleicht täuschte sie sich und man konnte ihm doch vertrauensvoll eine Chance in der Firma geben? Sie würde darüber nachdenken, ob sie ihre Bedenken beiseiteschieben und Stephen lieber in seinem Bestreben unterstützen sollte. Ihr widerstrebte der Gedanke, dass ansonsten jemand Fremdes künftig die totale Kontrolle über Thomas‘ Lebenswerk an sich reißen könnte. Wer konnte schon abschätzen, was in diesem Fall aus dem Unternehmen werden würde? Ein schwieriges Erbe, mit dem sie Thomas hier alleine gelassen hatte! Fast war sie ein wenig böse auf ihn.

Noch immer mochte Kirstie nicht bis in die letzte Gewissheit realisieren, dass ihr Ehemann tot war. Bei jedem Geräusch im Haus schreckte sie auf, als müsse er gleich mit seinem dynamischen Schritt um die Ecke biegen. Zu unwahrscheinlich schien es, dass sich ein Thomas McLaman einer höheren Macht hatte beugen müssen, denn dies war ihm zu Lebzeiten niemals geschehen. Und doch hatte ausgerechnet der Sensenmann diesen Kampf binnen weniger Minuten gewonnen.

Kirstie stand gedankenverloren mitten in Stephens Zimmer, bis sie sich selbst zur Ordnung rief und endlich zurück in die heutige Realität fand.

Richtig, hier stand ja der gesuchte Akten-Ordner! Als Kirstie McLaman diesen an sich nehmen und das Zimmer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf eine hübsche, recht kompliziert aufgebaute Zeichnung. Sie lag gleich neben dem Ordner offen zugänglich auf Stephens Schreibtisch.

Was war DAS denn?! Ein Baum … Kirstie konnte nicht anders, sie musste dieses seltsam verästelte Gewächs mit den vielen Symbolen und Textstellen darauf näher betrachten. Sie verließ das Zimmer erst 20 Minuten später und war nun fest davon überzeugt, dass mit Stephen etwas nicht stimmen konnte. Ganz und gar nicht.

* * *

Die ersten paar Meter waren so richtig peinlich gewesen. Stephen musste sich eingestehen, dass er das Motorradfahren einfach nicht mehr gewohnt war; wie bei einem blutigen Fahranfänger machte die Maschine erst einmal ein paar kleine Bocksprünge, bevor sie sich ungelenk in den Straßenverkehr einreihen konnte. Es fiel Stephen nach all den Jahren der Motorrad-Abstinenz unerwartet schwer, seine geliebte Harley zu beherrschen und sie sicher durch die Cuxhavener Innenstadt zu steuern.

Diesen Donnerstag wollte er intensiv nutzen, um zu recherchieren. Wenn man sich vor kurzem noch im Jahr 2029 befunden hatte, dann per Erschießung in den Himmel »aufgefahren« war und nach einer göttlichen Standpauke wieder im Jahr 2004 auf der Erde abgesetzt wurde, konnte man schon leicht die Orientierung verlieren. Es galt, immens wichtige Fragen abzuklären, wie zum Beispiel:

Hatte ich im Juni 2004 einen Job, bei dem ich mich sehen lassen müsste?

Bin ich jetzt noch mit Kati zusammen oder nicht? Sonstige Freunde oder Feinde?

Wie sieht mein Bankkonto aus und wie ist die Geheimzahl meiner EC-Karte? Im Jahr 2004 funktionieren Abhebungen noch nicht mit einem Retina-Scan!

Wo ist Lena und besteht auch dieses Mal Selbstmordgefahr? Lebt ihre Mutter in Prag?

Fragen über Fragen, die sich Stephen fein säuberlich auf einem Notizblock notiert hatte, bevor er losgefahren war. Er konnte überhaupt nicht sicher sein, dass alle Facetten seiner neuen Existenz denselben Stand von 2004 aus dem anderen Leben aufwiesen – schließlich hatte er gleich zu Anfang feststellen müssen, dass sein Vater bereits gestorben war; das war neu und traurig zugleich. Doch dies waren nur die elementarsten Dinge, die es abzuklären galt. Im Hinblick auf die Zukunft hatte er außerdem noch zu entscheiden, auf welchen Ästen Yggdrasils er durch dieses letzte Stück Leben surfen sollte, das man ihm gewährte.

Stephen parkte die Harley vor einem kleinen Bistro am Rande der Fußgängerzone Cuxhavens, in welchem er im ersten parallelen Leben manchmal mit Lena gesessen war und bestellte sich einen Latte Macchiato mit Amaretto-Sirup. Der schmeckte hier so lecker wie nirgendwo sonst, Steve erinnerte sich wehmütig; das war damals auch Lenas Ansicht gewesen.

Nachdem die Bedienung das hohe Glas mit der Kaffeespezialität vor ihm abgesetzt hatte, las er sich seine Liste noch einmal durch. Genau, diese schwierigen Fragen mussten zuallererst abgeklärt werden! Stephen hätte etwas darum gegeben, einfach seiner Mutter ein Loch in den Bauch fragen zu können; doch was würde sie dann denken? Im harmlosesten Fall würde sie ihn besorgt zum Arzt jagen, wegen des dringenden Verdachts auf Gedächtnisschwund oder Alzheimer. Stephen blätterte das bereits beschriebene Blatt seines Blocks nach hinten, fuhr sich nervös durch das Haar und kaute nachdenklich auf dem oberen Ende seines Kugelschreibers herum.

 

»Mal sehen. Jetzt wird es spannend. Fest steht nur, dass ich dieses Mal alles anders machen muss, ansonsten geht es wohl per Expresslieferung ab in den Hades«, dachte sich Stephen sarkastisch.

Nach und nach fielen ihm zu seinem eigenen Entsetzen tatsächlich so einige Entscheidungen ein, die er in allernächster Zukunft zu treffen hatte, damit sich bloß um Himmels Willen nichts in die falsche Richtung entwickelte. Er notierte:

Kann ich es wagen, wieder mit Lena und später auch mit Jessi in Kontakt zu treten, ohne irreparablen Schaden anzurichten? Soll ich in Vaters Firma arbeiten? Gelingt es mir überhaupt, ohne dass ich mit ihm zusammenarbeiten kann/muss?

Wie ignoriere ich den Weltuntergang, ohne etwas zu unternehmen? Darf ich jemanden vor den drohenden Naturkatastrophen in den Jahren davor warnen?

Sollte ich nach Prag fahren, um wenigstens herauszufinden, ob ich dieses Mal bei den 144.000 Auserwählten dabei bin?

Kann ich meine abartige Geschichte der drei Leben jemandem anvertrauen oder lande ich dann schnurstracks in der Psychiatrie? Was wollen die da oben denn genau von mir, was ich noch NICHT getan und ausprobiert hätte?

Beim Lesen seiner eigenen Liste beschlich Stephen das ungute Gefühl, dass er die Sache mit seinem Seelenheil ja im Grunde nur versieben konnte. Wenn er so gar nicht wusste, worum es den himmlischen Herrschaften überhaupt ging? Die Mutlosigkeit befiel ihn angesichts dieser Perspektive wie ein lähmender Kokon. Stephen winkte die Bedienung zu sich, um seine Zeche zu bezahlen. Er hatte beschlossen, die einfachste Frage zuerst abzuklären: diejenige nach seinem Kontostand. Die zu seiner Karte gehörende Geheimzahl hatte er zum Glück in verschlüsselter Form hinter dem Registereintrag »Kohle« auf seinem Handy gefunden, wenigstens ein Problem weniger! Da würde er gleichzeitig feststellen können, ob aktuell Gehaltszahlungen von irgendeinem Arbeitgeber auf seinem Konto eingingen oder nicht.

Als er nach Erhalt der Rechnung seine Brieftasche aus der anderen Jackentasche herausfischen wollte, ertastete er darin zu seiner Überraschung einen weiteren Gegenstand. Ja klar, Belindas Handy! Daran hatte er gar nicht mehr gedacht … Damit stand jetzt fest, wohin er gleich nach seinem Besuch auf der Bank fahren würde; Belinda hatte ihm neulich im Café ziemlich frustriert anvertraut, in welchem Salon sie arbeitete, was sich nun als Vorteil herausstellte.

* * *

»Zum Teufel noch mal, dann rufen Sie eben die Firma an, die diesen Safe hier installiert hat! Die sollen ihn aufschweißen, mit einem Dietrich bearbeiten, oder was sonst denen einfällt!« Volker K. Mühlenstein kochte vor Wut. Seit Tagen versuchte er, diese unfähige Vorzimmerschnepfe dazu zu bewegen, endlich seine Aufstellungen zu schreiben, welche er langsam ultradringend für die Vorstandssitzung benötigte. Und sie wollte sich gebetsmühlenartig damit herausreden, sie brauche dafür mehrere Unterlagen, die im Safe des Thronsaals lagerten. So langsam riss Mühlenstein auch der allerletzte Geduldsfaden.

»Herr Mühlenstein, das geht eben nicht! Diese Firma weigert sich, auch nur einen Finger krumm zu machen!« Annika Hugler hatte mittlerweile alles eingebüßt, was ihre oberflächliche Persönlichkeit normalerweise ausmachte. Ihre Bewegungen waren fahrig und nervös, einer der sonst perfekten Fingernägel abgekaut, und auf ihrem Gesicht bildeten sich vor Aufregung oder Hektik rote Flecken. Keine Spur mehr von der üblichen Professionalität, die sie zumindest vorzugaukeln verstand, auch nicht von der überheblichen Arroganz. Die Sekretärin war schlichtweg verzweifelt und holte tief Luft.

»Ich habe es schon versucht, doch da wurde offensichtlich ein Passwort vereinbart, ohne welches man sich dort nicht autorisieren kann. Keiner in der Firma weiß etwas darüber, ich habe alle befragt. Sogar in Spanien bei diesem Victor Gómez habe ich angerufen. Sie wissen schon, der Hotelbesitzer, mit dem Thomas McLaman eng befreundet war! Aber dem hat er Code oder Passwort auch nicht verraten – behauptet er wenigstens!«

Mutlos sank Annika Hugler in ihren ergonomisch geformten Sessel und wartete auf die Standpauke ihres Lebens. Oder auf die Kündigung, welche ihr seit Tagen bei jeder Gelegenheit angedroht wurde. Aber Volker K. Mühlenstein wirkte plötzlich, als habe ihm jemand oder etwas wieder Leben eingehaucht.

»Sie haben ALLE gefragt, sagen Sie? Auch Thomas‘ Ehefrau und seinen Sohn?« Lauernd betrachtete er ihr Mienenspiel, das ihm augenblicklich verriet, dass sie eben dieses nicht getan hatte oder sogar mit Absicht verweigerte, aus welchen Gründen auch immer. Was für eine Enttäuschung, diese Hugler!

»Nein, die nicht!«, kam es kleinlaut aus dem Sessel. »Aber ich glaube nicht, dass ausgerechnet diese beiden …«

Mühlensteins Miene gefror, wurde zu einer eisigen Maske aus purer Verachtung. »Bemühen Sie sich nicht länger, Frau Hugler! Gehen Sie mir nur aus den Augen und zwar ein bisschen plötzlich. Ich kläre das selbst und erwarte, dass Sie Ihren Schreibtisch in spätestens einer Stunde geräumt haben. Hoffentlich bekommen Sie wenigstens DAS auf die Reihe! Die fristlose Kündigung wird dann per Post zugestellt, schon morgen deaktiviere ich Ihren Zugangscode zu diesen Räumen!«

Annika konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Was hatte sie in seinen Augen denn bloß verbrochen? Konnte Mühlenstein wissen, dass Stephen McLaman tatsächlich behauptete, im Besitz der Nummernfolge zu sein? Eigentlich nicht, woher auch? Ihr Stolz hatte es nämlich nicht zugelassen, dass sie bei Stephen zu Kreuze kroch und ihn um die Kombination anflehte; sie hatte hoch gepokert, indem sie diese Information gegenüber Mühlenstein absichtlich unterschlug. Und jetzt verlor sie deswegen, so wie es aussah, ihren Job.

Während ihr neuer Chef die Tür zum Thronsaal hinter sich zuknallte, suchte sie erst einmal die Toilette auf. Sie musste bei ihrem Abgang wenigstens Haltung bewahren, schon weil die anderen Weiber ganz schön feixen würden, wenn ihre »Prinzessin« die Fliege machen musste. Denen käme das gerade Recht, die ganze Zeit über war dieses nichtssagende Pack auf sie, Annika, neidisch gewesen.

Es sei denn … Annika kam eine bitterböse Idee. Sie war noch nicht geschlagen, noch nicht! Sie schminkte sich sorgfältig, beseitigte geschickt sämtliche Spuren ihres vor einigen Minuten noch desolaten seelischen Zustandes.

»Außerdem – wie will er eigentlich meine Berechtigung für die Geschäftsräume sperren, wenn er nicht einmal an die erforderlichen Zugangscodes für die Türsicherung gelangt? Die sind nämlich auch im Safe!«, murmelte Annika selbstzufrieden, als sie mit hoch erhobenem Kopf den Toilettentrakt verließ.

Die Kollegin, welche im Vorübergehen Annikas überstürzte Flucht Richtung Damen-Klo mitbekommen hatte, bekam ehrliches Mitleid. Es war dieselbe, welche vor einigen Tagen selbst in Ärger mit Mühlenstein geraten war. Klar, Annika war eine eingebildete Pute, doch eine solche Behandlung hatte selbst sie nicht verdient. Die kleine Angestellte Maier bekam ein bisschen Mitleid.

»Annika, ist alles in Ordnung, kann ich Dir irgendwie helfen?«, fragte sie mitfühlend.

Die kam gerade recht. Diese kleine, graue Maus, die sich neulich beim Mühlenstein einschleimen wollte. Ihm auch noch bereitwillig verriet, dass sie auf dem Klo Schwäche gezeigt hatte. Perfekt!

* * *

Vor dem breiten schmiedeeisernen Tor zur Einfahrt des McLamanAnwesens standen unschlüssig zwei Frauen auf dem Gehsteig; sie debattierten angeregt, ob sie hier klingeln sollten oder besser nicht. Die ältere von beiden trug ihre biederen Kleidungsstücke mindestens eine Nummer zu groß, sie hingen formlos an ihrem dürren Körper herab. Ihr bereits graues Haar trug sie zu einem Knoten gesteckt.

Die andere, fast noch ein Mädchen, sah ansprechend aus. Ihre großen, braunen Augen strahlten aus einem frischen, munteren Gesicht und sie sprühte sichtlich vor Tatendrang.

»Maria, bitte lass es uns doch wenigstens versuchen! Schau, ich bin dir heute extra zugeteilt worden, weil du viel Erfahrung hast und mich anleiten kannst. Ich möchte zu gerne ausprobieren, ob ich etwas erreichen kann«, bettelte die junge Frau.

Die Angesprochene sah skeptisch drein und rezitierte eine Bibelstelle. »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt!« Sie seufzte. »Du kannst es mir glauben, liebe Silvia – mit dieser Wahrheit wurde ich in all den Jahren oft genug konfrontiert.«

Silvia gab nicht auf. »Aber niemand hat gesagt, dass wir diese Leute bei unseren Bemühungen auslassen sollen, soviel ich weiß. Hat nicht jeder Mensch die gleiche Chance verdient?«

Maria gab sich geschlagen. »Na schön! Aber es wird hart, das ist dir doch hoffentlich bewusst? Falls sie uns überhaupt die Tür öffnen würden … « Sie drückte halbherzig auf die große Klingel-Taste unter der Überwachungskamera.

Kirstie McLaman trocknete gerade ihr frisch gewaschenes Haar mit einem Handtuch ab. Warum klingelte es eigentlich grundsätzlich dann an der Haustür, wenn man gerade nicht aufmachen konnte oder wollte?

»Stevie! Ich kann gerade nicht, würdest du bitte mal an die Tür gehen?«

»Klar!« Stephen schlenderte durch die Eingangshalle Richtung Tür, ohne zuerst den obligatorischen Blick auf das Display der Videoüberwachung zu werfen. Wozu auch? Er hatte sowieso keine Ahnung, wen seine Eltern im Jahr 2004 kannten und wen nicht. Eigentlich konnte er sich nicht einmal an jeden einzelnen erinnern, den ER in diesem Lebensabschnitt zu seinen Bekannten zählen sollte. Der Summ-Ton zeigte an, dass sich das Eingangstor elektrisch öffnete.

Nein, diese beiden Frauen, welche hier mit einem betonten Lächeln auf das Haus zukamen, kannte er definitiv nicht. Der Älteren klemmte irgendetwas unter dem linken Arm; vielleicht wollten sie für caritative Zwecke sammeln oder Abonnements für Zeitschriften werben?

»Ja, bitte?« Stephen sah von einer zur anderen.

Die Ältere straffte ihren Rücken, sah ihm direkt in die Augen. Mit sanfter Stimme stellte sie fest: »Wir sind gekommen, um dir Rettung anzubieten. Wir bringen dir die frohe Botschaft, dass Jesus dich heimholen wird – wenn du es nur zulässt!« Mit diesen Worten zog sie ein Buch unter ihrem Arm hervor. Es handelte sich um eine abgegriffene Ausgabe der Bibel.

Stephen musste lächeln. Ah, alles klar: die beiden kamen von einer gewissen Religionsgemeinschaft, welche sich auf diese Weise neue Schäfchen suchte. In seinem letzten Leben waren diese und ähnliche Gemeinschaften in der Endzeit erklärte Gegner seines Videospiels gewesen, welches sich auf Datensammlungen im Internet stützte. Immer mit dem Hinweis auf den Supercomputer

»TIER«, der das Ende der Welt einleiten werde, so wie es in der Bibel beschrieben sei.

Die jüngere Frau wertete sein Lächeln als Zustimmung, als Bereitschaft, sich aufklären und retten zu lassen. »Weißt du, alles, was für dein Seelenheil getan werden muss, steht hier drin.« Silvia zeigte auf die Bibel, ihre Wangen waren vor Begeisterung gerötet. »Du musst nur verstehen und glauben, uns allen bleibt nämlich nicht mehr viel Zeit, denn das Ende ist nah. Wir wollen dir dabei helfen.«

Stephen lächelte noch eine Spur breiter. Meine Güte, was wussten diese beiden schon? Er konnte ein Lied davon singen, wie es im Himmel zuging! Der Messias würde in wenigen Monaten als seine Tochter Jessi geboren werden und hatte während seinen beiden parallelen Existenzen bislang keinerlei Interesse gezeigt, ihn zu retten. Und er hätte den Damen auch verraten können, wann genau es mit der Erde zu Ende gehen würde. Jedenfalls mit dem Leben, wie man es heute kannte.

Die beiden Frauen traten näher an die Tür heran. »Dürfen wir kurz hereinkommen? Wir würden dir das gerne ausführlich erklären!«

Stephens Miene wurde wieder ernst. »Nein danke, kein Bedarf! Erstens weiß ich schon Bescheid – viel genauer, als Sie denken – und zweitens arbeite ich bereits selbst mit Hochdruck an meiner Rettung. Womit ich jetzt auch gerne gleich weitermachen würde. Also, tschüs dann – vielleicht sehen wir uns eines Tages in Prag!« Nach diesem Satz schloss Stephen die Tür direkt vor Silvias und Marias Nasen und ging kopfschüttelnd zurück ins Haus. Was wussten die schon!

 

Draußen vor dem Tor hielten die beiden Frauen die nächste Lagebesprechung. »Siehst du?« Maria lächelte milde, strich Silvia über das Haar. »Ich habe es dir ja gesagt. An reiche Leute kommt man so gut wie gar nicht heran. Die wollen einfach so weiterleben, als könnten sie sich mit ihrem ganzen irdischen Reichtum selbst vom jüngsten Gericht freikaufen.«

Doch Silvia war gar nicht enttäuscht. »Nein, Maria, das glaube ich nicht! Hast du nicht in seine Augen gesehen? Dieser Junge weiß etwas, glaubt an etwas. Was meinte er eigentlich mit »wir sehen uns vielleicht in Prag«?«

Die Ältere wurde ungeduldig. Manchmal gingen ihr die Unbekümmertheit und der traumtänzerische Leichtsinn der jüngeren Mitglieder ziemlich auf die Nerven. Vielleicht beneidete sie diese aber auch nur um ihren noch ungetrübten Enthusiasmus.

»Silvia, du brauchst nichts hineininterpretieren, um deine Enttäuschung zu verbergen. Wir können hier nichts ausrichten, das musst du akzeptieren lernen! Man soll eben keine Perlen vor die Säue werfen«, schalte sie. »Komm, wir gehen weiter, andere sind hoffentlich empfänglicher für unsere Botschaft.«

Silvia warf über ihre Schulter einen letzten verstohlenen Blick zurück auf die Villa. Und sie hatte DOCH richtig gesehen, da war sie sich ganz sicher! Der Junge wusste etwas … und überdies gefiel er ihr ausnehmend gut.

* * *

»Ach, Annika – klar helfe ich dir! Du kannst dich auf mich verlassen, ich gehe jetzt gleich hinein zu ihm. Man kann ja wirklich einmal etwas vergessen, ist doch kein Beinbruch! Unser neuer Chef ist halt nervös und reagiert ein bisschen über zurzeit! Nimm dir das bitte nicht so zu Herzen. Wir sind doch ein Team, oder?« Annika schluckte die nun überflüssig gewordenen KrokodilsTränen hinunter. »Ja, danke, aber du darfst Mühlenstein unter keinen Umständen verraten, dass du die Info von MIR hast, versprochen? Das ist ganz wichtig, schwöre es mir!«

Elisabeth Maier kam der Aufforderung aufgeregt nach; dass ausgerechnet SIE die Vertraute der Chefsekretärin werden sollte, das war schon was! Bisher hatte Annika Hugler sie nicht einmal wahrgenommen, nicht einmal dann, wenn sie deren Arbeit erledigte. Ohne vom Computerbildschirm aufzusehen, murmelte sie in solchen Fällen ein unwirsches »danke«, wenn sie ihr die fertigen Schriftstücke sorgsam auf den Tisch legte. Vermutlich gab sie die Arbeit danach regelmäßig als ihre eigene aus und schmückte sich mit fremden Federn.

Und nun das – vielleicht hatte sie Annika die ganze Zeit Unrecht getan, am Ende war sie doch nicht ganz so übel, wie Elisabeth geglaubt hatte.

Während die Maier zielstrebig zu Mühlensteins Thronsaal eilte, um ihr Versprechen auf der Stelle einzulösen, trat Annika Hugler ans Fenster neben ihrem Schreibtisch, sah hinunter auf die Straße. Ha, nun würde es nicht mehr lange dauern, und sie wäre rehabilitiert. Der Zweck heiligte die Mittel, und Bauernopfer waren durchaus üblich auf dieser Welt; ein legales Mittel, um seine Ziele zu erreichen.

Annika verzog ihren schönen Mund zu einem hämischen Grinsen, während sich ihre Augen zu geradezu dämonischen Schlitzen verengten. Hurra – es ging los! Mühlenstein wurde dort drin bereits laut.

Wenige Augenblicke später flog die Tür zum Chefbüro auf und Volker K. Mühlenstein stürmte heraus, gefolgt von einer todunglücklichen, kreidebleichen Elisabeth Maier, welche Annika hilfesuchend mit einem eindringlichen Blick fixierte, weil sie immer noch der törichten Hoffnung unterlag, dass diese das Missverständnis doch nun aufklären müsse, um Elisabeth nicht ans Messer zu liefern. Aber zu Ihrem blanken Entsetzen las sie in deren Miene nur abgrundtiefe Verachtung; sie hatte ihr kältestes Lächeln aufgesetzt, als sie Mühlensteins Entschuldigung huldvoll entgegennahm.

»Aber ja, Herr Mühlenstein, selbstverständlich!«, flötete die Hugler. »Ich hatte diese Maier schon länger im Verdacht, dass sie der Firma schaden will. Wenn Sie wüssten, wie oft ich in der Vergangenheit ihre Fehler ausmerzen musste! Letzten Freitag habe ich sie noch ausdrücklich gefragt, nach dem Code oder ob sie eventuell jemanden wüsste, der ihn kennt. Voll ins Gesicht gelogen hat die mir! Sie wollte sich bei Ihnen heute nur lieb Kind machen, aber das kennt man ja. Das wäre nicht die Erste, die auf meinen Posten scharf ist. Womöglich spioniert sie sogar für die Konkurrenz? Spaziert heute einfach ohne vorherige Anmeldung bei mir hinein zu Ihnen und erzählt, dass Stephen McLaman den Code kennt. Eine Frechheit ist das! Nein, die müssen wir schnellstens loswerden, meinen Sie nicht auch?«

Sie zog mit gespielter Entrüstung die Augenbrauen in ihre höchstmögliche Position und setzte noch einen drauf. »Wer weiß, warum sie das mit dem Code überhaupt mitbekommen hat – am Ende lief gar ein Verhältnis zwischen ihr und Thomas?«, schien sie mit angeekeltem Seitenblick auf Elisabeth laut nachzudenken.

Im Anschluss an dieses Gespräch, sofort nachdem Elisabeth Maier nach ein paar vergeblich gestammelten Erklärungsversuchen wie ein geprügelter Hund aus dem Zimmer getrottet war, um weisungsgemäß schleunigst ihren Schreibtisch auszuräumen, wurde Annika Hugler ungewohnt fleißig. Sie tippte mit Hochdruck fröhlich deren Kündigung.

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Stephen McLaman nicht geblufft hatte; und, noch wichtiger: er durfte Mühlenstein keinesfalls stecken, dass er in Wirklichkeit IHR verraten hatte, im Besitz der Kombination zu sein. Sonst würde es doch noch eng für sie werden.

* * *

Stephen hatte es geschafft, hinter die ersten Fragen seiner Liste einen Haken zu setzen. Beruhigt stellte er auf der Bank fest, dass sein Konto dank des Programmierjobs bei der I-COMP GmbH momentan recht gut bestückt war; die jüngste Gehaltszahlung wurde erst vor zwei Wochen verbucht, daher musste er logischerweise wohl noch dort beschäftigt sein. Es wäre wirklich etwas zu viel verlangt gewesen, wenn er sich noch an den genauen Tag des Projektendes hätte erinnern sollen.

»Wenigstens keine Geldsorgen, das ist prima! Ein Guthaben von 11.659,17 Euro sollte eine Zeit lang ausreichen.« Feierlich setzte er jeweils ein Häkchen hinter die Frage nach dem Kontostand und der Frage nach seinem Arbeitsverhältnis.

Stephen schwang behände sein rechtes Bein über die Sitzbank der Harley. Wie leicht diese Bewegung mit 24 Jahren doch wieder fiel! Im Jahr 2029 war sein Körper wohl schon etwas eingerostet gewesen, das war ihm jedoch gar nicht bewusst aufgefallen. Nun ja, er hatte kurz vor seinem Tod einen Mercedes Benz besessen. Ein Motorrad konnte er sich aus Prestigegründen damals nicht mehr erlauben, seit er zusammen mit seinem Vater die LAMANTEC AG geleitet hatte.

Er als Big Boss im Designeranzug! Stephen verachtete sich mittlerweile selbst für diese Entgleisung bei der Kleiderwahl, da er die Angelegenheit nun aus dem jugendlichen Blickwinkel von 2004 betrachtete.

»Jetzt erst mal zu Schwesterchen Belinda, das Handy abgeben. Dieser Salon voller ätzender Weiber muss gleich hier um die Ecke sein!« Grinsend wiederholte Stephen in Gedanken die Formulierungen Belindas, welche diese zur wenig schmeichelhaften Beschreibung ihres Arbeitsplatzes verwendet hatte.

Kurz darauf sprangen ihm ihre Gründe dafür förmlich ins Auge. Zumindest einer davon. In aufdringlichem Neon-Pink prangte ein schrecklich geschmackloses Schild über der Eingangstüre, welches verriet, dass hier der Salon »Beauty Queen« residierte. Übersehen konnte man den Laden auf gar keinen Fall, so viel war sicher. Herrje, arme Belinda … sie musste ja schon jeden Morgen beim Arbeitsantritt Augenkrebs bekommen!