Das Schweigen der Aare

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Kapitel 16

Berner Oberland, Balisalp, 23. November 2019, 08:25

Alva fror. Bitterlich.

Die eisige Kälte hatte ihr den Schlaf geraubt. Kälte war der perfekte Folterknecht. Zuverlässig, hartnäckig, grausam.

Alva zitterte am ganzen Körper. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Die Stiche an Fingern und Zehen waren in einen permanenten dumpfen Schmerz übergegangen. Alva vermutete, dass sie sich in einem Stall irgendwo auf einer Alp in den Bergen befand. Sie schätzte, dass die Fahrt im Kofferraum etwas mehr als eine Stunde gedauert hatte. Vielleicht auch eineinhalb Stunden. Das bedeutete, dass sie sich bereits über sieben Stunden in ihrem ungemütlichen Gefängnis befand.

Gegen Ende war die Fahrt immer kurvenreicher geworden. Die Straße musste stark angestiegen sein, da Alva im Kofferraum schmerzhaft nach unten gerollt war. Plötzlich hatte das Fahrzeug angehalten. Der Fremde hatte sie wortlos, dafür unsanft, aus dem Kofferraum in eine Almhütte, welche wahrscheinlich früher als Heuspeicher gedient hatte, geschleppt.

Alva war noch immer an Händen und Füßen gefesselt. Der Knebel verhinderte nach wie vor sehr wirksam, dass Alva um Hilfe rufen konnte. Lediglich die Augenbinde hatte ihr der Peiniger abgenommen. Mit der Morgendämmerung konnte sich Alva ein klareres Bild ihres Gefängnisses machen. Die Hütte war fensterlos. Sie besaß nur ein großes Tor, welches ursprünglich dazu diente, die großen Heuballen in die Hütte zu transportieren. Der Boden bestand aus festgetretener eiskalter Erde. Alva schätze die Temperatur in ihrem Verlies auf nur knapp über null Grad Celsius. Der Fremde hatte sie zwar mit einer alten fleckigen Matratze und zwei verlausten, stinkenden Wolldecken versorgt. Im Kampf gegen die boshafte allgegenwärtige Kälte hatten sich diese als völlig unzureichend herausgestellt. Ein weiterer Grund, weshalb die Kälte leichtes Spiel mit der bemitleidenswerten Alva hatte, war der Hunger. Alva hatte am vergangenen Abend nur wenig gegessen. Es fiel ihr immer schwerer, an ihrem Vorsatz, »nicht aufgeben und kämpfen«, festzuhalten. Sie spürte, wie die Kälte ihrem Mut den Garaus zu machen drohte.

Dennoch gelang es ihr, sich ein bisschen Hoffnung zuzusprechen. Einerseits wusste sie einiges über den Fremden. Andererseits musste es sich bei ihrem Versteck nicht um einen völlig abgelegenen Ort handeln, da der Entführer mit dem Auto direkt bis zur Hütte gefahren war. Es gab also Hoffnung, dass sich andere Personen in der Nähe befanden. Aufgrund der Fahrzeit vermutete Alva, dass sie sich irgendwo im Berner Oberland befanden. Und schließlich lebte sie, ja, sie war sogar unverletzt. Alva spürte, wie ihr Mut, der eben noch gedroht hatte, einfach aufzugeben, sich anders entschlossen hatte. Er gab ihr neue Energie.

Alva versuchte, trotz der Fesseln aufzustehen. Unmöglich. Auch die Handfesseln ließen keine Bewegungen zu. Es gab keine Möglichkeit, an ihr Handy zu kommen, welches immer noch in ihrer Gesäßtasche steckte. Sie war perfekt verschnürt – das musste man ihrem Entführer lassen.

Als sich ihr kurzer Euphorieanfall in triste Niedergeschlagenheit zu verwandeln begann, wurde das Hüttentor geöffnet. Unter großer Anstrengung schob der Fremde eine komische Apparatur in den Raum. Auch bei Tageslicht war es in der fensterlosen Hütte unangenehm dunkel. Ein Akku-Baustrahler tauchte das Innere auf einen Schlag in gleißendes Licht. Alva erinnerte die Lampe an eine Operationsleuchte beim Zahnarzt. Die Apparatur hingegen glich keinem Zahnarztbohrer. Sie sah aus wie eine altmodische Sägemaschine. Das Sägeblatt war allerdings nicht senkrecht, sondern horizontal montiert. Offensichtlich eine Eigenkonstruktion. Ein Prototyp.

Als sich das Gerät in der Mitte der Hütte befand, schien der Fremde zufrieden zu sein. Er näherte sich Alva und riss sie grob in die Höhe, sodass sie, wenn auch wacklig, auf ihren eigenen Beinen stehen konnte.

Anschließend tastete er sie am ganzen Körper ab. Der naheliegende Gedanke, dass ihr der Entführer Gewalt antun könnte, schoss Alva augenblicklich in den Kopf. Nackte Angst überfiel sie. An der Art und Weise, wie der Fremde sie berührte, merkte Alva, dass ihn keine sexuellen Motive leiteten. Zumindest hoffte sie dies. Als er an ihren Hintern griff, bemerkte sie ein Lächeln auf seinem Gesicht. Alva ergriff Panik. Das Lächeln wurde zu einem Grinsen, als er ihr Handy aus der Gesäßtasche zog und es bei sich einsteckte. Während der ganzen Prozedur hatte er kein Wort von sich gegeben. Überhaupt hatte er sich, seit er Alva vor dem Stufenbau angesprochen hatte, völlig stumm verhalten.

Wozu soll das Ding mit dem Sägeblatt gut sein?, fragte sich Alva. Der Unbekannte schien ihre Gedanken zu erraten. Ein kurzes boshaftes Zucken um seine Mundwinkel ließ Alva erschaudern. Das Rätsel würde sich sehr bald lösen.

Kapitel 17

Bern, Waisenhausplatz, 23. November 2019, 13:35

Obermaier war noch keine zwei Minuten aus seiner Mittagspause zurück, als Lisa und Zigerli bereits in sein Büro platzten. Ein fünfliber-großer Fettfleck zierte auf Brusthöhe das Diensthemd von Obermaier und legte Zeugnis vom gemeinsamen Mittagessen mit Trachsel ab. Die beiden hatten sich wahrscheinlich, wie mindestens zweimal pro Monat, eine Zytglogge-Röschti mit Bauernwurst, Speck und Spiegelei in ihrem Lieblingsrestaurant Anker gegönnt. Für das Vorhaben von Lisa war dies äußerst positiv, weil anzunehmen war, dass Obermaier nach dem feinen Mahl bester Laune sein würde. Tatsächlich begrüßte er die beiden Ermittler überschwänglich.

»Ah, Frau Kollegin Manaresi und der Herr Kollege … ähm …« Den Namen von Zigerli konnte sich Obermaier nie merken. Er interessierte ihn schlicht nicht.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Obermaier.

»Herr Obermaier, einmal mehr brauchen wir Ihren Rat, das heißt Ihre Unterstützung«, umgarnte Lisa den bayrischen Pfau.

»Na, dann schießen Sie mal los. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Es geht um eine vermisste Person. Genauer gesagt um meine jüngste Schwester Alva. Sie ist seit drei Tagen nicht von einem Besuch bei einer Kollegin zurückgekehrt.« Lisa hatte absichtlich die Abwesenheitsdauer von Alva verlängert, weil sie befürchtete, dass Obermaier ansonsten versuchen würde, auf simples Abwarten zu plädieren. »Kürzlich haben Sie persönlich mit einer sehr erfolgreichen Handyortung einem Bergsteiger in Grindelwald das Leben gerettet. Ich bin immer noch tief beeindruckt, wie Sie dies hingekriegt haben. Könnten Sie netterweise auch eine Ortung von Alvas Handy veranlassen?«

»Nun ja, grundsätzlich liegt dies in meinem Kompetenzbereich. Allerdings scheint mir, dass im vorliegenden Fall keine Bedrohung von Leib und Leben vorliegt. Das wäre eine zwingende Voraussetzung. Jede Handyortung wird nämlich registriert, und im Rahmen von Qualitätskontrollen wird periodisch überprüft, ob die durchgeführten Ortungen auch tatsächlich angebracht waren. Es tut mir leid, aber in Ihrem Fall kann ich leider nicht helfen.«

Lisa hatte damit gerechnet, dass der deutsche Wichtigtuer widerspenstig sein würde. Auf eine Anmachnummer wie vor Kurzem bei Trachsel hatte sie keine Lust. Sie musste Obermaier auf eine andere Art überzeugen. Ihre Antwort hatte sie sich deshalb im Voraus sorgfältig überlegt.

»Herr Obermaier, Sie sind unsere letzte Hoffnung. Wir sind total verzweifelt. Aber ich verstehe Sie. Dienstvorschriften sind Dienstvorschriften. Die muss man penibel einhalten.«

»Da bin ich absolut Ihrer Meinung, junges Fräulein«, betonte Obermaier.

»Sagen die Dienstvorschriften nicht auch, dass während dem Dienst über Mittag kein Alkohol getrunken werden darf? Mir ist vorhin die Quittung des Restaurants Anker von heute Mittag auf Ihrem Pult aufgefallen. Dort werden sechs Halbe Bier ausgewiesen. Das wären drei für Sie und drei für Trachsel.«

»Rechnen kann ich selber! Worauf wollen Sie hinaus, Frau Manaresi?«, fauchte Obermaier. Seine gute Laune hatte sich in Sekundenbruchteilen in Ärger verwandelt. Feindselig blinzelte er Lisa an. Es kostete sie Mühe, weiter die Rolle der gestrengen, pflichtbewussten Polizistin zu spielen.

»Wenn man die Dienstvorschriften beim Essen großzügig auslegen kann, sollte dies beim Handyorten auch möglich sein«, kombinierte Lisa.

Obermaier schluckte leer und überlegte fieberhaft. Es passte ihm überhaupt nicht, nach der Pfeife einer Juniorpolizistin zu tanzen. Ihm fiel aber nichts ein, das ihn aus der Affäre retten könnte. Zähneknirschend antwortete er:

»Für Sie, Kollegin Manaresi, mache ich eine Ausnahme. Schätzen Sie sich glücklich, über Beziehungen zu den richtigen Stellen zu verfügen.«

Lisa ließ ihm die erneuten Wichtigtuereien durchgehen. Sie war zu ungeduldig und wollte so rasch als möglich Kontakt mit ihrer Schwester herstellen. Leicht ungehalten reichte sie Obermaier einen Zettel mit Alvas Handynummer.

Eine knappe halbe Stunde später war Obermaier zurück.

»Tut mir leid. Die Ortung war nicht erfolgreich. Ich vermute, dass das Handy ausgeschaltet ist.«

Kurz hegte Lisa den Verdacht, dass Obermaier gar keine Ortung durchgeführt hatte. Die Enttäuschung im Gesicht von Zigerli, welcher Obermaier unauffällig gefolgt war, ließ sie innehalten. Mit einem kurzen »Danke« verdrückten sich Lisa und Zigerli aus Obermaiers Büro.

Inzwischen war es Lisa gewohnt, mit Rückschlägen umzugehen. Es gehörte dazu, immer wieder in einer Sackgasse zu landen. Die Kunst des Ermittelns lag darin, beharrlich zu bleiben und auch Spuren zu verfolgen, welche auf den ersten Blick aussichtslos wirkten.

Lisa und Zigerli brauchten eine neue Spur. Sowohl auf der Suche nach dem Mörder von Siri als auch auf der Suche nach Alva. Siri konnte niemand mehr helfen, Alva war möglicherweise in Gefahr. Sie beschlossen deshalb, zum Stufenbau zu gehen. An den Ort, an welchem Alva bekanntermaßen zum letzten Mal von anderen Personen gesehen worden war. Es ging bereits gegen Ende des Nachmittags, als die beiden den Eingang des Eventlokals erreichten. Dieser war verschlossen, es war auch keine Menschenseele zu entdecken. Eine Verlegenheitsspur hatte sich leider einmal mehr als aussichtslos herausgestellt. Frustrierender Alltag der Kriminalpolizei.

 

Lisa und Zigerli beschlossen, zu Fuß den Rückweg zur Wache am Waisenhausplatz anzutreten. Die kühle Novemberluft würde ihren rauchenden Köpfen guttun. Es war ein ruhiger Frühwinterabend. Die einbrechende Dämmerung malte stimmungsvolle Wolkenbilder in den Berner Himmel. Gedankenverloren stapften Lisa und Zigerli der Innenstadt zu. Lisa überhörte das schwache Signal ihres Handys, als eine Kurznachricht eintraf. In demselben Moment summten auch die Mobiltelefone von Elin und Luca.

Das Böse kam auf leisen Sohlen.

Kapitel 18

Berner Oberland, Balisalp, 23. November 2019, 15:05

Er spürte, wie sich allmählich dieses erhabene Gefühl in ihm ausbreitete. Das Gefühl, für welches er die vergangenen 20 Jahre gelebt hatte. Das Gefühl, welches aus einer Mischung aus Stolz, Vorfreude, Erregung und Rachelust bestand.

Sein Plan war perfekt aufgegangen. Alles war viel einfacher gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Die kleine Schlampe hatte sich ihm nach dem Sauffest regelrecht aufgedrängt. Sie hatte sich kaum gewehrt und war nie in Hysterie verfallen. Er fragte sich, ob sie seine Gegenwart womöglich sogar genoss. In ein paar Minuten würde der Spaß beginnen. Ein weiterer Schritt zur späten Genugtuung.

Tristan saß an einem kleinen Holztisch in einer noch kleineren Küche. Sie glich eher einer Abstellkammer mit Spülbecken. Kochgelegenheit gab es keine. Wasser musste mit einem in die Jahre gekommenen Gaskocher auf dem Tisch erhitzt werden. Er befand sich in einem winzigen Chalet. Dieses lag in unmittelbarer Nähe zum Heuschober, in welchen Alva eingesperrt war.

Vor zwei Jahren hatte er auf einer Wanderung im Gras einen Schlüssel mit einem beschrifteten Anhänger gefunden. Der Fundort befand sich in der Nähe des kleinen Holzhauses. Deshalb hatte es ihn keine große Mühe gekostet, herauszufinden, dass es sich dabei um den Hausschlüssel des Miniaturchalets handelte. Der Schlüsselfund war für ihn pures Glück. Damit besaß er das perfekte Versteck. Das Häuschen war auf einen anderen Besitzer eingetragen, weshalb es nie irgendwelche Spuren zu ihm geben würde.

»Endlich kann ich mein schönes Feriendomizil sinnvoll nutzen«, sagte er zufrieden zu sich selbst. Tristan hatte das Handy von Alva wieder eingeschaltet und spielte damit. Er zappte sich durch Hunderte von Fotos. Aufnahmen, welche eine glückliche junge Dame zeigten. Am Strand von Chia, auf dem Torre Asinelli in Bologna, mit Freundinnen in London. Überall Lächeln und Glückseligkeit. Über ein Bild war er regelrecht gestolpert. Zuerst hatte er es sich minutenlang unter Tränen angeschaut. Schließlich hatte er es sich auf sein eigenes Handy geschickt. Das Foto zeigte Alva, Siri und Lisa am Aareufer bei einem Picknick. Juli 2019. Womöglich das letzte gemeinsame Sommerpicknick. Er musste Schluss machen. Ihm war bewusst, dass man das Handy orten konnte, wenn es eingeschaltet war. Den Stümpern bei der Polizei würde es ohnehin nicht groß helfen. Bis hier jemand auftauchen würde, wäre er längst über alle Berge. Weit weg.

Alva hörte, wie sich Schritte der Hütte näherten. Seine Schritte. Inzwischen kannte sie seinen Gang. Es war ein unregelmäßiger Gang. Sie hatte bemerkt, dass er leicht hinkte. Es schien, dass etwas mit seinem linken Bein nicht in Ordnung war. Vielleicht von einer früheren Verletzung oder einem Unfall?

Alva war zwar noch nicht einmal 24 Stunden in Gefangenschaft. Diese fühlten sich aber – vielleicht wegen dem fehlenden Schlaf – wie eine Ewigkeit an. Die vergangenen zwei Stunden hatte sie an nichts anderes als an eine Fluchtmöglichkeit gedacht. Erst kurz bevor er zurückkam, hatte sie einen Einfall. Hoffnung keimte auf – vielleicht die letzte Chance?

Kurz nachdem sie merkte, dass er zur Hütte kam, war Alva zur Hüttenwand gerobbt und hatte sich mit dem kleinen Metallteil, welches dort in der Holzwand steckte, an der Innenseite des Unterarms eine Wunde zugefügt. Diese blutete ziemlich stark, und sie brannte. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen, und er trat in ihr Gefängnis. Augenblicklich realisierte er, dass etwas nicht stimmte. Der Grund war nicht zu übersehen. Alvas gesamter rechter Arm war blutüberströmt. Am Boden hatte sich bereits eine kleine Blutlache gebildet.

Alva hoffte, dass ihr Peiniger ihre Wunde zumindest notdürftig verarzten würde. Dazu müsste er ihre Handfesseln lösen, um an die Wunde zu gelangen. Das wäre ihre Chance, ihre kleine Chance.

Alvas Verletzung schien ihn nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, wieder zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die doofe Zicke half ihm, sein Schauspiel noch besser werden zu lassen.

Wegen dem Knebel konnte Alava nicht sprechen. Ihr Blick flehte aber geradezu um Hilfe. Noch während Alva ihren verzweifelten, stummen Appell an ihn richtete, sah sie in seinen Augen, dass er ihr nicht helfen würde. Keine Chance. Er hatte inzwischen festgestellt, dass Alvas Wunde kaum noch blutete. Die Blutung würde bald komplett aufhören, auch ohne Verarztung. Alva bot einen erbärmlichen Anblick. Mittlerweile waren ihre Kleider und ihr Gesicht überall mit Blut verschmiert. Obwohl die Verletzung nicht bedrohlich war, sah Alva aus wie eine Schwerverletzte.

Er hatte seinen eigenen Plan. Ohne Alva eines Blickes zu würdigen, machte er sich an der Sägeapparatur zu schaffen. Kurz darauf surrte das waagrecht montierte Sägeblatt und begann, sich zu drehen. Innerhalb weniger Sekunden schwoll das Surren zu einem grässlichen Pfeifen an. Er näherte sich nun Alva und schleifte sie zur Säge. Dort stellte er sie wieder auf ihre eigenen Beine. Alva wagte nicht, sich fallen zu lassen. Sein Blick verriet, dass er daran keine Freude hätte. Er nestelte kurz in seiner Jackentasche und holte ein Handy hervor. Alvas Handy. Schließlich befahl er Alva, sich auf das Sägeblatt zuzubewegen.

Blankes Entsetzen spiegelte sich in Alvas Gesicht. Das waren exakt die Sekunden, auf welche er gewartet hatte. Er hatte sie festgehalten. Mit dem Handy gefilmt. Ein Kurzfilm – ein Horrorfilm. Das sich nähernde tödliche Sägeblatt, die blutverschmierte Alva und die nackte Todesangst. Alles in einem Film, alles echt, alles in zwölf Sekunden.

Kurz darauf verstummte das Sägeblatt, und er verließ die Hütte ohne ein weiteres Wort. Nach ein paar Minuten hörte Alva, wie der Motor des Fords aufheulte und dieser wenig später davon rollte. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, via Gotthardtunnel und Lugano bis nach Mailand zu fahren. Da er nicht ausschließen konnte, dass bereits intensiv nach der Schlampe gesucht wurde, entschied er, dass ein Grenzübertritt zu riskant wäre und er nur bis ins Tessin fahren würde. Bei Biasca verließ er die Autobahn und fuhr weiter ins wildromantische Bleniotal. Er stoppte auf einem abgelegenen Forstweg in der Nähe von Malvaglia. Eine feine Schnee- und Eisschicht bedeckte die Straße und die umliegenden Felder. Da es inzwischen kurz vor 18 Uhr war, konnte man wegen der Dunkelheit kaum etwas von der schönen Landschaft erkennen. Als er sich sicher war, dass ihn niemand beobachtete, löschte er auf dem Handy von Alva die Standortinformationen aus seinem oscarverdächtigen Kurzfilm. Ein paar Klicks später war das Meisterwerk an die Eltern von Alva und an Lisa verschickt. Er freute sich diebisch. Zu gerne hätte er beobachtet, wie die Empfänger auf die hübsche Nachricht reagierten. Die Polizei würde rasch herausfinden, dass die Nachricht aus dem Bleniotal abgeschickt wurde. Dann würde es hier von Bullen wimmeln. Endlich wäre in dem gottverlassenen Tal mal etwas los. Leider könnte er sich das nicht live anschauen – er würde längstens über alle Berge sein. Bestens gelaunt startete er seinen Ford und befand sich bald wieder auf der Autobahn in Richtung Norden. Aus dem Autoradio dröhnte The moment of truth von Survivor. Sein Hochgefühl hätte einen krassen Dämpfer erlitten, wenn er realisiert hätte, dass ihm ein Fehler unterlaufen war.

Kapitel 19

Bern, 23. November 2019, 17:55

Lisa und Zigerli hatten beschlossen, auf ihrem Rückweg in die Innenstadt im Rosengarten einen Kaffeehalt einzulegen. Auch wenn sich ihnen ein betörender Blick auf die Lichter der Berner Altstadt bot, wollten sie diesen nicht so recht genießen. Fehlende Ergebnisse waren für einen Ermittler schlimmer als Niederlagen für einen Sportler. Aus Niederlagen konnte man Schlüsse ziehen, man konnte etwas daraus lernen. Fehlende Ergebnisse waren nichts anderes als purer Frust.

Während Zigerli bei der Bedienung zahlte, warf Lisa rasch einen Blick auf ihr Smartphone.

»Eine Nachricht von Alva!«, hörte Zigerli sie frohlocken. Nachdem sich die Bedienung entfernt hatte, widmeten sich beide dem Kurzvideo. Wie paralysiert spulten sie die Zwölf-Sekunden-Aufnahme wieder und wieder ab. Sie konnten nicht glauben, was sie auf den Bildern sahen. War der Film tatsächlich echt? Handelte es sich bei dem offensichtlichen Opfer wirklich um Alva? Alles war völlig surreal. Solche Dinge gab es doch nur in erfundenen Geschichten. Zigerli fand als Erster wieder die Fassung und begann, die richtigen Fragen zu stellen.

»Schauen wir nach, wo die Aufnahme gemacht wurde. In der Regel werden diese Daten in der Mediendatei festgehalten«, schlug Zigerli vor.

»Das ist sogar mir als IT-Banause bekannt«, fauchte die dünnhäutige Lisa zurück. »Hier ist das Handy, worauf wartest du noch?« Mit diesen Worten schob sie ihr Smartphone zu Zigerli.

Nach ein paar Minuten hektischer Tastenbearbeitung meldete dieser enttäuscht:

»Die Registrierung der Ortsdaten wurde entweder deaktiviert oder nachträglich gelöscht. Ich kann nicht feststellen, wo die Aufnahme gemacht wurde.«

»Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet«, ließ sich Lisa nicht ohne Sarkasmus vernehmen. Auch wenn es nur Ausdruck von Lisas Frust war, verschränkte Zigerli demonstrativ die Arme und lehnte sich eingeschnappt zurück. Dennoch war er es, der das Heft wieder in die Hand nahm.

»Es nützt nichts in Selbstmitleid zu zerfließen, schauen wir uns die Aufnahme nochmals an. Vielleicht können wir etwas Auffälliges entdecken, das uns weiterhilft.« Lisa tat es sichtlich gut, ihren Kollegen aktiv zu sehen. Schon fast ein bisschen euphorisch stürzten sich die beiden wieder auf den Film. Zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Mal spielten sie die Aufnahme ab. Vergrößern, anhalten, Ton aus, maximale Lautstärke. Alle Optionen kamen zum Zuge. Sie hatten sich gerade darauf geeinigt, dass sie noch zwei Durchgänge machen würden, als Lisa plötzlich rief:

»Da, siehst du den kleinen Plastikfetzen in der Ecke der Hütte?«

Zigerli konnte nichts erkennen. Schließlich sah auch er, was Lisa gemeint hatte. Mit der maximalen Vergrösserung konnte, wenn auch sehr unscharf, eine Art Zettel mit einem Logo darauf erahnt werden. Minutenlang betrachteten die beiden das Bild. Stille. Keiner wagte einen möglichen Verdacht zu formulieren.

Schließlich brach Lisa das Schweigen.

»Es tönt zwar lachhaft, aber mich erinnert das nebulöse Bild an einen Hasen mit einer Skibrille und einem Helm.« Wie nicht anders zu erwarten, quittierte Zigerli Lisas Vorschlag lediglich mit einem schrägen Blick.

»Hat der Herr eine bessere Idee?«, zischte Lisa zurück.

»Der Herr hat nicht. Aber lieber keine Idee als solcher Bockmist.« Diese Antwort brachte das Pulverfass zur Explosion. Beleidigt stapfte sie wutentbrannt aus dem Lokal. Zigerli kannte ihr italienisches Temperament mittlerweile zur Genüge und nahm das Ganze deshalb gelassen. Er blieb noch eine Weile sitzen, schüttelte immer wieder den Kopf und machte sich schließlich auch auf den Heimweg.

Auf dem Weg nach Hause, der durch die schmucken Lauben der Berner Altstadt führte, konnte sich Lisa wieder beruhigen. Kaum war sie in ihrem Studio in der Länggasse angekommen, hatte sie bereits ihren Laptop hochgefahren. Zu ihrer großen Überraschung landete sie mit den Suchbegriffen »Logo«, »Hase«, »Skibrille« und »Helm« innerhalb weniger Minuten einen vielversprechenden Treffer. Sie stieß auf das Logo des Snow-Parks Balis Park. Dieser Freestyle-Park befand sich im Berner Oberland, genauer gesagt in der Region Hasliberg auf der Balisalp. Lisa kannte dieses Skigebiet. Vor drei oder vier Jahren hatte sie dort ein Wochenende verbracht. Sie verband wunderschöne Erinnerungen mit der märchenhaft schönen Gegend. Wenn das Wetter mitspielte, boten sich atemberaubende Ausblicke auf die grandiose Bergwelt des Berner Oberlandes.

 

Lisa verglich das orangebraune Logo auf ihrem Laptop mit dem unscharfen Standbild auf ihrem Handy. Auch wenn die Bildqualität aus dem Video miserabel war, bestand kein Zweifel, dass es sich bei beiden Bildern um dasselbe Logo handelte. Zwar war dies noch kein wasserfester Beweis, dass sich der Heuspeicher aus dem Video auch tatsächlich auf der Balisalp befand. Es war hingegen unwahrscheinlich, dass der Logofetzen mit der Balis Park-Werbung in einem anderen Skigebiet auftauchte, noch dazu in einem Heuschober.

Am liebsten hätte sich Lisa direkt auf den Hasliberg gebeamt. Leider würde sie nicht um eine knapp 90-minütige Autofahrt herumkommen. Vorausgesetzt, dass ein Auto zur Verfügung stand. Normalerweise hätte sie kurzerhand Zigerli angerufen und ihn gefragt, ob sie seinen kleinen Cinquecento ausleihen dürfte. Heute war es anders. Nach der unrühmlichen Szene im Rosengarten ließ es ihr Stolz nicht zu, bei Zigerli bereits wieder um einen Gefallen zu betteln. Sie würde bei ihren Eltern anklopfen. Nachdem sie sich ihre warme Daunenjacke und eine Taschenlampe geschnappt hatte, machte sie sich auf den kurzen Weg zum Altenbergrain.

Es war bereits nach 21 Uhr, als Luca auf seinem Smartphone das Zwischenresultat des Fußballspiels der Italienischen Serie A zwischen dem FC Bologna und Sassuolo Calcio suchte. Dabei stieß er auf die Kurznachricht von Alva. Das Video ließ ihm das Blut in den Adern stocken. Luca spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, und seine Knie weich wurden. Es zerriss ihm sein Herz. Nachdem er einige Minuten auf der Wohnungstreppe still vor sich hin geweint und seine Fassung zumindest ein bisschen wiedergefunden hatte, machte er sich auf, Elin die bittere Nachricht zu überbringen. Es hätte die Situation auch nicht besser gemacht, wenn Luca zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, dass sein FC Bologna 3:0 in Führung lag.

Elin reagierte überraschend gefasst auf das Horrorvideo, obwohl sie von der Nachricht total überrascht wurde. Kurz fragte sich Luca, ob die geballten Hiobsbotschaften zu ihren Töchtern bei Elin eine Art Gefühlskälte verursacht hatten. Er konnte es sich nicht vorstellen und schob das besonnene Auftreten von Elin ihrer nordländischen Coolness und ihrem starken Charakter zu.

Die Türklingel und kurz darauf die vertraute Stimme von Lisa holten Luca aus seiner sorgenvollen Grübelei. Lisa war froh, dass ihre Eltern die Nachricht von Alva schon kannten. Sie stellte erleichtert fest, dass die beiden, das heißt in erster Linie ihre Mutter, die Schreckensnachricht offensichtlich recht gut verdaut hatte. Coccolone sah man an, dass er litt.

In wenigen Worten schilderte Lisa ihren Eltern, wie sie zu ihrer Vermutung gekommen war, dass sich die Hütte auf dem Hasliberg befand. Die Frage nach dem Autoverleih brauchte Lisa gar nicht zu stellen. Elin und Luca kannten ihre älteste Tochter lange genug, um zu wissen, dass Lisa so schnell wie möglich auf die Balisalp wollte, auch wenn es inzwischen gegen 22 Uhr ging.

»Wird dich Thomas begleiten?«, erkundigte sich Luca.

»Ähm … Thomas … Thomas kann gerade nicht. Ich werde alleine hinfahren«, stammelte Lisa.

»Dann fahre ich mit dir. Wir lassen dich nicht alleine mitten in der Nacht auf den Hasliberg fahren«, erwiderte Luca energisch.

Lisa war froh, dass ihr Vater sie begleiten wollte. Nicht, dass sie sich gefürchtet hätte. Sie freute sich, Zeit zu haben, um mit ihm in Ruhe über die Ereignisse der vergangenen Tage zu sprechen. Tochter und Vater waren schon kurz nach der Abfahrt in ein tiefes Gespräch verwickelt. Entsprechend kurzweilig verlief die Fahrt zur Balisalp. Es herrschte praktisch kein Verkehr. Ab Hasliberg Hohfluh kamen sie für die letzten fünf Kilometer nur noch langsam voran. Die Straße war sehr schmal und führte in engen Kurven steil bergauf. Lisa, welche am Steuer saß, war froh, dass der Saab 9-4 über einen Vierradantrieb verfügte. Gegen Mitternacht erreichten sie das Alprestaurant Balis. Da die Wintersaison erst im Dezember starten würde, hatte das Restaurant Betriebsferien. Die Alp schien völlig verlassen, keine Menschenseele war zu sehen.

Die Balisalp bestand aus einer kleinen Ansammlung von Hütten und Ställen. Alle aus braunem Holz im typischen Stil des Haslitals gebaut.

»Wo sollen wir beginnen?«, fragte Lisa mehr sich selbst, als an ihren Vater gerichtet. Luca war in der Zwischenzeit ausgestiegen und suchte in der Dunkelheit nach einem brauchbaren Ansatzpunkt.

»Ich denke, wir können uns auf die Hütten ohne Fenster konzentrieren. Im Video war klar zu erkennen, dass der Speicher keine Fenster besaß«, schlug Lisa vor.

Getrennt machten sie sich an die Überprüfung der Bauten. Nach einer guten Stunde hatten sie die meisten Gebäude der Alp inspiziert. Von Alva keine Spur. Lisa hoffte, dass ihr Vater mehr Ermittlerglück gehabt hatte. Leider blieb es bei der Hoffnung. Noch zwei Gebäude, beide am Rand der Siedlung, wollte Lisa überprüfen. Noch zwei Lose. Falls sich beide als Nieten entpuppten, wäre es der perfekte Abschluss eines totalen Frusttags. Als Lisa die nächste Hütte umrundete, hielt sie plötzlich inne. Ein kleiner Gegenstand auf dem Kiesboden hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

Als sie danach griff, machte ihr Herz einen Sprung. Lisa hielt eine Haarspange in ihren Händen. Alvas Haarspange. Es gab keinen Zweifel. Die Spange war einzigartig. Ein Unikat. Lisa hatte sie Alva auf der Piazza Ducale in Vigevano vor ungefähr zwei Jahren gekauft. An der Spange befand sich eine Art kleine Brosche mit einem Bildchen. Das Bildchen zeigte die Basilika Santo Stefano in Bologna. Luca war in unmittelbarer Nähe dieser Kirche in der Via Caldarese aufgewachsen.

Lisa hätte am liebsten laut gejubelt.

Du sollst den Tag nicht vor dem Abend verdammen, musste sie sich erfreut eingestehen.

Als Lisa dem herangeeilten Luca die Haarspange zeigte, sah sie, wie sich seine Augen wieder mit Tränen füllten.

»Schauen wir uns das Innere der Hütte genauer an«, schlug Lisa vor.

Wie zu erwarten, war der Eingang verschlossen. Ein Lächeln auf Lucas Gesicht verriet Lisa, dass ihr Vater eine Lösung zur Hand hatte.

»Diese Tür wird zu öffnen sein. Ich hole rasch ein paar Werkzeuge.« Mit diesen Worten machte sich Luca auf den Weg zu seinem Fahrzeug. Es dauerte nicht lange, und Lisa sah ihren Vater mit einer Werkzeugkiste und einem länglichen Gegenstand wieder näherkommen. Luca war sichtlich stolz, endlich einmal Verwendung für seinen Werkzeugkoffer zu haben. Elin hatte sich in der Vergangenheit des Öfteren vorwurfsvoll über den nutzlosen Gemischtwarenladen im Kofferraum beklagt.

»Es liegt in der Natur der Sache, dass man nicht weiß, wann man solche Werkzeuge braucht. Entscheidend ist, dass man die Utensilien zur Verfügung hat und deshalb stets mitführen muss«, hatte Luca jeweils entgegnet.

Als er fast wieder bei Lisa war, konnte sie sehen, dass der längliche Gegenstand eine Art Geißfuß war. Kurz darauf war die Tür offen. Nur zweimal hatte Luca die Stange angesetzt. Beiden klopfte das Herz bis zum Hals, als sie die Hütte betraten. Innerhalb von Sekunden wich der Aufregung bittere Enttäuschung. Die Hütte war leer. Fast leer.

In der Mitte des Heuspeichers befand sich eine komische Apparatur. Eine Art Säge mit horizontal montiertem Sägeblatt. Zweifelsfrei das Gerät, welches auch auf dem Video mit Alva zu erkennen war. Ihre Schwester musste demzufolge in diesem Raum gewesen sein.

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