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Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 76 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Griechenland › I. Einleitung und Prinzipien des Verwaltungsrechts

I. Einleitung und Prinzipien des Verwaltungsrechts

1. Prinzipien des griechischen Verwaltungsrechts

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Das weitgehend unkodifizierte griechische Verwaltungsrecht beruht auf einer Reihe von allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die vor allem von Seiten der Rechtsprechung entwickelt worden sind und sich nunmehr größtenteils unmittelbar aus der Verfassung ableiten lassen. Dabei handelt es sich in erster Linie um Grundsätze und Prinzipien, die den Begriff der Rechtswidrigkeit bzw. der Gesetzesverletzung konkretisieren und die Bindung der Verwaltung an den fundamentalen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtmäßigkeit ihres Handelns sichern. Diese sind u.a. das Demokratie-, das Rechtsstaats-, das Gewaltenteilungs- und das Gesetzmäßigkeitsprinzip, die Grundsätze der Unbefangenheit, der Unparteilichkeit, des Vorrangs des öffentlichen Interesses, der Grundsatz der guten Verwaltung, der Effektivität und Effizienz des Verwaltungshandelns, der Gleichheit, der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, die Begründungspflicht, das Anhörungs-, das Akteneinsichts- und das Beschwerderecht und nicht zuletzt das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz. Der Beitrag der Rechtsprechung des Staatsrates (Συμβούλιο της Επικρατείας) dazu ist besonders zu würdigen.

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Dieser Gerichtshof wurde (endgültig)[1] durch das G. 3713/1928 auf der Grundlage der Verfassungen von 1911 und 1927 errichtet und nahm seine Tätigkeit im Mai 1929 auf. Als ein oberstes Verwaltungsgericht, das nach wie vor insbesondere über „die Aufhebungsanträge gegen die vollstreckbaren Akte der Verwaltungsbehörden wegen Befugnisüberschreitung oder Gesetzesverletzung“ (vgl. Art. 95 Abs. 1 Buchstabe a Verf.) in erster und letzter Instanz entscheidet, hat der Staatsrat eine ebenso bemerkenswerte wie umfangreiche Verwaltungs- und Verfassungsrechtsprechung entwickelt, die viel zum Schutz des Bürgers vor rechtswidrigem Verwaltungshandeln sowie zur Verfeinerung und Verfestigung der Regeln und Dogmen des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts in materiellrechtlicher wie prozessrechtlicher Hinsicht beigetragen hat.[2] Der Staatsrat wurde dadurch zum Inbegriff des „Gerichts der Rechtmäßigkeit“ und war jahrzehntelang das wichtigste und zentrale Organ der Verwaltungsrechtspflege. Seine Vorrangstellung innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit bleibt auch in jüngerer Zeit trotz der Einführung allgemeiner Verwaltungsgerichte erster und zweiter Instanz weiterhin unangefochten. Die Rechtslehre, die sich bis dahin eher verwaltungswissenschaftlich und rechtsvergleichend mit Fragen der geeigneten Verwaltungssysteme, der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungspersonals beschäftigte, hat sich ihrerseits eingehend mit der reichhaltigen Rechtsprechung des Staatsrates auseinandergesetzt und sich in zahlreichen Studien in die allgemeinen Grundsätze und Prinzipien rechtmäßigen Verwaltungshandelns und in die Rechtsschutzmechanismen des Einzelnen gegen die staatliche Gewalt vertieft. Auf diese Weise hat sie auch einen wertvollen Beitrag zum Ausbau des überkommenen griechischen Verwaltungsrechts geleistet.[3]

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Das so entstandene zeitgenössische griechische Verwaltungsrecht ist zudem ein neu geschaffenes künstliches Recht, das einseitig und einheitlich unter völliger Verdrängung aller bis dahin existierenden einheimischen verwaltungsrechtlichen Institute unabhängig von ihren Wurzeln und ihrer Nützlichkeit zustande gekommen ist.[4] Das war nicht bloß eine blinde Reaktion auf die vorausgegangene, fast vier Jahrhunderte (1453–1821) lange türkische Sklaverei, sondern vielmehr eine Folge der bewussten und gezielten Übernahme von europäischen Instituten, die außerhalb der Grenzen des ehemaligen osmanischen Reiches vorherrschten. Diese erfolgte ganz im Sinne der griechischen Revolution von 1821, die unter dem nachhaltigen Einfluss der Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution stand. Dazu zählt vor allem das große Gesetzeswerk des Münchener Professors Georg Ludwig von Maurer, der Mitglied der dreigliedrigen Regentschaft war, die während der Minderjährigkeit des Wittelsbachers Otto von Bayern, des ersten Königs des wieder unabhängigen Griechenlands (1833), eingesetzt wurde.[5] Dieses Werk erstreckte sich auf das Gebiet des Zivil-, Prozess-, Straf- und Handelsrechts und umfasste auch die Staatsreform und die Verwaltungsorganisation nach dem zentralistischen napoleonischen Modell, das Bayern damals selbst übernommen hatte. Unmittelbar nach seiner Befreiung von der türkischen Herrschaft wurde Griechenland somit rechtlich von Grund auf „europäisiert“, und die Institutionen des modernen griechischen Staates waren von Anfang an europäischer Herkunft und haben ihren historischen Ursprung in Europa.[6]

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Neben der traditionell engen Verbundenheit der griechischen Rechtsordnung mit dem deutschen Rechtssystem hat also auch das französische Verwaltungsrecht – nicht zuletzt bedingt durch die Gründung des Staatsrates nach dem Vorbild des französischen Conseil d’État – einen relativ starken Einfluss auf die griechische Verwaltungsrechtsprechung und Lehre ausgeübt, der sich zunächst inoffiziell auch allgemein auf die französische geschichtliche Rechtsentwicklung bezog. Diese Eigentümlichkeiten waren jedoch der Geschichte Griechenlands und seiner Institutionen fremd und haben zu einer gewissen Isolierung des Verwaltungsrechts von den übrigen Rechtsdisziplinen geführt, welche die Entwicklung der griechischen Verwaltungsrechtswissenschaft lange Zeit gehemmt hat.[7] Auf der anderen Seite ist der genaue Inhalt der verwaltungsrechtlichen Institute in hohem Maße Ausdruck der nationalen Besonderheiten und der historischen Erfahrungen und Traditionen eines Volkes und Staates und seiner Rechtsentwicklung.[8] Insofern wurden in Griechenland traditionelle europäische Institute ohne ihre entwicklungsgeschichtlichen und landesspezifischen Eigentümlichkeiten eingeführt, und ihr Inhalt wurde daher nicht selten sehr simpel und stark vereinfacht verstanden und angewandt.[9] Das gilt besonders für das Gesetzmäßigkeitsprinzip, das dahingehend absolut interpretiert wurde, dass die Verwaltung jeweils nur das vornehmen darf, was ihr gesetzlich ausdrücklich gestattet ist, mit anderen Worten: Sie darf nicht alles tun, was nicht verboten ist, sondern lediglich das, was erlaubt ist.[10]

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Darüber hinaus ist das griechische Verwaltungsrecht durch seine starke Verfassungsgeprägtheit gekennzeichnet, der es seine (relative) Autonomie und Selbständigkeit verdankt. Denn das griechische Verwaltungsrecht ist – wie das deutsche nach 1945 – ebenfalls weitgehend „konkretisiertes Verfassungsrecht“[11] und bringt schließlich auch die nationale und historische Eigenart Griechenlands zum Ausdruck. So ist Griechenland nach der geltenden Verfassung von 1975, wie sie zuletzt durch den Beschluss vom 27.5.2008 des VIII. Verfassungsändernden Parlaments der Hellenen (geringfügig) geändert wurde,[12] eine „republikanische parlamentarische Demokratie (προεδρευόμενη κοινοβουλευτική δημοκρατία);[13] Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität (λαϊκή κυριαρχία); alle Gewalt geht vom Volke aus, besteht für das Volk und die Nation und wird ausgeübt, wie es die Verfassung vorschreibt“ (Art. 1 Verf.). Griechenland ist auch ein sozialer Rechtsstaat (κοινωνικό κράτος δικαίου), der die Rechte des Menschen als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet und alle Staatsorgane verpflichtet, deren ungehinderte und effektive Ausübung sicherzustellen (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 Verf.). Die Verfassung achtet und schützt die Würde des Menschen (Art. 2 Abs. 1 Verf.) und garantiert einen umfassenden Katalog von individuellen und sozialen Grundrechten, einschließlich des Rechts jeder Person auf gerichtlichen Rechtsschutz (Zweiter Teil, Art. 4–25 Verf.). Die Verfassung schreibt ferner die Gewaltenteilung, die Rechtsbindung aller Staatsgewalten, die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richter und die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung vor (Art. 20 Abs. 1, Art. 26, 49, 50 und 87–100 Verf.).

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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird insbesondere von der geltenden Verfassung nicht mehr getrennt, sondern zusammen mit den allgemeinen Bestimmungen über die rechtsprechende Gewalt (δικαστική εξουσία) geregelt.[14] Die betreffenden Verfassungsbestimmungen befinden sich im V. Abschnitt des Dritten Teils und beziehen sich auf die richterlichen Amtsträger und Gerichtsbeamten (Art. 87–92 Verf.) und auf die Organisation und Zuständigkeit der Gerichte (Art. 93–100 Verf.). Diese traditionell ausführlichen Bestimmungen erschöpfen indessen nicht den verfassungsrechtlichen Status der rechtsprechenden Gewalt, sondern haben den neuen wichtigen Art. 20 Abs. 1 Verf. zum Ausgangspunkt, nach dem „jeder das Recht auf Rechtsschutz durch die Gerichte hat und vor ihnen seine Rechte oder Interessen nach Maßgabe der Gesetze geltend machen kann“.[15] Auf diese Weise wird verfassungsrechtlich bestätigt, dass die Verwaltungsgerichte Organe der einheitlichen und ungeteilten rechtsprechenden Gewalt sind, sich von den Organen der vollziehenden Gewalt klar unterscheiden und vorrangig dem Schutz der subjektiven Rechte und rechtlichen Interessen der rechtsuchenden Bürger dienen.[16] Sie sind ebenso mit ordentlichen Richtern besetzt, die sachliche und persönliche Unabhängigkeit genießen, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen sind und sich in keinem Fall Bestimmungen fügen dürfen, die in Auflösung der Verfassung erlassen wurden (Art. 87 Abs. 1 und 2 Verf.). Sie dürfen auch ein Gesetz nicht anwenden, dessen Inhalt gegen die Verfassung verstößt (Art. 93 Abs. 4 Verf.).[17]

 

2. Konsonanz und Divergenz mit europäischen Prinzipien

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Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze des griechischen Verwaltungsrechts im Einklang mit den Vorgaben aus Art. 2 und 6, Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 EUV sowie Art. 6 und 13 EMRK stehen. Die in diesen Artikeln besonders herausgestellten Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Rechtsstaatlichkeit, der Subsidiarität, der Unionstreue sowie der Rechte auf gerichtliches Gehör und effektive Beschwerde stellen für Griechenland eine weitere intensivere Stufe des rechtlichen Europäisierungsprozesses dar, der schon unmittelbar nach der Gründung des modernen griechischen Staates eingeleitet wurde. Diese zentralen strukturbestimmenden Vorgaben, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, sind nicht nur für das Handeln der Unionsorgane verpflichtend, sondern determinieren auch das gesamte Verwaltungsrecht, einerlei auf welcher Ebene sich das Verwaltungshandeln vollzieht.[18] Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind ihrerseits vielfach in einem wertenden Rechtsvergleich aus dem mitgliedstaatlichen Verwaltungsrecht gewonnen worden. Sie wirken nun auf das nationale Verwaltungsrecht zurück und bewirken dort Ergänzung und Harmonisierung. Das lässt sich z.B. an den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes und der Transparenz der Verwaltung aufzeigen. Freilich gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen. Aber es sind doch eher Unterschiede im Detail, die auch keineswegs durchgängig nivelliert werden müssen. Vielmehr gebieten das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten, wichtige Institute und bewährte Regelungen des nationalen Verfassungs- und Verwaltungsrechts zu schonen und sie nicht leichtfertig auch den geringfügigsten Vereinheitlichungsinteressen zum Opfer fallen zu lassen.[19]

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Dessen ungeachtet gibt es auch Fälle, in denen nationale und europäische Prinzipien miteinander kollidieren. Die meisten Fälle betreffen das Verhältnis der griechischen Verfassung zum Unionsrecht und zur EMRK und wurden bislang im Ergebnis größtenteils zugunsten der beiden letzteren entschieden. Das gilt z.B. für den Zugang zu öffentlichen Ämtern, das Wahlrecht bei Kommunalwahlen, die Inkompatibilität der Eigenschaft des „Hauptaktionärs“ eines Massenmedienunternehmens mit der Vergabe öffentlicher Aufträge, den Begriff des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums, die Anerkennung von beruflichen Rechten aufgrund ausländischer Hochschuldiplome, das Verbot des Proselytismus, das Ausreiseverbot für Staatsschuldner oder das (wieder aufgehobene) Berufsverbot für Abgeordnete.[20] Auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts sind das in erster Linie die überlange Dauer von (Verwaltungs-)Gerichtsverfahren und die unrichtige Umsetzung von EU-Richtlinien insbesondere im Bereich des Umweltschutzes. Während man aber das schwierige und komplexe Problem der überlangen Verfahrensdauer – wie in den meisten Mitgliedstaaten – durch legislative Maßnahmen zu bewältigen sucht,[21] ist es eben die nationale Gesetzgebung zur Umsetzung von Umweltschutzrichtlinien, die das Problem erst auslöst. Das liegt vor allem in der Art und Weise, wie EU-Richtlinien in Griechenland überhaupt umgesetzt werden: Anstatt die geltenden Rechtsvorschriften abzuändern und anzupassen, wird oft mit großer Verspätung und erst nach Ablauf der jeweils vorgesehenen Umsetzungsfrist der Text der betreffenden Richtlinien (auf verfassungsrechtlich bedenkliche Weise)[22] durch Präsidialverordnung bzw. durch einfachen oder gemeinsamen Ministerialerlass nahezu wörtlich ins griechische Recht übertragen.[23] Diese rein formelle Art der Umsetzung bzw. Scheinumsetzung unter Aufrechterhaltung des bisherigen materiellen Rechts, das weiterhin unverändert fortbestehen bleibt, reicht offenbar nicht aus, um den Inhalt der betreffenden Richtlinien richtig ins griechische Recht zu transformieren. Sie hat vielmehr die Entstellung ihres materiellen Gehalts zur Folge und führt zu direkten Verstößen gegen das Unionsrecht, wie die zahlreichen Verfahren gegen Griechenland wegen ungenügender oder mangelhafter Umsetzung insbesondere von Umweltschutzrichtlinien belegen.[24]

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Hiergegen versucht vor allem die Rechtsprechung des Staatsrates unter Berufung auf Art. 24 Verf.[25] und im Einklang mit dem Unionsrecht und der Rechtsprechung des EuGH anzusteuern – ein Engagement, dem von Regierungs- und Wirtschaftskreisen und einem Teil des Schrifttums mit dem Vorwurf des richterlichen Aktivismus (δικαστικός ακτιβισμός) begegnet wird.[26] Dieselben Kritiker sind es aber, die zugleich nach außen gerade Art. 24 Verf. und die umweltrechtliche Rechtsprechung des Staatsrates als den wichtigsten Beitrag Griechenlands zur europäischen Rechtskultur herausstellen,[27] während die jeweilige Regierung immer wieder (vergeblich) neue Initiativen zur Verfassungsänderung ergreift, um die gerichtliche Kontrolle der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit ihres Handelns zu umgehen.[28] Dazu gehören inzwischen auch der regelmäßige Erlass von Einzelfallgesetzen anstelle von (individuellen) Verwaltungsakten oder die gesetzliche Sanktionierung von Verwaltungsverträgen für bestimmte öffentliche und private Bauvorhaben und ähnliche Großprojekte – eine Praxis, die sich besonders seit den Olympischen Spielen von Athen (2004) intensiviert hat und sich daraus erklären lässt, dass formelle Gesetze nicht direkt mit dem Aufhebungsantrag vor dem Staatsrat angegriffen werden können.[29] Gleichwohl hat der Staatsrat nach anfänglichem Zögern auch in dieser Hinsicht bereits signalisiert, dass er nur in eng begrenzten und genügend begründeten Ausnahmefällen bereit ist, eine solche Praxis als noch verfassungsmäßig und unionsrechtskonform hinzunehmen.[30] Problematisch ist außerdem die neulich eingeleitete Praxis des Erlasses von gesetzgeberischen Akten (πράξεις νομοθετικού περιεχομένου) durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Ministerrates unter Berufung auf einen außerordentlich dringenden und unvorhergesehenen Notstand gemäß Art. 44 Abs. 1 Verf. Diese Legislativakte der Exekutive, die ohne vorherige gesetzliche Ermächtigung ergehen und erst nachträglich durch das Parlament genehmigt werden, ändern durch einen einzigen voluminösen Artikel (aus parteipolitischem Kalkül) ganze Bereiche des geltenden Rechts, ohne dass das Vorliegen der „Ausnahmefälle“, die zu ihrem Erlass geführt haben und immer wieder darin bestehen, „die jeweils nächste Tranche des Darlehenvertrages nicht zu verlieren“, gerichtlich kontrolliert wird.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 76 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Griechenland › II. Verwaltungsrechtliche Institute in der Steuerungsperspektive

II. Verwaltungsrechtliche Institute in der Steuerungsperspektive
1. Organisation und Personal
a) Grundlagen der Verwaltungsorganisation

aa) Regierung

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Griechenland ist ein Einheitsstaat und ein unitarisch strukturiertes Land.[31] Nach der Verfassung (Art. 26 Abs. 2 Verf.) wird die vollziehende Gewalt (εκτελεστική εξουσία) durch den Präsidenten der Republik (Πρόεδρος της Δημοκρατίας) und die Regierung (Κυβέρνηση) wahrgenommen. Die allgemeine Politik des Landes wird jedoch von der Regierung allein (allerdings nicht nur vom Ministerpräsidenten) gemäß der Verfassung und den Gesetzen bestimmt und geleitet (Art. 82 Abs. 1 Verf.). Die Regierung bildet den Ministerrat (Υπουργικό Συμβούλιο), der aus dem Ministerpräsidenten bzw. Premierminister (Πρωθυπουργός) und den Ministern (Υπουργοί) besteht; seine Zusammensetzung und Arbeitsweise wird durch Gesetz bestimmt.[32] Der Ministerpräsident stellt die Einheitlichkeit der Regierung sicher und leitet deren Tätigkeit sowie die der öffentlichen Verwaltung zur Durchführung der Regierungspolitik im Rahmen der Gesetze (Art. 82 Abs. 2 Verf.). Ein oder mehrere Minister können zu(m) stellvertretenden Ministerpräsidenten (Αντιπρόεδροι του Υπουργικού Συμβουλίου bzw. της Κυβέρνησης) ernannt werden (Art. 81 Abs. 1 Satz 1 Verf.), die nach dem Gesetz von ihren Ministeraufgaben befreit werden können. Die Verfassung kennt außerdem stellvertretende Minister (αναπληρωτές Υπουργοί) und Minister ohne Geschäftsbereich (Υπουργοί χωρίς χαρτοφυλάκιο), die das Gesetz Staatsminister (Υπουργοί Επικρατείας) nennt. Die Zuständigkeiten der letzteren werden durch Beschluss des Ministerpräsidenten, die der übrigen Minister durch Gesetz bestimmt (Art. 83 Abs. 1 Verf.). Unter den Ministern stehen schließlich Vizeminister (Υφυπουργοί), die nach der Verfassung (Art. 81 Abs. 1 Satz 2 Verf.) Mitglieder der Regierung sein können, es nach dem Gesetz aber nicht sind. Das Gesetz sieht derzeit einen bis zwei Vizeminister in den meisten Ministerien sowie zwei Vizeminister beim Ministerpräsidenten vor, von denen der eine als Regierungssprecher tätig wird, während der andere ausschließlich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuständig ist. Ihre Zuständigkeiten werden durch gemeinsamen Beschluss des Ministerpräsidenten und des einschlägigen Ministers festgelegt (Art. 83 Abs. 2 Verf.). Alle Minister und Vizeminister werden auf Vorschlag des Ministerpräsidenten vom Präsidenten der Republik durch Verordnung ernannt und entlassen (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 Verf.). Dem Ministerpräsidenten steht somit ein unbegrenztes Regierungsbildungs- und -umbildungsrecht zu.

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Aus der Mitte der Regierung werden ferner zahlreiche kollegiale Regierungsorgane und Ministerialausschüsse (κυβερνητικές bzw. διυπουργικές επιτροπές) gebildet, die mit wichtigen Beratungs- und Entscheidungsbefugnissen betraut sind. Einige sind durch die Verfassung selbst (Art. 82 Abs. 3 und 4 Verf.) vorgesehen oder durch Gesetz (z.B. Art. 15 PV. 63/2005) eingerichtet worden. Die wohl bedeutendsten unter ihnen sind der Regierungsausschuss (Κυβερνητική Επιτροπή), der Regierungsrat für Auswärtiges und Verteidigung (Κυβερνητικό Συμβούλιο Εξωτερικών και Άμυνας), der Nationale Rat für Außenpolitik (Εθνικό Συμβούλιο Εξωτερικής Πολιτικής), der Wirtschafts- und Sozialausschuss (Οικονομική και Κοινωνική Επιτροπή), der Nationale Ausschuss für Menschenrechte (Εθνική Επιτροπή για τα Δικαιώματα του Ανθρώπου), der Ausschuss für Bildung und Kultur (Επιτροπή Παιδείας και Πολιτισμού), der Ausschuss für Institutionelle Angelegenheiten (Επιτροπή Θεσμών), der Ausschuss für Wirtschafts- und Sozialpolitik (Επιτροπή Οικονομικής και Κοινωνικής Πολιτικής), der Koordinationsausschuss für Einwanderung (Συντονιστική Επιτροπή Μετανάστευσης), der Ausschuss für Groß und Infrastrukturvorhaben (Επιτροπή Μεγάλων Έργων και Υποδομών), der Ausschuss für die Festlegung der Strategie und die Entwicklung der Informatik (Επιτροπή για τον Καθορισμό της Στρατηγικής και την Ανάπτυξη της Πληροφορικής), der Beratungsausschuss für die Errichtung, Auflösung, Neuordnung und Umbildung von Ämtern, Räten, Ausschüssen und Trägern des öffentlichen Sektors (Γνωμοδοτική Επιτροπή για τη σύσταση, κατάργηση, αναδιάρθρωση και μετατροπή Υπηρεσιών, Συμβουλίων, Επιτροπών και Φορέων του Δημόσιου Τομέα), der Ministerialausschuss für Umstrukturierungen und Entstaatlichungen (Διυπουργική Επιτροπή Αναδιαρθρώσεων και Αποκρατικοποιήσεων) und der Ministerialausschuss für Strategische Investitionen (Διυπουργική Επιτροπή Στρατηγικών Επενδύσεων).