Das Schweigen der Aare

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Kapitel 5

Bern, Altenberg, 16. November 2019, 03:15

Luca Manaresi war gerade wieder aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt. Seit ungefähr drei Jahren war es aus mit seinem ansonsten sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Sein ganzes Leben hatte der Vater von Lisa nie Schlafprobleme gehabt; weder in seiner Kindheit in Bologna noch während seiner Ausbildung in Schweden und schon gar nicht im beschaulichen Bern. Seit über 30 Jahren arbeitete Luca als Lastwagenchauffeur bei einer in Bern beheimateten Import-Export-Firma. Früher war er mindestens einmal pro Woche in seiner Heimat, der Emilia Romagna. Es ging um die Einfuhr von Parmesankäse, Rohschinken, italienischen Wurstwaren, Balsamico-Essig und Wein. Fiel der Transport einmal aus, gab es postwendend Katzenjammer in der Berner Gastroszene. Mittlerweile war Luca in erster Linie innerhalb der Schweiz unterwegs. Er kümmerte sich um die Belieferung von Restaurants und Spezereiläden.

Zu Beginn kamen die Albträume einmal im Monat. Mittlerweile plagten ihn diese zwei- bis dreimal pro Woche. Das Perfide daran war, dass sich Luca nicht an den Inhalt der Träume erinnern konnte. Deshalb war es sehr schwierig, die Ursache für die bösen Träume zu finden. Niemand hatte ihm bisher helfen können. Sein Hausarzt hatte es nicht geschafft, die Neurologie am Inselspital auch nicht, ebenso wenig die bekannten Schlafforscher am Universitätsspital in Zürich. Man hatte zwar herausgefunden, dass bei Albträumen bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind: die Inselrinde und der Gyrus cinguli. Luca waren Rinde und Gyrus einerlei. Er wollte lediglich, dass ihn die schlimmen Träume nicht jede zweite oder dritte Nacht quälten. Von den Ärzten stammte einzig die Hypothese, welche besagte, dass es womöglich ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit gab, welches Luca noch nicht richtig mit sich selbst verarbeitet hatte. Luca wollte davon nichts wissen.

»Es gab kein Trauma. Basta!«

Er beschloss aufzustehen und ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde lesen half oft. Danach fand er meistens wieder seinen Schlaf. Deshalb schnappte er sich die Berner Zeitung vom Vortag, welche noch ungelesen auf dem Küchentisch lag.

Morgen wird darin wahrscheinlich über den Suizid meiner Tochter berichtet, ging es ihm durch den Kopf.

Der Gedanke verdarb Luca die Lust aufs Zeitunglesen. Dennoch blätterte er gelangweilt von Seite zu Seite. Ein Bild auf Seite fünf ließ ihn urplötzlich aus seinen trüben Gedanken hochschrecken. Mit einem Mal glaubte Luca sein Trauma zu kennen.

Kapitel 6

Bern, Waisenhausplatz, 16. November 2019, 15:05

Trachsel dröhnte immer noch der Schädel. Aber das war es die Kabiswurst von gestern wert. Dabei war nicht die Wurst, sondern die sieben Halbe Aarebier schuld an seinen Kopfschmerzen.

»Hallo Werner, ich habe hier bereits den Obduktionsbericht von der Kirchenfeldbrücken-Leiche. Schwere innere Verletzungen durch Sturz aus großer Höhe. Frakturen an oberen und unteren Extremitäten, offener Wadenbeinbruch rechts, Risse in Lunge, Leber, Milz, diverse Darmperforationen. Multiple Schädel-Hirn-Traumata. Tönt für mich nach der perfekten Beschreibung eines Kirchenfeldbrücken-Jumpers«, konstatierte Max Obermaier, seines Zeichens Oberwachtmeister bei der Kriminalpolizei Schrobenhausen in Bayern. Obermaier absolvierte aktuell seinen sechsmonatigen Austauschdienst bei der Kriminalpolizei Bern im Rahmen einer seit fünf Jahren bestehenden Zusammenarbeit.

»Hallo, Max, du kennst dich ja bereits bestens aus mit den Brücken hier in Bern«, meinte Trachsel.

»Das ist gar nicht so einfach. Es gibt dermaßen viele Brücken, und die haben auch noch komplizierte Namen. Lorrainebrücke – und das in Bern. Tönt nach Genf oder Lausanne. Dalmazibrücke – die würde ich eher in Kroatien suchen.«

»Weißt du, Max, wir sind eben international hier in Bern. Weltoffen. Keine Hinterwäldler wie ihr in Bayern.«

»Hör mir damit auf. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr lebt hier immer noch im Mittelalter. Bayern ist da eine ganz andere Liga. Einzig im Fußball, da seid ihr auch toll. Ihr ward schon ein paar Mal Schweizer Meister, und einen coolen Namen hat eure Mannschaft. Young Boys. Ich gebe zu, das tönt echt modern.«

»Wo du recht hast, hast du recht, Max. Steht denn sonst noch etwas Besonderes im Obduktionsbericht?«

»Nein, einfach das Übliche Routineblabla.«

»Gut, danke, dann schieb mir das Ding rüber. Ich werde das Papier heute Abend zusammen mit der Angehörigen­identifizierung unterschreiben.«

»Die habe ich auch schon dabei. Familie Manaresi war kurz nach Mittag in der Rechtsmedizin und hat ihre Tochter identifiziert. Neben den Eltern war auch noch eine Schwester der Selbstmörderin mit dabei. Eine echte Schönheit, bei der könnte ich mich vergucken.«

»Lieber Max, aus dem Alter solltest du raus sein. Die ist nichts für dich. Die steht bestimmt nicht auf 60-jährige Opas. Und ob sie deinen bayrischen biergestählten Schwabbelbauch sexy finden würde, ist auch nicht mit absoluter Sicherheit klar.«

»Mach dich nur über mich lustig. Die junge Frau hat jedenfalls fast zehn Minuten mit mir geplaudert und mich sogar gefragt, ob ich denn von der Suizidthese überzeugt sei. Da konnte ich all mein kriminalistisches Know-how gründlich vor ihr ausbreiten. Glaub mir, die war super beeindruckt von meinem Wissen. Hat einfach nur zugehört und gestaunt.«

»So, es reicht jetzt. Ich muss noch was tun. Also her mit den Schreiben, und dann wünsch ich dir was.«

Leicht verschnupft verließ Obermaier das Büro des Kommissars. Trachsel seinerseits war bereits damit beschäftigt, die Unterschriftenseiten des Obduktionsberichtes und der Leichenidentifizierung zu suchen. Den Inhalt der Dokumente würdigte er keines Blickes. Hätte er dies getan, wäre ihm womöglich im Obduktionsbericht etwas Wichtiges aufgefallen. Vielleicht auch nicht.

Kapitel 7

Bern, Länggassquartier, 16. November 2019, 19:30

Lisa saß bereits seit über einer Stunde an ihrem hübschen Küchentisch aus antikem Kirschholz. Der Tisch war einer der wenigen Luxusgegenstände, welche sich Lisa in ihrem Leben bis anhin gegönnt hatte. Sie hatte den Tisch von ihren Eltern zum Abschluss ihres Studiums geschenkt erhalten, nachdem sie diesen vorher wochenlang fast täglich im Schaufenster der Antikschreinerei Blaser in der Viktoriastraße angebetet hatte. Der Tisch hatte die Manaresis ein kleines Vermögen gekostet. Die Freude, welche Elin und Luca damit ihrer ältesten Tochter machen konnten, war es ihnen wert.

Ein sanftes Klingeln an ihrer Wohnungstür löste sie aus ihren trüben Gedanken.

Thomas, schoss es ihr durch den Kopf. Niemand sonst brachte es fertig, ihre wilde Türklingel zu zähmen und deren Töne nicht aggressiv klingen zu lassen. Die innere Ruhe, die Thomas besaß, schien sich auf die Klingel zu übertragen.

»Hallo, Thomas, tut mir leid wegen gestern Abend. Mir ging es total auf den Keks, dass alle und sogar du an einen Suizid meiner Schwester glauben.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Vielleicht hilft der Latte Macchiato meinem Haar zu neuem Wachstum. Bedarf wäre vorhanden. Ich habe von Anfang an nicht an einen Selbstmord von Siri geglaubt, aber das konnte ich dir gestern nicht mehr sagen, so wie du aus dem Lokal gerannt bist.«

»Danke, Thomas.«

Lisa mochte Thomas sehr. Sie waren echte dicke Freunde, die sich gegenseitig (fast) alles anvertrauten. Lisa war nie in Thomas verliebt gewesen, ganz im Gegensatz zu ihm. Er vergötterte Lisa seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal im Dezernat getroffen hatten. Am Anfang hatte Lisa seine ungelenken Komplimente, die kleinen Geschenke und die fast unterwürfige Hilfsbereitschaft genossen. Als Thomas sie auf dem gemeinsamen Nachhauseweg von einer Grillparty mit den Dezernatskollegen urplötzlich in einen dunklen Hauseingang drückte und seine feuchte Hand auf ihre rechte Brust drückte, schien die gemeinsame Freundschaft eigentlich für immer in Brüche gegangen zu sein. Dem plumpen Annäherungsversuch von Zigerli hatte Lisa mit einem überaus entschiedenen Tritt in Thomas’ Schritt ein jähes Ende gesetzt. Zigerli verbrachte im Anschluss zwei Tage im Spital. Ein gequetschter Hoden sowie zahlreiche Hämatome waren die unrühmliche Ausbeute seiner kopflosen Avancen. In den Wochen danach verlor Zigerli sieben Pfund an Gewicht, weil er vor lauter Kummer kaum mehr etwas aß. An sich wäre dies gar keine so schlechte Sache gewesen, wäre nicht die große Traurigkeit und die depressive Verstimmtheit hinzugekommen. Nach fünf Wochen hatte Lisa ein Einsehen. In einer über vier Stunden dauernden Aussprache verständigten sich die beiden darauf, wie ihre Freundschaft in Zukunft auszusehen hatte und wie nicht. In der Zwischenzeit hatte sich Zigerli damit abgefunden, dass Lisa für ihn unerreichbar war. Er genoss ihre gemeinsame Zeit und war glücklich, oft mit Lisa zusammen sein zu können.

»Gestern Abend habe ich nochmals die Kirchenfeldbrücke und die Fangnetze untersucht«, begann Lisa. »Ich konnte nirgends eine noch so kleine Spur einer Beanspruchung durch eine Person entdecken. Ich bezweifle immer mehr, dass Siri von der Brücke gestürzt ist. Weder gewollt noch durch Fremdeinwirkung.«

»Im Grunde gibt es drei mögliche Szenarien«, meldete sich nun Zigerli zu Wort. »Erstens: Siri hat sich selbst von der Brücke gestürzt. Wenn ja, bleibt immer noch die Frage, ob in suizidaler Absicht oder ob sie von jemandem dazu gezwungen wurde. Zweitens: Siri wurde bereits vorher umgebracht und anschließend von der Brücke geworfen.«

»Diese Möglichkeit scheint mir bei der Breite der Fangnetze reichlich unwahrscheinlich. Außer, jemand hätte sich die Mühe gemacht, selber mit einer Leiche auf die Fangnetze zu steigen und diese anschließend in die Tiefe zu befördern.«

 

»Da magst du recht haben«, pflichtete Zigerli Lisa bei. »Allerdings müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, schließlich sind wir nun die Ermittler. Drittens: Siri wurde anderswo von großer Höhe in die Tiefe gestürzt. Auch bei dieser Möglichkeit kann sie sich durch den Sturz die tödlichen Verletzungen zugezogen haben oder sie wurde bereits vorher umgebracht und im Anschluss in die Tiefe gestürzt, um exakt einen Sturz von einer Brücke vorzutäuschen.«

»Das heißt, wir haben im Grunde vier Optionen«, präzisierte Lisa.

»Ja, wenn du so willst, sind es vier Optionen.«

»Die Möglichkeit, dass Siri gar nicht von der Kirchenfeldbrücke gestürzt ist, sondern dass ihre Leiche unterhalb der Brücke deponiert wurde, um einen Sturz vorzutäuschen, ist mir heute Nachmittag auch eingefallen. Der Abschiedsbrief von Siri passt aber nicht richtig dazu. Dieser deutet doch auf einen Suizid hin.«

»Hast du den Brief mit eigenen Augen gelesen? Ist dir dabei nichts Verdächtiges aufgefallen? Theoretisch könnte der Brief auch von jemand anderem geschrieben worden sein«, mutmaßte Zigerli.

»Ich konnte den Brief noch nicht persönlich sehen. Du hast recht. Der Brief könnte uns weiterbringen. Er ist immer noch bei meinen Eltern. Kommst du mit?«

»Wenn es für deine Eltern okay ist.«

»Thomas, es ist für meine Eltern okay.«

Seit seinem Fiasko nach der Grillparty hatte Zigerli Hemmungen, die Eltern von Lisa zu besuchen. Bei der Begrüßung stieg ihm jedes Mal die Schamröte ins Gesicht, und er fühlte sich wie ein begossener Pudel. Lisa hatte ihm 1000 Mal versichert, dass die Affäre ein Geheimnis zwischen ihr und Thomas sei und selbst ihre Eltern nichts davon wüssten. Zigerli war sich dessen nicht so sicher. Die Begegnungen waren für ihn deshalb Teil der Buße für seinen Sündenfall.

Von Lisas Studio bis zur Wohnung ihrer Eltern waren es weniger als 20 Minuten zu Fuß. Bereits wenige Sekunden nach dem Klingeln öffnete eine sichtlich erfreute Elin die Tür.

»Hallå Mamma, dürfen wir kurz reinkommen?«

»Schön, euch beide zu sehen, kommt rein. Coccolone ist auch da.«

Mit Coccolone war Luca gemeint. Es war sein Kosename und bedeutete auf Deutsch so viel wie Kuschelbär. Wenn die Manaresis unter sich waren, genossen sie es, sich in einem oft wilden Mix aus Schwedisch, Italienisch und Deutsch zu unterhalten. Als Coccolone hörte, dass Lisa im Anmarsch war, hellte sich sein trauriges Gesicht schlagartig auf. Es bestand eine besondere Beziehung zwischen Luca und seiner ältesten Tochter. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Deshalb verstanden sie sich in vielen Situationen, ohne miteinander sprechen zu müssen. In einem Punkt unterschieden sie sich aber grundlegend: Lisa war von Natur aus dominant. Sie hielt gerne die Zügel in der Hand und war glücklich, wenn sie ihren Willen durchsetzen konnte. Diese Seite hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Luca hingegen war der sanfte, konfliktscheue und herzliche Padre – ein Coccolone eben.

Nach einer herzlichen Begrüßung lenkte Lisa die Unterhaltung rasch in Richtung Abschiedsbrief. Der Originalbrief war tatsächlich noch bei ihren Eltern. Zwar hatte Trachsel darauf bestanden, das Original mitzunehmen und eine Kopie bei der Familie Manaresi zu belassen. Er hatte die Rechnung ohne Elin gemacht. Trachsel hatte kurz versucht, seine polizeiliche Autorität spielen zu lassen. Er war damit bei Elin ungefähr so sang- und klanglos gekentert wie ein Schlauchboot im Aarehochwasser.

Ungeduldig wartete Lisa darauf, dass ihre Mutter ihr den Abschiedsbrief endlich aushändigte.

»Danke, Mamma, Thomas und ich werden uns wahrscheinlich eine Weile mit dem Brief beschäftigen.« Mit diesen Worten verschwanden die beiden ins ehemalige Zimmer von Lisa, welches jetzt als Gästezimmer diente.

Mindestens fünf Mal lasen Lisa und Zigerli den Brief. Es war ohne Zweifel die Handschrift von Siri. Der Brief war ein Original, keine Kopie. Er war mit Tinte geschrieben, fast so, als ob der Abschied stilvoll und nicht billig vonstattengehen sollte. Jedes Wort legten sie auf die Waagschale, sie hinterfragten jede Formulierung und suchten nach versteckten Hinweisen. Nichts. Deprimierend.

Die Tatsache, dass der Brief echt zu sein schien, stützte natürlich die Hypothese des Suizids. Die Stimmung war am Boden.

Und dennoch – irgendetwas in Siris Abschiedsbrief war nicht stimmig. Ganz tief in ihrem Unterbewusstsein erkannte Lisa eine Lampe. Sie leuchtete rot.

Kapitel 8

Bern, Waisenhausplatz, 17. November 2019, 12:30

Die Nacht war niederschmetternd gewesen, ebenso der Morgen. Es gab einen Abschiedsbrief, der auf einen Selbstmord hindeutete, und es gab einen Leichenfundort, welcher diese Hypothese ebenfalls stützte.

Hatte Trachsel doch die richtigen Schlüsse gezogen?, musste sich Lisa eingestehen.

»Hallo, Lisa, wie stehen die Ermittlungen?«, platzte Zigerli in Lisas Mittagsmeditation. Ein kurzer Blick von ihr genügte, und Zigerli bereute seine unterschwellige Provokation.

»War nicht so gemeint«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Setz dich und lass uns noch einmal alles im Detail durchgehen«, entgegnete Lisa gereizt.

Zusammen gingen Lisa und Zigerli nochmals chronologisch alle Geschehnisse und Indizien durch. Sie merkten gar nicht, dass die Mittagspause eigentlich längst vorüber war. Schließlich war es Lisa, welche eine entscheidende Eingebung hatte.

»Ein Puzzleteil haben wir noch nicht im Detail geprüft: die Leiche.«

Außer dem kurzen Augenblick bei der Identifizierung von Siris Leiche, hatte Lisa die sterblichen Überreste ihrer Schwester nicht zu Gesicht bekommen. Würde dort vielleicht ein entscheidender Hinweis zu finden sein? Morgen war die Abschiedsfeier geplant und übermorgen bereits die Kremation. Von ihren Eltern wusste Lisa, dass der Leichnam von Siri in der Rechtsmedizin direkt in den Sarg gelegt und dieser anschließend endgültig verschlossen wurde. Das alles hieß, die Leiche war längstens bis morgen früh noch auf der Rechtsmedizin. Auch wenn sie die Schwester von Siri war, würde es verdammt schwierig werden, in der Rechtsmedizin Zugang zur Leiche zu erhalten, es sei denn, die Kriminalpolizei hätte ein entsprechendes Gesuch ausgestellt.

»Trachsel muss mir ein solches Gesuch zur Leichenschau und zur Einsicht in den Obduktionsbericht unterzeichnen«, murmelte Lisa mehr zu sich als zu ihrem Partner.

»Das wird er dir nie im Leben unterschreiben«, entgegnete Zigerli.

Er mochte recht haben. Zum einen hatte Trachsel den Fall bereits abgeschlossen, und zum anderen hatte er mit Lisa noch eine Rechnung offen. Der Oberkommissar hatte am letztjährigen Weihnachtsessen der Kriminalpolizei spätabends einen eindeutigen Flirtversuch bei Lisa gelandet. Flirtversuch war allerdings etwas untertrieben. Er hatte versucht, Lisa vor der Damentoilette zu küssen. Genau wie Zigerli musste der stark angetrunkene Trachsel auf äußerst schmerzhafte Weise mit der Wehrhaftigkeit der ältesten Manaresi-Tochter Bekanntschaft machen. Resultat seines stümperhaften Annäherungsversuchs waren ein blaues Auge und ein zerrissenes Hemd. Das Schlimmste aber waren Spott und Hohn der Arbeitskollegen. Noch Wochen nach der Feier hatte Trachsel das Gefühl, dass ein schadenfrohes Lächeln über die Gesichtszüge seiner Arbeitskollegen huschte, wenn er diesen im Büro begegnete. Obwohl seit dem Fiasko schon fast ein Jahr vergangen war, hatte sich bis anhin leider noch keine gute Gelegenheit ergeben, um an dieser hochnäsigen Praktikantin Rache zu nehmen. Zwar war Lisa als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, Trachsel bezeichnete sie aber absichtlich und despektierlich als Praktikantin. Wegen der offenen Rechnung wartete Lisa täglich darauf, dass er ihr einen gehörigen Stock zwischen die Räder werfen würde.

Einen Gefallen von ihm zu verlangen und auch zu erhalten, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Nahezu hoffnungslos. Es sei denn, man kannte die Schwächen seines Widersachers und drehte den Spieß um. Lisa hatte eine Idee, wie sie den Groll Trachsels möglicherweise in eine Gefälligkeit umwandeln konnte. In wenigen Worten schilderte sie Zigerli ihren Plan.

»Bist du wahnsinnig? Das wird niemals klappen. Willst du dir das wirklich antun? Mit diesem Ekel?«, meldete Zigerli seine Zweifel an.

»Thomas, du kennst mich inzwischen gut. Wenn ich ein Ziel habe, dann erreiche ich dieses auch«, posaunte Lisa selbstbewusster, als ihr zumute war.

Es war inzwischen fast 15 Uhr– die Zeit drängte. Lisa und Zigerli verließen den kleinen Pausenraum und hofften, dass niemand etwas von ihrer überlangen Mittagspause mitbekommen hatte. Unbemerkt erreichte Lisa ihr kleines Büro. Vielleicht würde heute doch noch ihr Glückstag werden. Die Wache war wie ausgestorben, sodass Lisa unbemerkt ihre Sporttasche schnappen und sich zum Umkleideraum im ersten Untergeschoss aufmachen konnte. Lisa wusste, dass Trachsel trotz der happigen Abfuhr jederzeit und ohne zu zögern für ein Schäferstündchen mit ihr alles fallen und liegen lassen würde. Je sichtbarer sie ihre weiblichen Formen zur Schau stellte, desto einfacher würde es werden. Deshalb stürzte sich Lisa in ihre hautengen Lauftights und streifte sich ein pinkfarbenes Laufshirt über. Ab jetzt half nur noch gute Schauspielkunst und Beten.

Ab in die Höhle des Löwen.

Zuerst schien es, als ob ihre Glückssträhne weiter anhalten würde. Trachsel war in seinem Büro alleine und gerade damit beschäftigt, einen Schokoladeriegel in sechs gleichgroße Bissen zu zerschneiden. In der nächsten Stunde würde er sich alle zehn Minuten eine verdiente Stärkung gönnen. Er betrachtete gerade zufrieden sein Werk, als eine schlimm humpelnde Lisa in sein Büro platzte.

»Herr Trachsel, es tut mir leid, dass ich einfach so bei Ihnen hereinschneie. Ich wollte heute ein bisschen früher Feierabend machen und noch bei Tageslicht eine Joggingrunde an der Aare drehen. Beim Hinausgehen bin ich unten an der Treppe gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht. Es tut höllisch weh«, mimte Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht den sterbenden Schwan. Sie spielte ihre Rolle perfekt.

»Dann wird es wohl nichts mit dem Rumrennen«, blaffte Trachsel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, wie sich jemand freiwillig mehrmals pro Woche bei Wind und Wetter durch die Gegend kämpfte.

»Sie sind doch quasi unser Arzt hier auf der Wache. Ihre Kollegen nennen Sie nicht ohne Grund Doktor Trachsel.« Er hatte zwar die obligatorischen Samariter- und Reanimationskurse besucht. Mehr aber nicht. Das Zertifikat für den Reanimationskurs hatte er sogar verpasst, da er beim Schlusstest die geforderten 80 Prozent an richtigen Antworten mit 47 Prozent knapp verfehlt hatte. Von Arzt konnte keine Rede sein. Von Medizinbanause hingegen schon.

»Ich soll der Dame also den Fuß untersuchen? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie eng der Terminplan eines Dezernatsleiters aussieht? Ich stelle fest, Sie haben keinen blassen Schimmer, unter welchem Druck ich tagtäglich hier den Laden am Leben erhalte.«

Die Arroganz von Trachsel erstaunte Lisa immer wieder von Neuem. Das Ausmaß an Selbstüberschätzung schien kaum mehr übertreffbar. Dennoch schaffte es Trachsel, sich diesbezüglich immer wieder auf eine neue unrühmliche Ebene zu hieven.

»Natürlich ist mir klar, wie viel Sie zu tun haben. Ich bin gerade ein bisschen verzweifelt, weil ich mit meinem verletzten Fuß nicht einmal Fahrrad fahren kann und nicht weiß, an wen ich mich wenden soll.« Diese Worte hauchte Lisa förmlich über Trachsels Pult, nicht ohne dabei ihre Reize ins beste Licht zu rücken. Für einen Moment konnte Lisa ein lüsternes Flackern in seinen Augen erkennen, und Trachsels Zunge strich kurz über seine Lippen.

Der Fisch hatte angebissen.

»Ich bin einfach zu hilfsbereit. Wenn ich Sie hier jetzt verarzte, heißt es für mich wieder Überstunden schieben. Aber kommen Sie schon, zeigen Sie Ihr Pfötchen mal her.«

Lisa humpelte zu seinem Schreibtisch und setzte sich direkt vor ihm auf den Tisch. Die plötzliche Nähe machte Trachsels Mund ganz trocken. Zufrieden stellte Lisa fest, dass bis jetzt alles nach Plan lief. Lisa hob nun leicht ihr rechtes Bein und hielt Trachsel ihren Fuß mit einem leidenden Blick direkt vor seine Nase. Trachsel seinerseits hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte – medizinisch gesehen. Diesen Verdacht hatte auch Lisa.

»Können Sie sich bitte meinen Knöchel und das Sprunggelenk ansehen. Sie werden mir dann sicherlich sagen können, was am besten zu tun ist.« Um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen berührte Lisa mit ihrer großen Zehe ganz kurz die Nasenspitze von Trachsel. Genau in dem Augenblick, als er aufstand, um sich den Fuß doch anzusehen, ließ sich Lisa rücklings auf den Schreibtisch fallen. Sie lag nun auf Trachsels Schreibtisch, das rechte Bein in Richtung Trachsel ausgestreckt.

 

»Herr Trachsel, bevor Sie mit der Untersuchung beginnen. Mir ist da gerade noch etwas anderes, Dringendes eingefallen. Morgen wird meine verstorbene Schwester auf der Rechtsmedizin eingesargt. Für mich wäre es sehr wichtig, dass ich sie noch einmal sehen und mich persönlich von ihr verabschieden kann. Ich habe diese Art, sich von einem Verstorbenen zu verabschieden, von meinen Eltern als Kind mitbekommen, und wir haben dies als Familie stets so gelebt. Meine Eltern konnten Siri heute Morgen nochmals sehen. Verstehen Sie mich?«

Trachsel konnte nicht. Trachsel war inzwischen auf Betriebstemperatur und hatte seine eigenen, völlig andersartigen Ziele.

»Können Sie mir eine entsprechende Bewilligung ausstellen, damit ich heute Abend oder morgen in der Früh nochmals zu meiner Schwester kann?«

Im Grunde hatte Trachsel ganz und gar keine Lust, Lisa dieses Schreiben auszustellen. Eigentlich wäre dies eine perfekte Chance, um mich bei dieser arroganten Dame, zumindest ein erstes Mal, für die erlittene Schmach zu revanchieren, sinnierte Trachsel.

Die Aussicht auf ein bevorstehendes Abenteuer, welches sich im Grunde pfannenfertig auf seinem Schreibtisch präsentierte, trübte Trachsels Sinne.

»Also gut, ich unterschreibe Ihnen den Wisch. Das ist aber eine einmalige Ausnahme, die Sie ausschließlich meiner Gutmütigkeit und meinem Altruismus zu verdanken haben.«

Lisa konnte ihr Glück kaum fassen. Sie war am Ziel. Fast.

»Zuerst schauen wir uns aber das verletzte Füßchen an«, zwitscherte Trachsel und schnappte sich Lisas rechten Fuß. Bevor sich Trachsel weiter mit Lisas Bein beschäftigen konnte, war diese mit einem lauten Schmerzensschrei wie ein unter Spannung stehender Bogen aufgeschnellt und stand jetzt mit leidendem Blick direkt vor Trachsel.

»Himmelherrgott, wie soll ich Sie so untersuchen? Sie müssen schon ein bisschen stillhalten«, wetterte Trachsel.

»Es tut mir leid, aber der Fuß schmerzt schrecklich«, versuchte ihn Lisa zu beruhigen. Langsam begann sich bei ihr Panik breitzumachen. Sie hatte sich in eine ausweglose Situation geritten. Die Aussicht, was in den nächsten Minuten folgen konnte, wollte sich Lisa nicht weiter ausmalen. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft.

Trachsel setzte zu einem nächsten Untersuchungsversuch an. Er stieß die überraschte Lisa gleichzeitig an beide Schultern, sodass diese nach hinten auf die Schreibtischplatte kippte und dort unsanft mit dem Kopf aufschlug. Trachsel schien dies nicht zu bemerken, und wenn, dann ignorierte er es. Er war wie ein wilder Stier nur noch mit sich und seinen Trieben beschäftigt. Er nestelte ungelenk an seinem Polizeigurt. Exakt in dem Moment, als Trachsels Diensthose auf den sauber gescheuerten Linoleumboden hinunterrauschte, tauchte Zigerlis Kopf im Türrahmen von Trachsels Büro auf. Ihm bot sich ein filmreifes Bild. Eine attraktive Brünette in einem sexy Sportdress lag auf dem Rücken auf einem Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Polizist in Diensthemd und Unterhosen, welcher gerade im Begriff war, über seine heruntergelassenen Hosen zu stolpern.

»Entschuldigung, Herr Trachsel. Ich wollte Sie bloß kurz fragen, ob der Termin für mein Mitarbeitergespräch mit Ihnen morgen um 9 Uhr für Sie passt. Sie haben mir den Termin nämlich noch nicht bestätigt.« Ein besserer Vorwand war Zigerli nicht eingefallen.

»Zigerli, Sie Vollidiot! Raus aus meinem Büro! Raus!« Es herrschte plötzlich dicke Luft.

Unter entschuldigendem Gemurmel verschwand Zigerli so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Lisa war inzwischen wieder vom Tisch aufgestanden. Ihr brummte noch leicht der Kopf, aber sie war unendlich froh über Zigerlis Kurzbesuch. Weshalb Zigerli genau im richtigen Moment als Erlöser auftauchte, war Lisa ein Rätsel, einen Verdacht hatte sie allerdings. Egal.

Trachsel hatte seine Kleidung in der Zwischenzeit wieder den Dienstvorschriften angepasst – zumindest beinahe. Außer dem Zipfel seines hellblauen Diensthemdes, welcher keck aus dem noch immer offenen Hosenladen lugte, saß die Dienstmontur perfekt. Seine Abenteuerlust hingegen war am Boden.

Statt ein erfolgreicher Racheengel, war er wieder der Blödmann. Es ging jetzt nur noch darum, ohne weiteren Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen. Einer seiner brillanten Einfälle würde ihn retten. Es kam aber kein Einfall – zumindest nicht von ihm.

»Herr Trachsel, wenn Sie mir jetzt gleich die Bewilligung für die Rechtsmedizin ausstellen, bin ich in zwei Minuten weg und habe alles Geschehene für immer vergessen. Ich werde Thomas Zigerli bitten, mich in den Notfall eines der Berner Spitäler zu fahren.«

»Und wenn Sie es sich morgen doch anders überlegen?«, entgegnete der zweifelnde Trachsel.

»Bewilligung mit Unterschrift oder Anzeige wegen … Sie wissen was ich meine. Das ist mein Deal. Unverhandelbar.«

Keine zehn Minuten später tauchte Lisa, frisch umgezogen, in Zigerlis Büro mit Sporttasche und unterschriebener Bewilligung für die Rechtsmedizin auf.

»Thomas, kannst du mich sofort zur Rechtsmedizin fahren? In etwas mehr als einer Stunde machen die den Laden dicht. Ich muss um alles in der Welt vorher die Leiche meiner Schwester noch einmal sehen.«

»Die Worte Danke und Bitte scheinst du nicht zu kennen. Ich habe dir doch gesagt, dass es mit der Bewilligung bei Trachsel nie klappen wird«, entgegnete Zigerli leicht verschnupft.

»Habe ich die Bewilligung oder habe ich sie nicht?«, konterte Lisa gereizt.

»Wenn ich nicht mein Leben riskiert hätte, hättest du …«

»Ist ja gut, ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte sein können, wenn du nicht den Termin für dein Mitarbeitergespräch vorhin mit Trachsel geklärt hättest. Danke, Thomas. Du warst echt ein Engel. Lass uns nun aber aufbrechen, wir können die Zeit in der Rechtsmedizin besser nützen, als uns hier zu streiten.«

Die übel gelaunte Dame an der Loge am Institut für Rechtsmedizin warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesuch. Dienststempel und Unterschrift von Kommissar Trachsel wurden gar nicht geprüft. Kurz ging Lisa durch den Kopf, dass sie sich den ganzen Zirkus hätte sparen können. Aber wer konnte schon wissen, dass mittlerweile auch in der Behördenstadt Bern einige Beamte eine ziemlich lasche Arbeitsmoral an den Tag legten.

Am Institut für Rechtsmedizin in Bern gab es acht Abteilungen. Die sterblichen Überreste von Siri befanden sich auf der Abteilung für forensische Medizin und Bildgebung. Mittlerweile war es bereits fast 16.30 Uhr. Lisa hoffte, dass die Mitarbeiter auf der forensischen Medizin eine bessere Arbeitsdisziplin zeigten als ihre Kollegin an der Loge. Die nüchternen Buchstaben »Forensische Medizin und Bildgebung« an der gelblich-braun verfärbten Glastür passten zu den hier stattfindenden Tätigkeiten. Obduktionen, histopathologische Untersuchungen, aber auch Abklärungen mit modernster Technik wie zum Beispiel die Dokumentation von Körper- und Objektbefunden mittels 3D optischem Oberflächenscanning oder Computertomographie. Zigerli lief ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre er einfach abgehauen. Lisa schien seine Gedanken zu lesen.

»Komm, Thomas, lass uns endlich reingehen.«

Lisa drückte die Klinke der Abteilungstür und betete, dass sie nicht bereits verschlossen war. Die Tür war noch offen. Lisa und Zigerli schlüpften in den armselig beleuchteten Gang und hofften, auf einen Mitarbeitenden der Abteilung zu treffen. Weit und breit niemand. Totenstille.