Auf den zweiten Blick (E-Book)

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Emotionale Anerkennung: Arbeitsbündnis auf Vertrauensbasis

Diese erste Form der Anerkennung, die emotionale Anerkennung und «Liebe» (Honneth, 2014 [1994]), S. 153 f.), wird idealerweise vor allem in den familiären Primärbeziehungen, also in einer Form von Eltern-Kind-Beziehung verwirklicht, hat aber auch im pädagogischen Handeln grosse Bedeutung: Ein funktionierendes Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schülerin oder Schüler kann sich am besten entwickeln, wenn es auf der Basis gegenseitigen Vertrauens steht. Diese Basis bildet gewissermassen den Boden für schulisches Lernen. Lehrpersonen können massgeblich zu einem solchen Vertrauensverhältnis beitragen, indem sie den Schülerinnen und Schülern mit einer «positiven, freundlichen und offenen Haltung» (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133) begegnen.

Entsprechend wird auch im Lehrplan 21 die Bedeutung der Lehrperson und ihrer Beziehung zum Kind betont:

Auch in einem Unterricht, der sich am Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen orientiert, sind die Lehrpersonen absolut zentral. Sie gestalten zum einen fachlich gehaltvolle und methodisch vielfältige Lernumgebungen und Unterrichtseinheiten; zum anderen führen sie die Klasse und unterstützen die Schülerinnen und Schüler pädagogisch und fachdidaktisch in ihrem Lernen. Lehrerinnen und Lehrer stellen durch sensible Führung und möglichst individuell gerichtete Lernunterstützung sicher, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten entsprechend Kompetenzen aufbauen können. Dabei ist eine Beziehung zwischen Lehrperson und Kind, die auf persönlicher Zuwendung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen basiert, grundlegend (D-EDK, 2016, S. 29; Kursive d. d. Verf.).

Anerkennung in der Gleichheit: Alle haben gleiche Rechte

Bei der zweiten Form der Anerkennung – der «moralischen Anerkennung» – geht es um Anerkennung in der Gleichheit. Alle Schülerinnen und Schüler sind gleich im Sinn gleichberechtigter Ansprüche auf Bildungschancen, unabhängig von Faktoren wie sozialer, ethnischer, nationaler Herkunft, Glaubensüberzeugung oder Geschlecht (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133 f.; Helsper et al., 2001, S. 32 f.).

Der Lehrplan 21 bezieht sich bei dieser Frage auf die Grundrechte, wie sie in der Bundesverfassung und in den kantonalen Volksschulgesetzen formuliert sind, und erklärt unter anderem folgende Aspekte zu Orientierungswerten der Schule: «Sie fördert die Chancengleichheit» und «Sie wendet sich gegen alle Formen der Diskriminierung» (D-EDK, 2016, S. 20).

Bislang konnte diese angestrebte Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung in den Schweizer Schulsystemen nicht vollständig verwirklicht werden. Immer wieder zeigen Forschungen, dass einzelne soziale Gruppen in ihren Bildungschancen benachteiligt werden. In den letzten Jahren waren dies vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte und tiefem sozioökonomischem Status (vgl. SKBF, 2014; 2018).

Diese ungleiche Verteilung von Bildungschancen hat viele Ursachen. Eine davon ist die Gestaltung der schweizerischen Bildungssysteme. Diese Systeme enthalten mit ihren Gruppeneinteilungen und Selektionskriterien versteckte Normalitätsvorstellungen, sodass diejenigen, die diesen Vorstellungen nahekommen, bevorzugt werden, während diejenigen, die sich davon weiter weg befinden, Benachteiligungen erfahren. Zum Beispiel besteht vielerorts die Erwartung, Eltern könnten ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen, was gewöhnlich Ober- und Mittelschichtsangehörige mit nur einem arbeitenden Elternteil und deutscher Familiensprache tendenziell bevorzugt (Dirim & Mecheril, 2010, S. 127 f.; Gomolla, 2011, S. 188). Aber auch das System der Jahrgangsklassen, die relativ späte Einschulung und die frühe und häufige Selektion in unterschiedlich anspruchsvolle weiterführende Schultypen sowie das Nichtbeachten von Mehrsprachigkeit sind Faktoren, an denen Normalitätsvorstellungen und Normalisierungstendenzen deutlich werden (Leiprecht & Lutz, 2015; Schader, 2012, S. 21; siehe auch Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).

Würden angesichts dieser Systemlogik alle genau gleich behandelt, würden diejenigen begünstigt, die diesen inhärenten Normalitätsvorstellungen am meisten entsprechen. Gleiche Behandlung führt daher nicht zu gleichen Chancen, vielmehr ist ungleiche Behandlung erforderlich, um die unterschiedlichen Voraussetzungen und die unterschiedlichen Passungen mit den schulischen Normalitätserwartungen berücksichtigen zu können (Dirim & Mecheril, 2010, S. 128 f.; Helsper & Lingkost, 2002, S. 134). Für Lehrpersonen gehören diese Überlegungen zum Alltag. Immer wieder wird ausgelotet, wie sie den unterschiedlichen Voraussetzungen einzelner Schülerinnen und Schüler begegnen und dabei auch Benachteiligungen ausgleichen können, um alle bestmöglich in ihrem Lernen zu fördern.

Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass in diesen Bemühungen immer wieder nach einem bestimmten Muster gehandelt und entschieden wird: In der Tendenz werden Kinder mit Migrationsgeschichte eher als defizitär gesehen und in ihrer Leistungsfähigkeit unterschätzt. Wenn Kinder erleben, dass ihnen wenig zugetraut wird, ist die Wahrscheinlichkeit zudem gross, dass sie diese Fremdeinschätzung verinnerlichen und sich im Lauf ihrer Schulzeit auch selbst weniger zutrauen, was schliesslich zu tatsächlich tieferen Leistungen führen kann (siehe Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).

In der Folge werden Kinder mit dem sogenannten Migrationshintergrund eher tieferen Schulstufen zugeteilt. Manchmal werden dafür Begründungen eingebracht, in denen sich die genannten Normalitätserwartungen spiegeln, etwa dass Eltern mit Migrationsgeschichte nicht über den erforderlichen Bildungshintergrund verfügen würden, um ihre Kinder in genügendem Mass unterstützen zu können, und dass es deshalb kaum Sinn habe, das Kind einer höheren Schulstufe zuzuteilen (Gomolla, 2011). Wenn sich solche Entscheidungen in einer Bildungslaufbahn wiederholen, entsteht eine Verkettung von Benachteiligungen, die im Grunde dadurch verursacht werden, dass Bildungsfachleute den «Migrationshintergrund» pauschal mit Defiziten und mit Abweichungen von einer unhinterfragten «Normalität» in Verbindung bringen.

Entsprechend besteht also die pädagogische Herausforderung darin, unterschiedliche – und vom Schulsystem wenig honorierte – Voraussetzungen zu berücksichtigen und Benachteiligungen nötigenfalls auszugleichen. Dabei ist allerdings entscheidend, dass diese Benachteiligungen nicht auf der Basis vermeintlich nationaler, ethnischer oder kultureller Gruppenzugehörigkeiten und entsprechenden Stereotypisierungen eingeschätzt werden, sondern dass dabei das einzelne Kind mit seinem Facettenreichtum im Blick bleibt. Letztlich geht es um das Ziel, dieser zweiten Form der Anerkennung zu entsprechen und allen das gleiche Recht auf Bildung zu gewähren.

Anerkennung in der Verschiedenheit: Jeder und jede ist einzigartig

Diese dritte Form der Anerkennung steht in einem Kontrast zur zweiten Form. Nicht die Gleichheit und Gleichberechtigung wird betont, sondern – gerade im Gegenteil – die Verschiedenheit: Jeder und jede soll Anerkennung bekommen für seine und ihre Einzigartigkeit und Individualität. Im Fokus stehen also die Besonderheiten, etwa bezüglich Charaktereigenschaften, Talenten, Leistungen und Interessen, aber auch bezüglich Lebensstilen (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136), Herkunftsbezügen und Identifikationen, etwa mit Sprache, Kultur oder Religion. Resonanz auf diese eigene Individualität und Identität zu erfahren, bildet eine Grundvoraussetzung für das Erleben von Wertschätzung und für das Herausbilden von Selbstwert im Rahmen schulischer Bildung (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136). Damit ist durchaus nicht gemeint, dass alle Eigenheiten unkritisch gutgeheissen werden sollen, vielmehr geht es darum, dass sie angemessen «gesehen» und einbezogen werden und also auch nicht versteckt oder verleugnet werden müssen.

Im Lehrplan 21 ist dieser Aspekt aufgenommen, indem auch hier auf die Grundrechte aus der Bundesverfassung und aus den kantonalen Volksschulgesetzen Bezug genommen und betont wird, die folgenden Werte gehörten zu den grundlegenden Aufgaben der Schule: «Sie fördert den gegenseitigen Respekt im Zusammenleben mit anderen Menschen, insbesondere bezüglich Kulturen, Religionen und Lebensformen» und «Sie trägt in einer pluralistischen Gesellschaft zum sozialen Zusammenhalt bei» (D-EDK, 2016, S. 20 f.). Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler «beim Aufbau von persönlichen Interessen, dem Vertiefen von individuellen Begabungen und in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit ermutigt, begleitet und unterstützt werden» (D-EDK, 2016, S. 21).

Auch dieser Anspruch gehört wohl für die allermeisten Lehrpersonen zum selbstverständlichen alltäglichen Handeln. Allerdings zeigt sich auch hier eine spezifische Herausforderung im Migrationskontext: Besonderheiten, die mit Migration in Zusammenhang stehen, sind gewöhnlich gesellschaftlich konnotiert und entsprechend emotional aufgeladen, sodass das Betonen solcher Besonderheiten auch dazu führen kann, dass sich die angesprochenen Schülerinnen und Schüler nicht darin anerkannt, sondern vielmehr subtil abgewertet und ausgegrenzt fühlen. Statt Anerkennung resultiert daraus dann eher Beschämung oder Stigmatisierung (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136). «Wie macht ihr das bei euch in Russland?», «Schau, deine Hände sind ganz schwarz, anders als unsere», «Wart ihr gestern wieder in eurer Moschee?» oder «Ihr esst sicher Reis zum Frühstück, ihr seid ja Chinesen» enthält schnell einen Beigeschmack von Anderssein, Abwertung und Nichtzugehörigkeit. Dazu kommt, dass sich die Angesprochenen mitunter gar nicht in diesen Kategorisierungen wiederfinden können oder wollen. Es wird ihnen damit eine Identität unterstellt – vielleicht sogar mit der guten Absicht der Anerkennung – die sie vielleicht gar nicht, nur zum Teil oder in ganz anderer Weise haben oder die sie gar nicht haben wollen. Stattdessen finden sie sich in einem Ausschlussszenario wieder, in dem zwischen «wir» und «die Anderen» unterschieden wird und in dem sie erleben, dass sie den «Anderen» zugeteilt werden und dass ihnen eine fraglose Zugehörigkeit zum «Wir» subtil abgesprochen wird. Die inhärente Botschaft lautet eher «Du bist irgendwie anders», «irgendwie fremd», «nicht normal und so wie wir» oder «Du gehörst nicht ganz dazu» (Balzer, 2007; Mecheril, 2010, S. 187).

 

Wie kann nun der Anspruch auf Anerkennung in der Verschieden- und Einzigartigkeit eingelöst werden, ohne diese ungewollte Wirkung zu erzielen? Manche Lehrpersonen lassen sich davon so sehr entmutigen, dass sie sich ausschliesslich auf Gemeinsamkeiten konzentrieren und herkunftsbezogene Besonderheiten konsequent ausblenden. Wir möchten hingegen dazu ermutigen, eine Haltung «bedächtiger Anerkennung» (Mecheril, 2005, S. 325 f.) einzunehmen, eine nämlich, die sich dieser potenziell negativen Wirkungen bewusst ist und dennoch wagt, herkunftsbezogenen Besonderheiten Beachtung zu schenken. Als Leitsatz kann dabei gelten: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich so darstellen und zeigen können, wie sie «zu sein meinen» (vgl. Mecheril, 2010, S. 184) und sich dabei sicher und zugehörig fühlen. Bei einer solchen pädagogischen Orientierung sind Lehrpersonen sensibel dafür, dass Identitäten und Herkunftsbezüge oft vielschichtiger und komplexer sind als angenommen. Sie lassen Raum, damit sich Kinder mit dem zeigen können, was ihnen wichtig ist, und nicht reagieren müssen auf das, was ihnen zugeschrieben wird. Und sie beachten, dass Zugehörigkeitsgefühle im Migrationskontext ganz besonders verletzlich sein können und immer wieder der besonderen Beachtung bedürfen.


AnerkennungsformenEmotionale AnerkennungMoralische AnerkennungAnerkennung der Person
Bedeutung im BildungskontextVertrauensbasis im Arbeitsbündniszwischen Lehrenden und LernendenAnerkennung in der GleichheitAnerkennung im Sinn von Gleichberechtigung, insbesondere in Bezug auf BildungschancenAnerkennung in der VerschiedenheitAnerkennung von Individualität und Einzigartigkeit

1.2 Pädagogische Haltungen

Im pädagogischen Handeln ist also beides gefragt: Einerseits sollen alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Gleichheit im Sinn ihrer Gleichberechtigung anerkannt werden und andererseits auch in ihrer Verschiedenheit im Sinn ihrer Einzigartigkeit und Individualität. Lanfranchi (2008) spricht in diesem Zusammenhang von einem «Drahtseilakt»: Immer wieder muss balanciert und abgewogen werden, je nach Situation und Angemessenheit. Häufig ist deshalb die Rede von einem Anspruch auf «situationsangemessenes Handeln».

Aber woran können wir uns orientieren, wenn es darum geht, in der jeweiligen Situation das angemessene Handeln zu finden? Forschungen haben gezeigt, dass es einen grossen Unterschied macht, mit welcher Grundhaltung Lehrpersonen an diese Fragen herangehen (Leutwyler & Mantel, 2015). Es lohnt sich daher, auf die eigenen Einstellungen und Weltbilder zu achten, denn sie bilden den Ausgangspunkt für unsere Blickwinkel und Handlungsideen. Wir möchten dazu einladen, dabei insbesondere auf das zu achten, was erst auf den zweiten Blick ins Blickfeld gerät. Häufig merken wir erst bei genauerem Hinsehen, was es auch noch zu beachten gilt oder wo Handlungsmöglichkeiten liegen, die wir auf den ersten Blick übersehen haben. Im Pflegen dieses «zweiten Blicks» liegen die Chancen für das Entwickeln und bewusste Einnehmen einer Haltung, die das situationsangemessene Handeln im Migrationskontext massgeblich begünstigt und auch erleichtert.

Auf den ersten Blick reagieren wir häufig intuitiv, auch emotional und auf der Basis unserer Gewohnheiten. Und weil diese Gewohnheiten so stark von gesellschaftlichen Diskursen und gängigen Vorurteilen geprägt sind, enthalten diese ersten Reaktionen oftmals Stereotypisierungen. Dabei neigen wir dazu, Vorurteile zu rechtfertigen, um Unsicherheiten aus dem Weg gehen zu können.

Das Weltbild, das sich darin zeigt, ist oftmals eines, in dem Normalitätsvorstellungen auf eine «Wir-Gruppe» bezogen werden: «Wir» bilden gemeinsam die «Normalität», und die «Anderen» sind diejenigen, die von dieser «Normalität» abweichen, und meistens – so der häufige erste Gedanke – eher zum schlechteren. Dieses Schema von «wir» und «die Anderen» ist für diejenigen, die darin als «Andere» gelten, sehr gut spürbar. Allzu leicht entsteht daraus das Gefühl von Nichtzugehörigkeit und von subtiler Ausgrenzung und Abwertung.

Der zweite Blick bietet die Chance, dieses Weltbild zu überdenken, noch einmal genauer hinzusehen und zu neuen, auch kreativen und mitunter überraschend einfachen und entspannten Handlungsoptionen zu gelangen. Das Weltbild, das sich hier als überaus hilfreich erweist, ist eines, das von der Vielfalt als Normalität ausgeht: Wir sind vielfältig und das ist normal. Es hat mehr Platz für Vielfalt als wir oft denken.

Das heisst keineswegs, dass wir alles gutheissen müssen. Auch aus diesem Weltbild heraus gilt es, Normen und Regeln auszuhandeln (siehe Hintergrundinformationen, «Klassen- und Schulkultur der Anerkennung»). Allerdings bietet diese Sichtweise die weit bessere Ausgangslage, um dabei Zugehörigkeiten nicht infrage zu stellen und um in den Unterschiedlichkeiten auch die Gemeinsamkeiten wahrnehmen zu können. Über Unvertrautes kann gestaunt werden, ohne das Vertraute dabei abwerten zu müssen. Diese Grundhaltung, in der Verschiedenes in einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit nebeneinander Platz hat, kann eine Klassen- und Schulkultur in einer Weise prägen, dass darin echte Anerkennung erfahren wird.


Auf den ersten BlickAuf den zweiten Blick
Grundhaltung / Weltbild
–Unterscheidung zwischen einem «Wir» und den «Anderen»–Tendenz zur Ausgrenzung und Abwertung der «Anderen»–Alle gehören dazu
Normalitätsvorstellungen
–Die «Wir»-Gruppe repräsentiert die «Normalität»–Die «Anderen» weichen von dieser «Normalität» ab–Vielfalt ist die Normalität–Gemeinschaft braucht Regeln
Tendenz zum Handeln nach …
–Gewohnheiten–gesellschaftlich gängigen Stereotypen–vermeintlichem Wissen–kreativen Ansätzen–Sensibilität für Zugehörigkeitsfragen–Wissen um die Begrenztheit des Wissens

Auch Brügelmann (2001, zitiert in Friedli Deuter, 2014, S. 10) unterscheidet zwischen diesen beiden Weltbildern und bildet dabei eine interessante Gegenüberstellung: Wenn wir von einer Norm ausgehen, von einem normativen Denken und Empfinden,

–bedeutet Heterogenität «Abweichung» von einer Norm,

–bedeutet Integration Einbeziehung des «Andersartigen»,

–bedeutet Differenzierung «Spezialbehandlung» gegenüber der Normgruppe.

Verstehen wir unter «Normalität» aber, dass jeder Mensch einzigartig ist, dass die Vielfalt die Norm ist,

–bedeutet Heterogenität schlicht «Unterschiedlichkeit»,

–bedeutet Integration «Gemeinsamkeit»,

–bedeutet Differenzierung Raum für die «Individualität».

Wenn wir dieser Perspektive, die von der Vielfalt als Norm ausgeht, vermehrte Beachtung schenken, kann sie zum Ausgangspunkt werden für das Abwägen von Handlungsoptionen.

Allerdings ist der Schulalltag oft hektisch, Entscheidungen müssen mitunter schnell gefällt werden, und oftmals besteht ein Handlungsdruck, bei dem wenig Zeit bleibt für besonnenes Betrachten und wohlüberlegtes Handeln. Stattdessen hat man häufig schon gehandelt, bevor man eine Chance hatte, die ganze Situation zu überblicken. Es ist einfach nicht immer möglich, auf Anhieb die angemessenste Handlungsoption zu finden. Auch im Nachhinein lohnt es sich aber, noch einmal über eine solche Situation nachzudenken, sich auch im Kollegium darüber auszutauschen und die weitere Planung an diesen Reflexionen auszurichten.

1.3 Entwicklungswege zur Professionalisierung

Welche Wege führen nun aber von einer Wahrnehmung «auf den ersten» zu einer Wahrnehmung «auf den zweiten Blick»? – Es gibt eine Reihe bewährter Strategien, die für pädagogisches Handeln im Allgemeinen erforderlich und für einen professionellen Umgang mit Vielfalt von ganz besonders grosser Bedeutung sind: Ungewissheit aushalten und zulassen zu können, andere Perspektiven zu erwägen, ein differenziertes Bild zu entwickeln, sich auch selbst zu erkennen sowie Belastungen ernst zu nehmen und als Team gemeinsam unterwegs zu sein.

Ungewissheit zulassen

Wir bringen diesen Aspekt gleich an erster Stelle ein, da er häufig unterschätzt wird: Wenn wir Situationen begegnen, die uns unvertraut erscheinen, dann reagieren wir gewöhnlich damit, dass wir das Wissen, das wir haben, anwenden und so die Lücke des Unvertrauten mit diesem Wissen zu füllen versuchen. Bei diesem Wissen handelt es sich um Bilder und Vorstellungen, die wir uns im Verlauf unserer Geschichte aufgebaut haben und die uns ein Stück Orientierung geben, wenn wir einer neuen Situation begegnen und uns unsicher fühlen. Manchmal sind diese Bilder allerdings gar nicht so hilfreich, denn manchmal meinen wir so viel über andere zu wissen, dass für unser Gegenüber kaum Raum bleibt, sich selbst zu artikulieren und auf diese Weise wirklich kennengelernt und verstanden zu werden.

Michael Ende (1960) hat dieses Phänomen mit seiner Figur des «Riesen Tur Tur» feinfühlig illustriert: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer reisen durch eine Wüste, und auf einmal taucht am Horizont eine riesenhafte Gestalt auf. Jim Knopf geht davon aus, dass etwas so Riesenhaftes fremd und bedrohlich sein müsse und möchte sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Aber dann halten sie doch noch einen Moment inne, lauschen und wagen einige Schritte in Richtung des Riesen, worauf auch der Riese beginnt, sich in ihre Richtung zu bewegen. Sie gehen sich Schritt um Schritt entgegen, und nun geschieht das Erstaunliche, denn mit jedem Schritt wird der Riese kleiner und kleiner und verliert damit auch seine vermeintliche Bedrohlichkeit, bis sie sich schliesslich in gleicher Grösse gegenüberstehen und sich in ganz anderer Weise begegnen und kennenlernen können. Das «Fremde» und «Ferne» erscheint uns oft grösser und bedrohlicher, als es in Wirklichkeit ist.

Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen man allerlei über andere denkt und vermutet, was sich dann als Fehlinterpretation herausstellt. Vermeintliches Wissen und vorschnelle Bewertungen können uns den Blick versperren und das eigentliche Sehen, Zuhören und Kennenlernen verhindern (vgl. auch die witzige Episode im Kurzfilm «The Cookie Thief» auf der DVD «Respekt statt Rassismus», Hinweis dazu in Kapitel 3.2 unter «Filme»).

«Wenn die Studierenden in der Vorlesung ihren Kaffee ausgeleert haben, dann haben sie mich immer nach einem Putzlappen gefragt. Aber eigentlich war ich als Doktorand an der Uni.» (Patrick Ngowi, aufgewachsen in Tansania. Und ja: Er hat eine dunkle Hautfarbe)

«Mein Mann wird häufig gefragt, warum er mich so schlecht behandle. Nur weil ich ein Kopftuch trage, denken alle, ich werde von meinem Mann unterdrückt. Und manche reden ganz laut und langsam und auf Hochdeutsch mit mir, obwohl sie ja hören, dass ich ganz normal Schweizerdeutsch rede und auch nicht schwerhörig bin. Ich weiss nicht, was sie sich denken.» (Salima Hamoudi)

«Die Leute haben immer gemeint, ich könne kaum lesen und schreiben, weil ich aus Kroatien komme. Dabei haben wir in der Schule Kant, Pestalozzi und Schiller gelesen. Aber das konnte sich hier niemand vorstellen. Die Leute meinen, wenn du vom Balkan kommst, dann bist du ungebildet.» (Ivana Marić Kovačević, als Jugendliche aus Kroatien in die Schweiz geflüchtet)

 

«Nur weil ich einen griechischen Namen habe, werde ich dauernd gefragt, warum ich so gut Deutsch könne. Das ist schon seltsam, denn ich bin ja in der Schweiz aufgewachsen.» (Alexis Fotakis)

Es lässt sich nicht ganz vermeiden, dass wir immer wieder falsch liegen mit unseren Ideen und Urteilen über andere. Allerdings ist mit dem Erkennen dieser Tendenz bereits sehr viel gewonnen. Dann wissen wir um unser Nichtwissen und lassen dem Gegenüber Raum, sodass er oder sie gehört und kennengelernt werden kann. Die eigenen Konzepte lassen sich nicht einfach ausschalten, aber sie lassen sich relativieren und hinterfragen. «Es könnte auch anders sein» ist ein Leitspruch dafür. Diese Haltung verzichtet auf schnelle Bewertungen und lässt die Tür offen für das Unerwartete.

Für viele mag das auch eine Entlastung sein, denn es bedeutet im Umkehrschluss, dass es auch nicht nötig ist, alles zu wissen. Wir müssen nicht alle kulturellen Ausprägungen im Detail kennen und über die diversen Lebensweisen genauestens informiert sein. Solches Wissen ist zwar spannend, aber es ist erst dann wirklich hilfreich, wenn es mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen ergänzt wird. Auf diese Weise kann die Gefahr gemindert werden, das Gegenüber mit vermeintlichem Wissen zu vereinnahmen, und es kann ermöglicht werden, trotz aller Konzepte und Vorstellungen wirklich zuzuhören, wahrzunehmen und allenfalls nachzufragen (vgl. auch Mecheril, 2008; Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 97).

«Zuhören ist sehr viel schwieriger, als gemeinhin angenommen wird; wirkliches Zuhören bedeutet, uns selbst völlig loszulassen, alle Informationen, Konzepte, Vorstellungen und Vorurteile fallenzulassen, mit denen unsere Köpfe so vollgestopft sind.» (Sogyal Rinpoche)

«Eines meiner Kindergartenkinder erzählt mir eines Tages mit Stolz, dass sie nun in die Koranschule gehe und dabei ein Kopftuch trage, sie lerne jetzt nämlich den Koran. Ich ertappe mich dabei, dass ich auf das Stichwort ‹Koranschule› irritiert reagiere und damit viele Befürchtungen für die Entwicklung des Mädchens verbinde. Um diesen Gedanken und Gefühlen – die von meinen eigenen Vorstellungen und Bildern geprägt sind – nicht zu viel Raum zu geben, frage ich beim Mädchen interessiert nach, was sie in der Koranschule alles lerne. Dabei entstand ein schönes Gespräch, in dem ich einigen Einblick in eine Welt erhielt, die ich eigentlich kaum kenne.» (Zitat aus der Projektgruppe)

«Nachdem ich viele Gespräche mit Eltern aus Serbien als schwierig erlebt hatte, wollte ich mehr über die Menschen aus dieser Gegend erfahren. Ich organisierte deshalb, dass ich meine Intensivweiterbildung in Serbien und Kroatien verbringen konnte. Diese Monate voller neuer Eindrücke und Begegnungen bewirkten, dass ich die Gespräche seither viel gelassener angehen kann.» (Zitat aus der Projektgruppe)