Das Schweigen der Aare

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»Es scheint, dass wir Tür für Tür abklappern und darauf hoffen müssen, noch einen pflichtbewussten Angestellten beim Leichenwaschen anzutreffen«, stellte Lisa lapidar fest. Die Bemerkung raubte Zigerli das letzte bisschen Motivation. Gerade als Lisa bei der ersten Tür ansetzen wollte, ging zwei Räume weiter eine solche auf. Auf den Gang trat eine vollständig in Weiß gekleidete Frau im mittleren Alter. Bei genauerem Hinsehen erkannten Lisa und Zigerli, dass die Kleidung doch nicht ganz weiß war. Überall befanden sich rote Spritzer. Es war davon auszugehen, dass es sich um Blutspritzer handelte.

»Was suchen Sie hier?«, raunte die Frau. Sie sprach mit einem starken slawischen Akzent. Ihre Körpersprache und ihr Tonfall sagten indessen: »Raus hier.«

»Das wird nicht einfach, auch mit Trachsels Bewilligung«, konstatierte Lisa.

»Wir kommen von der Berner Kriminalpolizei, Dezernat Leib und Leben. Hier ist ein Schreiben von Oberkommissar Trachsel. Wir wollen uns nochmals die Leiche der heute eingelieferten jungen Frau von der Kirchenfeldbrücke ansehen.«

»Da gibt es nichts mehr zu sehen«, blaffte die Frau in Rot-Weiß. »Die Leiche war mehr ein Fleischhaufen als ein Personenkörper. Sie ist bereits eingesargt. Der Sarg ist verschlossen.«

»Jälva skit!1 Die Einsargung war erst für morgen früh geplant. Haben Sie denn keine Dienstvorschriften?«

»Bleiben Sie schön auf dem Boden. An der Leiche gibt es nichts mehr zu untersuchen. Die Todesursache steht eindeutig fest: Sturz aus großer Höhe. Ich würde sagen, mindestens 50 Meter ist die gute Frau runtergesaust.«

»Die gute Frau war meine Schwester. Danke, dass Sie so respektvoll von ihr sprechen.«

»Oh, das tut mir leid«, stammelte die sichtlich beschämte Rechtsmedizinerin.

»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie können mir helfen, indem Sie den Sarg nochmals öffnen.«

»Das geht nicht. Den Sarg könnte höchstens mein Vorgesetzter, Professor Entomon, öffnen. Der ist aber vor knapp zwei Stunden in den Zug nach Zürich gestiegen. Er reist zu einem internationalen Cnidarien-Kongress.«

»Cnida… was?«, stammelte Lisa.

»Cnidarien sind Nesseltiere. Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Quallenarten, Korallen und Seeanemonen. Ich kann Ihnen einzig den Obduktionsbericht aushändigen. Die Leiche wurde sorgfältig und professionell von uns untersucht. Alle Erkenntnisse stehen in dem Bericht. Und ich garantiere Ihnen, Sie würden nichts finden, was wir nicht bereits entdeckt haben.« Lisa konnte es nicht fassen. Nur wenige Meter von den sterblichen Überresten ihrer Schwester entfernt sollte sie diese nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es entsprach ganz und gar nicht ihrem Naturell, in solchen Situationen klein beizugeben. Fieberhaft überlegte sie, was sie noch tun könnte. Es fiel ihr nichts ein. Kein Gedanke, keine Idee. Von Zigerli kam auch nichts. Der Flopp des Tages.

»Also gut, dann geben Sie uns bitte den Obduktionsbericht«, hörte sich Lisa sagen. Dabei wäre sie am liebsten in den Kühlraum gerannt und hätte den Sarg ihrer Schwester einfach aufgebrochen.

Zwei Minuten später saßen Lisa und Zigerli an einem Tisch im Obduktionssaal Nummer zwei und brüteten über dem dreiseitigen Obduktionsbericht. Wie jeder Tod, welcher nicht auf ein natürliches Geschehen zurückzuführen war, wurde auch Siris Ableben als sogenannter außergewöhnlicher Tod eingestuft. Jeder der jährlich gegen 1000 außergewöhnlichen Todesfälle im Kanton Bern musste von Gesetzes wegen einer Leichenschau unterzogen werden. Dabei handelte es sich um eine ärztliche Besichtigung einer verstorbenen Person mit dem Ziel, die ärztliche Todesbescheinigung auszustellen. Die Leichenschau erforderte die persönliche Untersuchung des entkleideten Leichnams zwecks Feststellung von Todeszeichen und Verletzungen. Der Arzt musste ferner Gewissheit über die Identität der verstorbenen Person haben und die Todeszeit schätzen.

Lisa schauderte. Man musste eine dicke Haut besitzen, um einen solchen Job zu meistern.

Wie nicht anders zu erwarten, enthielt der Bericht nur nüchterne und zähe Rechtsmedizinerphrasen. Dazu das übliche Chirurgenchinesisch. Auch wenn sich im Dokument etwas Auffälliges befand, Lisa und Zigerli würden dies kaum entdecken.

»Multiple Frakturen des Corpus femoris rechts. Conquassatio von Schien- und Wadenbein beidseits«, las Lisa.

Die beiden Ermittler kämpften sich tapfer durch das Dokument.

»Blasen wir die Übung ab. Ich lade dich zu Roastbeef und Pommes ins Restaurant Schwarzwasserbrücke ein«, versuchte Zigerli, Lisa auf andere Gedanken zu bringen.

»Ich fasse es nicht. Da versucht man, die letzte Chance auf Aufklärung des Todes seiner Schwester zu nutzen, und du denkst an nichts anderes als ans Fressen«, fauchte die kurz vor einer Explosion stehende Lisa. Eigentlich war sie schon explodiert. Ihr tat die impulsive Antwort bereits in dem Moment leid, als sie diese Zigerli an den Kopf warf. Die Reaktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Zigerli knickte ein wie ein umgemähter Grashalm.

»Ich habe es nicht so gemeint, Thomas, aber der Bericht ist die letzte Chance, vor der Bestattung von Siri noch etwas herauszufinden.«

Kaum hatte Lisa die Situation zwischen ihr und ihrem Kollegen beruhigt, hörten sie, wie sich die Tür zum Obduktionssaal öffnete und die Rechtsmedizinerin mit dem roten Dalmatinerkittel verkündete, dass das Institut in fünf Minuten schließe und sie den Obduktionsbericht wieder zurückhaben müsse.

»Geben Sie uns noch zehn Minuten«, bat Lisa verzweifelt.

»Das geht leider nicht. Ich bin mit meiner Tochter verabredet, wir fahren ins Emmental zum Essen. Im Restaurant Rössli in Schafhausen gibt es heute Kalbsnieren, so viel man essen mag. Tut mir leid, maximal vier Minuten.«

Lisa fragte sich, wie jemand den ganzen Tag Leichen obduzieren und am Abend Kalbsnieren essen konnte. Dabei vergaß sie weiter zu verhandeln. Erst als hinter der hinauseilenden Rechtsmedizinerin die Tür wieder krachend ins Schloss fiel, fasste Lisa wieder einen klaren Gedanken. Ein seriöses Studium des Dokuments war nicht mehr möglich. Am liebsten hätte sie einfach drauflos geheult. Zigerli blätterte gerade auf Seite zwei, als Lisa ein komischer lateinischer Ausdruck in die Augen sprang.

»Hydrurus foetidus (goldbraune Alge)« stand in der viertuntersten Zeile auf der zweiten Seite des Berichts. Rasch überflog Lisa den gesamten Abschnitt. Im Haar von Siri wurden offensichtlich Teile dieser Alge gefunden. Die Alge kam in kleinen bis mittelgroßen Flüssen im Schweizer Mittelland vor.

Kleine bis mittelgroße Flüsse, ging es Lisa weiter durch den Kopf. Intuitiv hätte Lisa Siri mit der Aare in Verbindung gebracht, auch wenn die Leiche neben dem Fluss gefunden worden war. Die Aare war aber kein kleiner bis mittelgroßer Fluss. Sie war der längste gänzlich innerhalb der Schweiz verlaufende Fluss.

Ein großer Fluss.

Vielleicht kommt die Hydrurus Alge auch in der Aare vor?«, spekulierte Lisa. Dennoch, eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass hier etwas nicht zusammenpasste. So sehr sich Lisa bemühte, die Ungereimtheit zu konkretisieren, ihr fiel nichts ein.

»Ich muss Sie jetzt endgültig bitten, das Institut zu verlassen«, beendete die Kalbsnierenliebhaberin die Gedankenspiele von Lisa.

Außerhalb des Instituts warteten finstere Dunkelheit und bittere Novemberkälte auf Lisa und Zigerli.

»Ein paar Pommes in der Schwarzwasserbrücke wären doch keine schlechte Idee«, meinte Lisa plötzlich kleinlaut zur großen Überraschung von Zigerli. Der ließ sich in Aussicht auf ein schon entschwunden geglaubtes leckeres Abendessen nicht zweimal bitten.

Die Algengeschichte beschäftigte Lisa auch während des Essens. Am Tisch herrschte Stille.

Zigerli widmete sich mit Inbrunst seinem Roastbeef und später auch Lisas Gericht. Sie hingegen brütete in Gedanken weiter über dem Besuch in der Rechtsmedizin.

»Thomas, ich denke, ich weiß jetzt, was mich gestört hat. Die Alge in Siris Haar. Wie kommt Ende November eine Alge in die Haare meiner Schwester?«

»Vielleicht war sie kurz in der Aare – Vorbereitung für das Weihnachtsschwimmen.«

»Das könnte tatsächlich sein, Siri ist praktisch das ganze Jahr über in der Aare gewesen. Aber die Aare ist kein kleiner oder mittelgroßer Fluss. Das heißt, die Alge müsste aus einem kleineren Fluss stammen, zum Beispiel aus …«

»… der Sense!«

»Du hast’s erfasst. Thomas, ich habe eine Hypothese, wie sich der Tod meiner Schwester erklären lässt. Lass uns die Rechnung begleichen. Wir fahren im Anschluss kurz an die Sense.«

»Lisa, wir haben den 17. November, es ist stockdunkel, und draußen ist es arschkalt.« Thomas war von vornherein klar, dass er damit Lisa nicht umstimmen konnte. Aber sich kampflos herumkommandieren zu lassen, ging auch nicht.

Eine Viertelstunde später parkierten Lisa und Thomas den kleinen knallroten Fiat Cinquecento in der Nähe der kleinen Steinbrücke nicht weit von der großen Schwarzwasserbrücke entfernt. Auf der Strecke von Bern nach Schwarzenburg führt die 65 Meter hohe Schwarzwasserbrücke über den kleinen Fluss Schwarzwasser, ungefähr 100 Meter vor dessen Einmündung in die Sense.

Mit Thomas’ leistungsstarker Autotaschenlampe machte sich Lisa zielstrebig auf den Weg zur Schwarzwasserbrücke. Genau unterhalb der Brücke begann sie, sorgfältig das Flussbett und die umliegenden Geröll- und Steinhaufen auszuleuchten. Lisa wusste nicht genau, was sie eigentlich suchte. Einfach irgendeinen brauchbaren Hinweis. Fluchend stolperte Thomas hinter ihr her. Am liebsten wäre er im Auto geblieben, zumal es ohnehin nur eine Lampe gab. Seine Lampe. Die hatte im Moment aber Frau Manaresi.

 

Eine knappe halbe Stunde dauerte das Leuchten und Blinken jetzt schon. Thomas fror erbärmlich. Mittlerweile am ganzen Körper. Es sollte noch schlimmer kommen. Gerade als Thomas zu einem entschiedenen verbalen Rückzugsappell ansetzen wollte, passierte es. Er rutschte auf einem feuchten Stein aus und lag kurz darauf, ohne Badehosen, dafür mit Jeans, Pullover und Jacke, im Schwarzwasser. Das Bad dauerte nicht lange. Lisa staunte, wie flink sich Zigerli bewegen konnte, wenn es drauf ankam.

»Elender Mist«, jammerte Lisas Kumpel. »Mir reicht’s mit deinem beschissenen Nachtspaziergang!«

»Hast du dir wehgetan?«, erkundigte sich Lisa in ihrer charmantesten Art.

Hatte er nicht. Aber das brauchte die Dame nicht zu wissen. Ein leises Knurren war alles, was als Antwort von Thomas zurückkam. Mittlerweile war Lisa bei Thomas angekommen und betrachtete amüsiert das triefende Flussungeheuer. Zigerli war in der Tat zu bemitleiden. Seine Zähne klapperten vor Kälte wie eine alte Druckerpresse. Das fahle Licht eines müden Mondes, das eisige Flusswasser und die kleinen braunen Büschel einer namenlosen Wasserpflanze, welche Zigerlis Jacke, Hosen und sogar sein Gesicht zierte, gaben eine unheimliche Szenerie ab.

»Lassen wir es gut sein.« Endlich hatte Lisa ein Einsehen mit ihrem Kollegen. »Ich lade dich auf einen Kaffee oder Glühwein zu mir ein.«

Es war schon fast Mitternacht, als sich Zigerli wieder besser fühlte. Vorausgegangen waren eine warme Dusche und zwei Tassen heißer Glühwein.

Lisas Stimmung hingegen war auf dem Tiefpunkt. Im Keller. Im tiefsten Keller.

Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die vermeintlichen Treckingkleider von Zigerli zum Trocknen auslegte. Bald waren die nassen Kleidungsstücke auf diverse Stühle in der Wohnung verteilt. Einige der Textilien waren bereits wieder so gut wie trocken. Als sie die Jacke über eine Stuhllehne streifte, veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck.

»Thomas, das Gestrüpp an deiner Jacke sieht irgendwie ähnlich aus wie die Algen, welche in Siris Haar gefunden wurden. Dieselbe braungelbe Farbe und die gleichen Fasern. Allerdings habe ich diejenigen von Siri nur auf Bildern gesehen.«

»Ich weiß nicht. Ich hoffe einfach, dass mir der verdammte Algenmist nicht meine schönen Klamotten ruiniert hat«, ereiferte sich Zigerli.

Lisa war bereits in die Küche geeilt und kam kurz darauf mit einem kleinen Einmachglas wieder zurück. Mit einer Pinzette zupfte sie vorsichtig etwas von dem Pflanzenmaterial von Zigerlis Kleidern. Sie hoffte sehnlichst, dass in der Rechtsmedizin noch etwas von der Algenprobe in Siris Haar vorhanden war, damit sie einen Vergleich der beiden Muster anstellen konnte.

Würde sich herausstellen, dass die beiden Proben von ein und demselben Ort stammen?

Es gab noch eine weitere Möglichkeit den aufkeimenden Verdacht zu erhärten. Dazu musste Lisa nochmals ans Schwarzwasser, noch einmal an Zigerlis nächtlichen Badeort. Ihr war klar, dass keine 20 Kamele Zigerli diese Nacht ein weiteres Mal nach draußen in die Kälte bringen würden. Ans idyllische Schwarzwasser schon gar nicht.

»Leihst du mir kurz deine Macchina2? Ich muss nochmal zu deinem Badeplätzchen.«

»Solange ich nicht mitkommen muss, kannst du mit meinem roten Blitz hinfahren, wohin du willst.«

Wenig später deponierte Lisa den auf der kurzen Autofahrt eingenickten Zigerli in seiner Junggesellenwohnung im Mattenhofquartier. Kurz vor 1.30 Uhr befand sich Lisa wieder beim beliebten Nachtbadeort am Schwarzwasser. Würde sie noch etwas Brauchbares finden? Inzwischen hatte auch der Mond sein karges Licht ausgeschaltet. Es war mittlerweile stockdunkel. Das Schwarzwasser machte seinem Namen alle Ehre. Vom kleinen Fluss war kaum etwas zu erkennen. Ohne das leise Plätschern und Glucksen des Wassers hätte man sich nicht an einem Fluss vermutet. Die Taschenlampe erzeugte zwar einen kräftigen Lichtstrahl, dieser konnte aber immer nur ein kleines Stückchen des Flussbetts ausleuchten. Endlich fand Lisa die Stelle, wo Zigerli kurz abgetaucht war. Es kostete sie eine anständige Portion Überwindung, selbst ins eisige Nass zu steigen. Zum Glück führte der Fluss nur wenig Wasser. Nach wenigen Augenblicken stieß sie auf die Hinweise, auf welche sie gehofft hatte. Neben den von Zigerli hinterlassenen Sturzspuren konnte Lisa deutlich andere Zeichen erkennen. Diese deuteten darauf hin, dass hier vor Kurzem etwas Großes und Schweres wahrscheinlich aus großer Höhe in den Fluss gefallen war. Steine im Flussbett waren verschoben. Auf anderen Steinen waren Teile des Algenbefalls abgerieben.

Hydrurus foetidus, ging es Lisa durch den Kopf. Sollte dieses unappetitliche Flussgewächs am Ende der Schlüssel zum Rätsel um Siris Tod sein?

In Lisas Kopf ratterten die Gehirnzellen auf Hochbetrieb, obwohl es mittlerweile fast 2 Uhr geworden war. Lisa war dermaßen mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern oben mitten auf der Brücke angehalten hatte. Eine hagere Gestalt beobachtete sie, seit sie unten am Fluss angekommen war. Als sich Lisa auf den Rückweg machte, schlich der Schatten leise fluchend zu seinem Fahrzeug. Dieses rollte kurz darauf lautlos und ohne Licht in die dunkle Nacht davon.

1 schwedisch und bedeutet so viel wie »verdammter Mist»

2 Italienisch und bedeutet wörtlich »Maschine«, sinngemäss »Auto»

Kapitel 9

Bern, Länggassquartier, 18. November 2019, 07:30

In Anbetracht der kurzen Nacht – Lisa war erst gegen 3 Uhr eingeschlafen – fühlte sie sich voller Energie. Sie kannte auch den Grund dafür. Lisa konnte es nicht erwarten, ihre Algenprobe mit derjenigen aus Siris Haaren zu vergleichen. Eigentlich eine Routineangelegenheit. Wenn man aber lediglich als Hobby-Ermittler an einem Fall arbeitete, stellten sich einem eine ganze Liste von beträchtlichen Hürden in den Weg.

1.) Lisa hatte Dienst und musste in 30 Minuten an ihrem Arbeitsplatz am Waisenhausplatz sein.

2.) Wer würde ihr in der Rechtsmedizin die Haarprobe von Siri aushändigen?

3.) Wer konnte die Laboranalyse durchführen?

Problem Nummer eins ließ sich mit einem Telefonat ins Dezernat und einer Notlüge einfach lösen. Problem Nummer zwei war da schon ein anderes Kaliber. Lisa konnte sich nicht im Traum vorstellen, dass ihr die kalbsnierensüchtige Rechtsmedizinerin die Probe aushändigte. Die Ärztin in die Ermittlungen miteinzubeziehen und sie zu bitten, gleich selber die Vergleichsanalyse zu machen, kam noch viel weniger infrage. Sackgasse.

Lisa wollte sich gerade ihren Mantel schnappen und mangels Alternativen doch zur Arbeit gehen, als ihr Handy klingelte. Zigerli.

»Hallo, Lisa. Hat sich dein zweiter Ausflug ins Schwarzwasserland gestern Nacht gelohnt? Oder hast du einfach die wunderbare Nachtstimmung am Fluss genossen?«

»Spar dir deine müden Witze. Natürlich habe ich etwas Entscheidendes gefunden«, entgegnete Lisa beleidigt. In wenigen Worten berichtete sie Zigerli, was sie gestern Nacht am Schwarzwasser entdeckt hatte. Sie schloss mit der frustrierenden Aussage, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie und von wem sie die beiden Algenproben miteinander vergleichen lassen konnte.

»Nicht verzagen, Zigerli fragen«, hörte sie ihren Kumpel am anderen Ende der Leitung ungewohnt selbstbewusst. »Ein Freund, den ich aus unserer gemeinsamen kaufmännischen Ausbildung kenne, absolviert zurzeit eine Zweitlehre als Laborant. Und zwar in der Rechtsmedizin Bern. Vielleicht kann ich ihn überreden, die Analyse der beiden Proben durchzuführen – sofern er Zugang zu Siris Probe bekommt.«

»Die Proben in der Rechtsmedizin stehen dort nicht einfach herum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dort jeder Laborantenlehrling einfach bedienen kann«, zweifelte Lisa.

»Sei doch nicht so pessimistisch. Timo, so heißt mein Kollege, ist mir noch einen Gefallen schuldig. Während unserer gemeinsamen Ausbildung wurde er nach einem Saufgelage an der Aare bei der Rückfahrt mit seiner Vespa beim Überfahren eines Rotlichts in der Berner Innenstadt geblitzt. Ich saß hinter ihm auf dem Roller. Timo hätte seinen Führerschein abgeben müssen, da er Rotlichter schon des Öfteren ignoriert hatte. Da ich in der Beziehung noch jungfräulich war, habe ich mich als Fahrer ausgegeben. Für mich setzte es lediglich eine saftige Buße ab. Timo hat diese gerne beglichen.«

»Dann bin ich gespannt, was dein Timo drauf hat«, versuchte Lisa, den Ehrgeiz von Zigerli weiter anzustacheln. »Falls uns dein Kompagnon die Analysenresultate liefern kann, koche ich für euch beide Ragù alla Bolognese.« Zigerlis Leibspeise.

Kompagnon Timo lieferte. Und erst noch speditiv. Am folgenden Nachmittag, es war am 18. November gegen 16 Uhr, streckte Zigerli sein nach Ragù alla Bolognese gelüstendes Haupt in ihr gemeinsames Büro. In seiner rechten Hand schwenkte er ein Dokument.

»Voilà, Frau Oberkommissarin. Der Analysenbericht aus der Rechtsmedizin Bern ist eingetroffen.«

»Im Ernst? Und was sagt er aus?« Lisa konnte ihre Ungeduld kaum mehr im Zaum halten.

Da Lisa alleine im Büro war, hatte sich Zigerli in der Zwischenzeit neben sie gesetzt. Er genoss die Situation in vollen Zügen. Mit breiter Brust legte Zeremonienmeister Zigerli Lisa die Analyseergebnisse auf den Schreibtisch. In wenigen Sekunden überflog Lisa den Inhalt des Dokuments. Mit pochendem Herzen landete sie bei den Ergebnissen.

Schlussfolgerungen: Es handelt sich beim Inhalt der Proben AX23pK und BZ45qR mit an 100 Prozent grenzender Sicherheit um ein und dieselbe Süsswasseralge: Hydrurus foetidus. Die ursprüngliche Herkunft der Proben kann ebenfalls als identisch bezeichnet werden: Schwarzwasser, Kanton Bern, Koordinaten: 46° 51′ 47’ N, 7° 21′ 35’ O; CH1903: 593983 / 190217.

Damit war für Lisa klar, dass Siri an praktisch derselben Stelle wie Zigerli im Schwarzwasser gelegen hatte. Aufgrund der Spuren im Fluss war anzunehmen, dass Siri von der Schwarzwasserbrücke heruntergestürzt war. Der Tod von Siri warf immer bedrohlichere Fragen auf. Obwohl sie es noch nicht abschließend beweisen konnte, stand für Lisa fest, dass Siri ermordet worden war. Höchstwahrscheinlich durch einen Sturz von der Schwarzwasserbrücke.

Kapitel 10

Laupen, Wührenweg, drei Tage zuvor, 16. November 2019, 10:00

Die Kaffeetassen stapelten sich im Spülbecken. Als er den kleinen Küchenschrank öffnete, um sich eine saubere Tasse zu schnappen, fluchte er. Der Schrank war leer. Missmutig säuberte er eine Tasse aus der Deponie im Spültrog. Kurz darauf saß er am quadratischen speckigen Küchentisch und grübelte.

Sein rechtes Ohrläppchen, beziehungsweise die Überbleibsel davon, hatte wieder zu jucken begonnen. Bei einem Unfall vor einigen Jahren wurde ihm fast das gesamte rechte Ohr abgetrennt. Bei Nervosität, Angst, Frustsituationen oder auch bei schlechter Laune plagte ihn seither ein starker Juckreiz in seinem Ohrstumpf. Vor einem Jahr hatte er sich dabei dermaßen an seinem verkrüppelten Ohrläppchen zu schaffen gemacht, dass er aufgrund einer nicht zu stillenden Blutung ins Spital eingewiesen werden musste.

»Weshalb konnte diese hochnäsige Italo-Zicke nicht einfach die Ermittlungsergebnisse der Polizei akzeptieren? Die Ermittlungen waren offensichtlich abgeschlossen: Suizid. Perfekt. Er hatte alles meisterhaft inszeniert. Sich minutiös an seinen Plan gehalten. Suizid wie aus dem Lehrbuch, die Polizei hat applaudiert.«

Gestern Abend überfiel ihn plötzlich dieses dumpfe Gefühl. Zweifel.

Hatte er nicht doch vielleicht Spuren hinterlassen? Spuren am Fangnetz bei der Kirchenfeldbrücke? Nein, das war unmöglich. Er machte keine Fehler. Nie. Oder doch?

Kurz nach 21.30 Uhr hatte er den Kampf gegen seine Selbstzweifel verloren. Im strömenden Novemberregen hat er sich aufgemacht. Auf zur Kirchenfeldbrücke. Dort war er auf dieses arrogante Weibsbild gestoßen. Er beobachtete sie, wie sie mitten auf der Brücke mit einer kleinen Taschenlampe die dortigen Fangnetze ausleuchtete. Trotz der Dunkelheit konnte er zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei der Frau um ein Mitglied dieser elenden Manaresi-Sippe handelte. Als die Zicke kurz darauf die Übung abbrach und Richtung Innenstadt davonging, war er ihr gefolgt. So hatte er herausgefunden, dass es sich um Lisa Manaresi handelte und dass sie in einer Studiowohnung im Länggassquartier wohnte. Der Rest war ein Kinderspiel. Dank seinen Beziehungen zu einschlägigen Hackerkreisen wusste er in der Zwischenzeit beinahe mehr über Lisa als ihre Eltern. Die geilste Information lieferte ihm Branko Dangvac. Branko gehörte zum innersten Kreis der kroatischen Dark Cyber Community. Er hatte die IP-Adresse von Lisas iPhone herausgefunden. An die Handynummer von Lisa zu kommen, war noch einfacher gewesen – lächerlich einfach. Mit diesen Informationen konnte er, GPS-gesteuert, zu jeder Zeit wissen, wo sich Lisa aufhielt. Genial.

 

Deshalb war er ihr auch gefolgt, als sie zum zweiten Mal ans Schwarzwasser ging. Von der Brücke aus hatte er beobachtet, wie sie unten in der Dunkelheit das Gewässer absuchte. Hatte die oberschlaue Möchtegernpolizistin etwas entdeckt?, fragte er sich. Es ärgerte ihn, dass er sich tatsächlich Sorgen machte. Natürlich hat sie nichts gefunden!, versuchte er, sich einzureden. Es blieb ein Zweifel, der ihn wie ein Dornenstachel quälte.

Zum richtigen Zeitpunkt würde diese Tusse ihre Strafe bekommen. Er spürte, wie sich bei dem Gedanken in seinem Schritt etwas regte. Er stand auf, schüttete den kalt gewordenen Kaffee in die Spüle und gönnte sich einen kräftigen Schluck aus der Jack-Daniels-Flasche. Diese stand immer irgendwo in Griffnähe. Zur Feier des Tages.

Der Whiskey brannte ihm in der Kehle, löste aber kurz darauf ein wohliges, wärmendes Gefühl im ganzen Körper aus. Er entspannte sich und begann zu überlegen. Je mehr er nachdachte, desto mehr hellte sich sein Gesicht auf. Er war schon fast wieder in Hochstimmung. Kein Grund zur Beunruhigung. Alles war perfekt.

Fast alles.