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2. Kontrollformen und Kontrolldichte

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Die Präferenz der Verfassung von 1975 für das System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes ist einfach und unzweideutig: Sie will besondere und speziell ausgerüstete unabhängige Gerichte, welche die Lösung der Gesamtheit der Verwaltungsstreitigkeiten übernehmen, damit sie die subjektiven Rechte und rechtlichen Interessen der Bürger effektiv schützen und die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns wirksam kontrollieren.[238] Die früher traditionell vertretene Auffassung, dass der hauptsächliche Zweck des verwaltungsrechtlichen Prozesses die Wiederherstellung der objektiven Rechtmäßigkeit der Verwaltung aus Anlass der durch den eingelegten Rechtsbehelf ausgelösten Kontrolle des Verwaltungshandelns sei, findet keine Stütze im geltenden Recht. Dagegen sprechen schon u.a. das Erfordernis eines rechtlichen Interesses des rechtsuchenden Bürgers als besondere Zulässigkeitsvoraussetzung des jeweils einschlägigen Rechtsbehelfs,[239] die Unzulässigkeit des letzteren im Fall der Annahme des angefochtenen Verwaltungsaktes durch den Antragsteller oder Beschwerdeführer[240] und nicht zuletzt die Möglichkeit der Prozessparteien, unter bestimmten Voraussetzungen, einseitig oder gemeinschaftlich den Prozess zu beenden.[241] Diese prozessrechtlichen Bestimmungen setzen eine persönliche Verbindung des Betroffenen mit dem Prozessgegenstand voraus und unterstreichen den Charakter auch des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens als den eines Verfahrens zur Gewährung von individuellem Gerichtsschutz.[242] Der Bürger muss sich nicht mehr bloß mit der Behauptung begnügen, dass das objektive öffentliche Recht direkt oder indirekt durch die Verwaltung verletzt wurde und dass er ein rechtliches Interesse an der Beseitigung der Rechtsverletzung und mithin an der Aufhebung der angefochtenen Verwaltungshandlung habe. Er kann vielmehr unmittelbar geltend machen, dass seine eigenen subjektiven Rechte und rechtlichen Interessen durch die rechtswidrige Verwaltungshandlung verletzt wurden und gerichtlich geschützt werden müssen. Gewiss dient der Verwaltungsprozess auch der objektiven Durchsetzung der Recht- und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und fördert unmittelbar die materielle Gerechtigkeit, die Rechtssicherheit, den sozialen Frieden und schließlich das öffentliche Interesse. Aber sein vorrangiges und hauptsächliches Ziel ist die Gewährung des verfassungsrechtlich gebotenen vollständigen und effektiven Gerichtsschutzes, der durch Art. 20 Abs. 1 Verf. in erster Linie individuell und deutlich subjektiv auszugestalten ist.[243] Das belegt auch die verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Zulässigkeit und der Begründetheit des eingelegten Rechtsbehelfs.

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Das zuständige Verwaltungsgericht überprüft die Begründetheit des eingelegten Rechtsbehelfs, nur wenn er zulässig ist.[244] Die Zulässigkeits- oder Sachentscheidungsvoraussetzungen (προϋποθέσεις παραδεκτού bzw. προϋποθέσεις ουσιαστικής αποφάσεως), die von Amts wegen zu untersuchen sind, beziehen sich entweder auf alle wichtigsten verwaltungsrechtlichen Prozesse oder speziell auf den jeweils einschlägigen Rechtsbehelf. Die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen betreffen das Bestehen der griechischen Gerichtsbarkeit, die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs, die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts, die Beteiligten- und Prozessfähigkeit der Verfahrensbeteiligten, die Legitimation des Prozessvertreters, die ordnungsgemäße Einlegung des Rechtsbehelfs, das Fehlen einer anderweitigen Rechtshängigkeit und das Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung in der gleichen Sache. Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen der beiden zentralen verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfe, also des Aufhebungsantrags bei Aufhebungsstreitigkeiten und der Beschwerde bei materiellen Streitigkeiten, sind darüber hinaus (scil. neben den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen) die Natur des angegriffenen Aktes, das Rechtsschutzbedürfnis bzw. die Klagebefugnis, die vorherige erfolglose Einlegung eines gegebenenfalls vorgesehenen förmlichen Widerspruchs und die Einhaltung der grundsätzlich 60tägigen Anfechtungsfrist. Im Einzelnen richten sich der Aufhebungsantrag und die Beschwerde zulässigerweise nur gegen „vollstreckbare Akte der Verwaltungsbehörden und der juristischen Personen des öffentlichen Rechts“.[245] Darunter sind, wie bereits erläutert, nur (einseitige) „administrative Akte“ im technischen Sinne zu verstehen, und zwar nach der griechischen Handlungsformenlehre individuelle und (ausschließlich vor dem Staatsrat) normative Verwaltungsakte, einschließlich Allgemein- bzw. Sammelverfügungen. Als „vollstreckbarer Akt“ gilt auch der aus der Untätigkeit einer Behörde im Wege der Fiktion nach Ablauf einer Frist von grundsätzlich drei Monaten resultierende negative individuelle Verwaltungsakt. Pläne der Verwaltung, wie sie vor allem im Bauplanungs-, Umweltschutz- und Wirtschaftsverwaltungsrecht häufig vorkommen, können ebenfalls mit dem Aufhebungsantrag vor dem Staatsrat angegriffen werden, soweit sie den Charakter eines administrativen Rechtssatzes (Rechtsverordnung oder Satzung) aufweisen. Anders als der Aufhebungsantrag kann aber die Beschwerde bei materiellen Streitigkeiten nicht gegen alle, sondern nur gegen jene individuellen Verwaltungsakte gerichtet werden, bei denen das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. Gegen individuelle Verwaltungsakte ist somit der Aufhebungsantrag der allgemeine und die Beschwerde der spezielle Rechtsbehelf. Zwei „universelle“ Rechtsbehelfe gegen individuelle Verwaltungsakte könnten im Übrigen logischerweise auch nicht existieren. Beschwerde kann folglich nur in den Fällen eingelegt werden, die die Verfassung oder das Gesetz ausdrücklich der (über die Aufhebungskontrolle hinausgehenden) materiellen Kontrolle der zuständigen Verwaltungsgerichte unterstellt hat.[246]

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Klagebefugt ist nur „derjenige, den der Verwaltungsakt betrifft oder dessen rechtliche Interessen, auch immaterieller Art, durch ihn verletzt werden“.[247] Damit also ein Aufhebungsantrag oder eine Beschwerde zulässig ist, muss der Antragsteller oder Beschwerdeführer entweder Adressat des angefochtenen Verwaltungsaktes sein oder plausibel geltend machen, dass er durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen eigenen rechtlichen Interessen verletzt wird – die sogenannte „Popularklage“ (actio popularis) ist nicht gestattet. Ein rechtliches Interesse (έννομο συμφέρον) liegt insbesondere vor, wenn es nicht gegen das geltende objektive Recht verstößt und von diesem darüber hinaus als rechtsschutzwürdig und rechtsschutzbedürftig anerkannt wird. Das trifft auf die subjektiven öffentlichen Rechte, die durch das Gesetz oder einen verwaltungsrechtlichen Vertrag eingeräumt werden, immer zu. Geschieht dies nicht ausdrücklich, so muss das subjektive öffentliche Recht auf einem Rechtssatz beruhen, der nicht hauptsächlich dem öffentlichen Interesse, sondern zumindest auch den rechtlichen Interessen des Klägers zu dienen bestimmt ist („Schutznormlehre“). Als solche werden auch die sogenannten „Reflexrechte“ oder, richtiger, „Rechtsreflexe“ angesehen, d.h. die günstigen Auswirkungen von objektiven Rechtssätzen, die Verpflichtungen der Verwaltung begründen, auf die subjektive Rechtsstellung bestimmter Privatpersonen.[248] So hat z.B. der Bürger ein rechtliches Interesse an der Einhaltung der Rechtsnormen über den Umweltschutz oder den Städtebau, die der Verwaltung eine Reihe von Pflichten auferlegen, ohne dass diese dem Bürger subjektive öffentliche Rechte gewähren, deren Einhaltung aber einen ihm günstigen Zustand schafft oder sichert.[249] Schutzwürdig ist außerdem das Interesse an der Einhaltung der äußersten Grenzen des Verwaltungsermessens, wenn es von denjenigen Personen geltend gemacht wird, auf die eine bestimmte Auswahlentscheidung der Verwaltung negative oder positive Auswirkungen hat. Es handelt sich dabei um Personen, die an einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren oder einem Staatsexamen teilnehmen, Kandidaten bzw. Mitbewerber für eine öffentliche Stelle oder geschäftliche Konkurrenten sind usw.[250]

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Das rechtliche Interesse wird ferner von der Rechtsordnung als rechtsschutzwürdig und rechtsschutzbedürftig anerkannt, wenn es persönlich, unmittelbar und gegenwärtig ist. Persönlich oder individuell ist erstens das Interesse, das dem Kläger aus einer besonderen Rechtsbeziehung erwächst, die ihn aus der Allgemeinheit heraushebt. Die allgemeine Eigenschaft als Bürger, Steuerzahler, Fußgänger oder Autofahrer genügt nicht für die Anfechtung einer rechtswidrigen Verwaltungshandlung. Andererseits muss das Interesse nicht unbedingt nur auf Seiten des Klägers liegen. Es reicht aus, wenn das geltend gemachte Interesse einem bestimmten Kreis von Personen gemeinsam ist, zu dem auch der Kläger gehört, wenn diese durch geographische, wirtschaftliche oder kulturelle Gemeinsamkeiten miteinander verbunden sind, wie z.B. die Personen, die in einer Stadt wohnen, einem Verein oder einer Gesellschaft angehören, einen Beruf ausüben usw. Das rechtliche Interesse ist zweitens unmittelbar, wenn es dem Kläger direkt und nicht etwa einem Dritten und ihm nur mittelbar zusteht, wie z.B. einem Gläubiger des Berechtigten. Ausnahmen sind nur dort zulässig, wo das Gesetz solche ausdrücklich vorsieht, wie z.B. Art. 71 Abs. 3 Verwaltungsprozessordnung. Danach „können auch die Gläubiger der klagebefugten Personen Klage erheben, wenn diese sie nicht einlegen, es sei denn, dass es sich um personenbezogene Ansprüche handelt“. Durch diese sogenannte „indirekte Klage“ (πλαγιαστική αγωγή) übt der Gläubiger die Rechte seines Schuldners aus und verlangt, dass dem Schuldner Schadensersatz oder andere Geldleistungen zugebilligt werden, um anschließend die eigenen Ansprüche gegen seinen Schuldner durchzusetzen. Das rechtliche Interesse ist drittens gegenwärtig, wenn es schon zur Zeit der Ausübung des Rechtsbehelfs vorhanden ist oder wenn ihm in unmittelbarer Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit eine Gefahr droht. Ein solches Interesse muss dabei kumulativ zu drei verschiedenen Zeitpunkten vorliegen: beim Erlass des angegriffenen Verwaltungsaktes, bei der Einlegung des Rechtsbehelfs und bei der Verhandlung bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung. Im Übrigen ist es nicht erforderlich, dass das rechtliche Interesse vermögensrechtlicher Natur ist; es kann auch immaterieller Art sein.[251] Das ist besonders bei juristischen Personen und speziell bei Personenvereinigungen (Körperschaften, Vereinen, Verbänden usw.) der Fall. Dabei begründet nach der etwas großzügigen Rechtsprechung des Staatsrates nahezu jeder Zweck einer Personenvereinigung ein rechtliches Interesse, wenn er von ihrer Satzung oder dem Gesetz vorgesehen ist. Richtiger ist aber wohl anzunehmen, dass ein von der Satzung oder dem Gesetz vorgesehener Zweck einer juristischen Person oder Personenvereinigung ein rechtliches Interesse nur begründet, wenn es zugleich ein persönliches Interesse der Gesamtheit oder zumindest der Mehrheit ihrer Mitglieder in der Eigenschaft ist, in der sie der juristischen Person oder Personenvereinigung angehören. Bei materiellen Streitigkeiten wird schließlich das rechtliche Interesse viel enger als das zur Erhebung des Aufhebungsantrags erforderliche Interesse aufgefasst. Das Recht auf Einlegung der Beschwerde steht somit nur den Personen zu, die unmittelbar durch den angefochtenen Verwaltungsakt belastet werden oder denen das Beschwerderecht durch eine besondere Gesetzesvorschrift ausdrücklich eingeräumt wird (contentieux des droits).[252]

 

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Liegen die allgemeinen und besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen vor, so hängen Umfang und Intensität der verwaltungsgerichtlichen Rechtskontrolle formell zwar von der Einordnung als „Aufhebungsstreitigkeit“ oder als „materielle Streitigkeit“, aber innerhalb jeder einzelnen Kategorie weitgehend vom materiellen Recht ab.[253] Denn der eingelegte Rechtsbehelf ist „rechtlich begründet“, oder einfach „begründet“, wenn die behauptete Rechtsverletzung tatsächlich vorliegt. In diesem Fall ist dem Rechtsbehelf stattzugeben und die angefochtene Verwaltungshandlung oder Unterlassung aufzuheben. In Wirklichkeit besteht also nur ein Aufhebungsgrund: die Rechtsverletzung. Die Entwicklung des Aufhebungsantrags in Frankreich durch die Rechtsprechung des Conseil d’État hat jedoch vier Aufhebungsgründe (motives, ouvertures) hervorgebracht, die der griechische Gesetzgeber bei Aufhebungsstreitigkeiten wörtlich übernommen hat, wenn auch wiederum ohne die historische Rechtfertigung. Das sind: a) die Unzuständigkeit der erlassenden Behörde (incompétence), b) der Verstoß gegen ein wesentliches Form- und Verfahrenserfordernis (vice de forme et de procédure, irrégularité substantielle), c) der materielle Gesetzesverstoß (violation de la loi) und d) der Gewalt- oder Befugnismissbrauch (détournement de pouvoir).[254] Mit Ausnahme der Beschränkung auf „wesentliche“ Form- und Verfahrensvorschriften stellen alle diese Aufhebungsgründe dennoch nur verschiedene Seiten des einheitlichen Aufhebungsgrundes der Rechtsverletzung, d.h. des Verstoßes gegen objektives öffentliches Recht, dar. Auch die Verfassung scheint die Aufhebungsgründe auf die „Befugnisüberschreitung“ und die „Gesetzesverletzung“ zu beschränken.[255] Trotz der zum Teil unterschiedlichen Terminologie handelt es sich auch hier um Aspekte der Rechtsverletzung bzw. der Rechtswidrigkeit im oben genannten Sinne.

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Obwohl die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns eigentlich nur anhand von materiellrechtlichen Maßstäben und Kriterien beurteilt werden kann, erlauben jedenfalls diese vier prozessrechtlichen Aufhebungsgründe (λόγοι ακυρώσεως) eine vollständige gerichtliche Überprüfung des Vorliegens der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des angefochtenen Verwaltungsaktes in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen vollständiger und beschränkter gerichtlicher Kontrolle hat sich ebenso wenig herausgebildet wie unterschiedliche Ebenen der Kontrolldichte zwischen minimaler, normaler und maximaler Kontrollintensität. Anders aber als bei den Zulässigkeitsvoraussetzungen, die in ihrer Gesamtheit vorliegen müssen und alle im Zweifelsfall von Amts wegen zu untersuchen sind, reicht schon das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes aus, damit der eingelegte Rechtsbehelf begründet ist; die Untersuchung des Vorliegens der weiteren erübrigt sich – trotz des im Verwaltungsprozess geltenden Untersuchungsgrundsatzes.[256] Dabei werden zunächst die Aufhebungsgründe untersucht, deren Vorliegen das Gericht aufgrund ihrer Bedeutung für das öffentliche Interesse (λόγοι δημόσιας τάξεως, moyens d’ordre public) immer von sich aus zu untersuchen pflegt, und alsdann diejenigen, auf die sich der Antragsteller oder Beschwerdeführer selbst berufen hat. Ersteres gilt vor allem für den ersten Aufhebungsgrund der Unzuständigkeit der erlassenden Behörde, im Rahmen dessen übrigens auch die Einhaltung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes kontrolliert wird. Denn ein Verwaltungsakt, der von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde, sei nicht etwa wegen Gesetzesverletzung, sondern wegen Befugnisüberschreitung im engeren Sinn rechtsfehlerhaft, weil nicht die erlassende Behörde bzw. eine Verwaltungsbehörde für seinen Erlass zuständig sei und folglich der Verwaltungsakt ohne eine gültige Rechtsgrundlage erlassen wurde.[257]

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Ein weiterer von Amts wegen zu berücksichtigender Aufhebungsgrund ist bei Rechtsverordnungen, die in der Form der Präsidialverordnung ergehen, die präventive Ausarbeitung durch den Staatsrat gemäß Art. 95 Abs. 1 Buchstabe d Verf. Fehlt es daran, führt dies zur gerichtlichen Aufhebung der fristgemäß angefochtenen Rechtsverordnung wegen Verstoßes gegen ein wesentliches Formerfordernis. Einen solchen Grund externer oder formeller Rechtswidrigkeit stellt bei individuellen Verwaltungsakten insbesondere die Unterlassung der gesetzlich ausdrücklich gebotenen Begründung oder der vorherigen Anhörung des Betroffenen dar.[258] Die Einhaltung der Anhörungspflicht wird allerdings vom Gericht nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag des Betroffenen untersucht. Da dieser aber nicht beweisen kann, dass die Anhörung nicht stattgefunden hat, obliegt es weitgehend der Verwaltung nachzuweisen, dass sie tatsächlich erfolgt ist. Auf Mängel der aus der Natur des Aktes heraus resultierenden Begründung muss sich der Antragsteller ebenfalls selbst berufen. Wenn freilich die vorhandene und formell hinreichende Begründung in materiellrechtlicher Hinsicht fehlerhaft, d.h. falsch oder irrtümlich ist, dann handelt es sich um eine unrichtige Gesetzesauslegung oder um einen sogenannten „Sachverhalts-“ bzw. „Tatsachenirrtum“ (πλάνη περί τα πράγματα, erreur des motifs de fait), der zur fehlerhaften Anwendung des Gesetzes geführt hat. In beiden Fällen liegt nun ein materieller Gesetzesverstoß vor, der nach dem Gesetz einen eigenständigen Aufhebungsgrund darstellt. Im Übrigen ist die Qualifizierung einer Form- oder Verfahrensvorschrift als „unwesentlich“ nach der richtigen Rechtsprechung des Staatsrates eher die Ausnahme: In der Regel müssen ja die Form- und Verfahrensvorschriften eingehalten werden. Sie sind daher prinzipiell als „wesentlich“ anzusehen, und ihre Nichteinhaltung oder Verletzung führt zur Aufhebung des formell rechtswidrigen Verwaltungsaktes.

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Der materielle Gesetzesverstoß ist der dritte und umfangreichste Aufhebungsgrund, durch den im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle die Einhaltung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gesichert wird. In Betracht kommen alle einschlägigen Rechtssätze, und zwar nicht nur die formellen, sondern auch die materiellen Gesetze und überhaupt jede Rechtsnorm des öffentlichen Rechts außer den Zuständigkeitsregeln und den Form- und Verfahrensvorschriften, die den anderen zwei Aufhebungsgründen vorbehalten bleiben. Diese sind in den verschiedenen Rechtsquellen wie der Verfassung, den parlamentarischen Gesetzen, den gesetzgeberischen Akten des Staatspräsidenten, den Rechtsverordnungen, dem Gewohnheitsrecht und den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts enthalten. Bei Unterlassung einer gesetzlich gebotenen Handlung besteht der Aufhebungsgrund in der Verletzung der Rechtsvorschriften, die die zuständige Verwaltungsbehörde zum Erlass des Verwaltungsaktes verpflichten. Ermessens- und Abwägungsfehler sind Rechtsfehler und fallen ebenso unter den Aufhebungsgrund der materiellen Gesetzesverletzung. Als Ermessen (διακριτική ευχέρεια, pouvoir discrétionnaire) wird allerdings nicht nur das Rechtsfolgenermessen angesehen, wenn also das Gesetz der Verwaltung die rechtliche Wahlmöglichkeit zwischen mehreren gleichermaßen rechtmäßigen Lösungen einräumt, sondern (anders als nach deutschem Recht) auch, wenn das Gesetz unbestimmte Wertbegriffe wie z.B. Allgemeinwohl, öffentliches Interesse, öffentliche Sicherheit und Ordnung, sozialer Frieden, soziales oder städtebauliches Bedürfnis, Störung des sozialwirtschaftlichen Lebens, sachliche Übertragung von Nachrichten und Informationen usw. – alles Begriffe, die in der Verfassung zu finden sind – verwendet. Das Gleiche gilt, wenn das Gesetz die Verwaltung ermächtigt, die „notwendigen“, „erforderlichen“ oder „geeigneten Maßnahmen“ zu treffen. Die Konkretisierung dieser unbestimmten Gesetzesbegriffe kann nicht nur mit den Regeln und Methoden der rechtlichen Auslegung oder mit Hilfe von Erfahrung bewältigt werden. Sie bedarf vielmehr einer gewissen Wertung, d.h. der Orientierung und Einordnung nach bestimmten Werten, die das Recht zwar anerkennt, aber nicht erst schafft. Folglich räumen auch diese Rechtsbegriffe nach herrschender Meinung in der griechischen Rechtsprechung und Lehre ebenfalls Ermessen ein.[259]

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Die verwaltungsgerichtliche Aufhebungskontrolle besteht im Grunde in der Überprüfung der Vereinbarkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit dem Rechtsregime, das seinen Erlass bestimmt. Sie beinhaltet insbesondere bei gebundenen Verwaltungsentscheidungen folgende Punkte: a) ob das Verwaltungsorgan die Rechtsnorm, die tatsächlich den vorliegenden Fall regelt, und nicht eine andere angewandt und diese richtig ausgelegt hat, b) ob bei der Feststellung des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale der anzuwendenden Rechtsnorm die Verwaltung keinem „Sachverhalts-“ oder „Tatsachenirrtum“ unterlegen ist, und c) ob die getroffene Entscheidung das richtige Ergebnis der Subsumtion der festgestellten tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen unter die einschlägige Rechtsnorm ist. Das Gericht muss also grundsätzlich die gesamte Rechtsanwendung der Verwaltung selbst in Begriffsauslegung, Tatsachenfeststellung und Subsumtion noch einmal nachvollziehen. Das bedeutet nichts anderes als eine vollständige Rechtsanwendungskontrolle im Sinne des Dogmas des deutschen Verwaltungsprozessrechts von der vollständigen gerichtlichen Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht.[260] Auf der anderen Seite beinhaltet die Aufhebungskontrolle bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung folgende Fragen: a) ob das Gesetz der Verwaltung tatsächlich Ermessen eingeräumt hat, b) ob die Verwaltung von ihrem Ermessen tatsächlich Gebrauch gemacht hat (Ermessensunterschreitung), c) ob der Verwaltung ein Ermessensmissbrauch vorzuwerfen ist, weil sie vom Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung widersprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, und d) ob die Verwaltung die äußersten Grenzen des Ermessens eingehalten hat, d.h. mit anderen Worten vor allem, ob eine Ermessensüberschreitung bzw. ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Bei Rechtsverordnungen besteht schließlich die Aufhebungskontrolle hauptsächlich in der Überprüfung, ob sich der erlassene administrative Rechtssatz innerhalb der Rechtsetzungsbefugnis der Verwaltung bewegt, so wie diese sich aus der Verfassung oder aus der speziellen oder generellen gesetzlichen Ermächtigung ergibt. Die Angemessenheit und Zweckmäßigkeit der administrativen Norm unterliegt dagegen nicht der gerichtlichen Kontrolle.

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Die gerichtliche Ermessenskontrolle betrifft ihrerseits nicht nur die Einhaltung der konkreten Grenzen, die das jeweils einschlägige materielle Gesetz der Verwaltung bei der Einräumung des Ermessens auferlegt hat, sondern auch die der äußersten Schranken, die sich unmittelbar aus der Verfassung oder aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts ergeben. Das sind neben einer Reihe von besonderen rechtsstaatlichen Prinzipien vor allem der Grundsatz des Vorrangs des öffentlichen Interesses, der Grundsatz der guten Verwaltung, der Grundsatz der Unparteilichkeit der Verwaltung, der Grundsatz von Treu und Glauben, der Billigkeitsgrundsatz, der Gleichheitssatz, das estoppel-Dogma, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium), das Vertrauensschutzprinzip und nicht zuletzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.[261] Insbesondere der letztere gebietet, dass zwischen der konkreten Verwaltungsmaßnahme und dem beabsichtigten rechtmäßigen Zweck ein angemessenes Verhältnis besteht. Dieses besteht nur dann, wenn die getroffene Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet ist (Geeignetheit), für den Bürger und die Öffentlichkeit nach Intensität, Dauer und Ausmaß die geringstmöglichen Nachteile mit sich bringt (Erforderlichkeit) und schließlich die Nachteile die Vorteile nicht überwiegen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne einer Nutzen-Schaden-Bilanz).[262] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (αρχή της αναλογικότητας) ist im griechischen Recht von der Rechtsprechung des Staatsrates seit den 1980er-Jahren als ein aus der Rechtsstaatlichkeit unmittelbar abgeleitetes Verfassungsprinzip anerkannt und wird nunmehr nach der Revision von 2001 in Art. 25 Abs. 1 Verf. ausdrücklich proklamiert. Die Verhältnismäßigkeit geht jedenfalls als Kontrollmaßstab über die Prüfung der reinen Ermessenswillkür weit hinaus und führt oft zu einer recht intensiven gerichtlichen Kontrolle auch des Verwaltungsermessens.

 

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Eng mit den vorhergehenden Fragen hängt der vierte und letzte Aufhebungsgrund des Gewalt- oder Befugnismissbrauchs (κατάχρηση εξουσίας) zusammen, der eigentlich, wie angedeutet, nur beim Vorliegen von Ermessen möglich ist und daher auch als Ermessensmissbrauch bezeichnet wird. Ein „Gewaltmissbrauch“ liegt nach der Legaldefinition des Staatsratsgesetzes[263] vor, wenn vom Ermessen zu einem offenkundig anderen Zweck als zu demjenigen Gebrauch gemacht wird, zu dem das Gesetz der Verwaltung dieses eingeräumt hat. Der Gewaltmissbrauch im angegebenen Sinne ist jedoch nach der undifferenzierten Rechtsprechung des Staatsrates auch nicht beim Erlass von Rechtsverordnungen denkbar, weil es sich in Wirklichkeit in diesen Fällen eher um eine Überschreitung der durch die Verfassung oder das Gesetz eingeräumten Normsetzungsbefugnis der Verwaltung und nicht um einen Gewaltmissbrauch handele. Das ist schon ein Indiz dafür, wie strikt die Rechtsprechung diesen Aufhebungsgrund behandelt. Sie verlangt insbesondere, dass der Antragsteller den von der Verwaltung beabsichtigten anderen Zweck im Vorverfahren bereits benennen und durch Schriftstücke auch beweisen kann. Hinzu kommt, dass die Ermessensschranken, die sich aus dem Begriff des Gewaltmissbrauchs ergeben, rein negativer Art sind: Sie bestimmen lediglich, was die Verwaltung zu meiden hat, und nicht etwa, wie die anderen Ermessensschranken von Treu und Glauben, der Gleichheit, der guten Verwaltung oder der Verhältnismäßigkeit, was sie tun muss. Die allgemeine Tendenz läuft darauf hinaus, dem Aufhebungsgrund des Gewaltmissbrauchs, auf den sich Antragsteller übrigens in der Praxis sehr oft leichthin berufen, nur eine Randbedeutung beizumessen und ihn in der Regel zurückzuweisen, es sei denn, dass sie die offenkundig vorsätzliche Verfolgung eines bestimmten Zwecks von Seiten der Behörde aufzeigen können, der mit dem Gesetz nicht übereinstimmt.

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Bei materiellen Streitigkeiten wird die Beschwerde darüber hinaus vom Gericht nicht nur „rechtlich“, wie der Aufhebungsantrag, sondern auch „materiell“ nachgeprüft,[264] d.h. nicht nur hinsichtlich der Rechtmäßigkeit (scil. des Vorliegens einer hinreichenden Rechtsgrundlage und der richtigen Anwendung des Gesetzes), sondern auch hinsichtlich der materiellen Richtigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes. Die eingelegte Beschwerde kann folglich entweder „rechtlich“ oder „materiell begründet“ sein.[265] Kontrolliert werden also auch die Richtigkeit der materiellen Beurteilung der festgestellten Tatsachen sowie die Ermessensüberschreitung bzw. der Ermessensfehlgebrauch, auf die die Aufhebungskontrolle ursprünglich eigentlich nicht einging. So wird im Falle etwa der Anfechtung einer Disziplinarentscheidung der Verwaltung nicht nur überprüft, ob diese auf einer richtigen Auslegung der betreffenden Bestimmungen des Disziplinarrechts beruht, sondern auch, ob der Beamte die Disziplinartat, derer er beschuldigt wird, tatsächlich so begangen hat und ob die verhängte Disziplinarstrafe angemessen oder übermäßig streng ist. Zur Feststellung und Bewertung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der anzuwendenden Rechtsnorm kann das Gericht neue Beweise erheben und von der Verwaltung Auskünfte verlangen, und auch der Beschwerdeführer kann sich auf andere Beweismittel berufen. Bei der Beurteilung in der Sache ist das Gericht allerdings (anders als bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit) an die „Grenzen“, d.h. die Anträge, der Beschwerde gebunden. Das Verwaltungsgericht kann zwar den angefochtenen Verwaltungsakt nicht nur aufheben, sondern auch abändern, z.B. die verhängte Disziplinarstrafe bzw. die festgesetzte Steuer oder Geldbuße herabsetzen. Während aber das Gericht den rechtlich fehlerhaften Verwaltungsakt ganz oder teilweise aufheben oder entsprechend abändern kann, zu Gunsten oder auch zu Lasten des Beschwerdeführers, ohne an dessen Anträge gebunden zu sein, kann es hingegen die materiell unrichtige Verwaltungsentscheidung nur innerhalb der „Grenzen“ der Beschwerde aufheben oder abändern und darf grundsätzlich die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nicht verschlechtern (Verbot der reformatio in peius).