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aa) Anwendungsbereiche von recours pour excès de pouvoir und recours de plein contentieux

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Der auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage statthafte[154] recours pour excès de pouvoir ist auf die Aufhebung eines individuellen (acte individuel) oder abstrakt-generellen (acte réglementaire) Verwaltungsakts gerichtet. Als „Prozess, der einem Akt gemacht wird“, hat dieses objektive Rechtsschutzverfahren eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Verwaltung dem Recht zu unterwerfen, vor allem, weil die Gerichte im Zusammenhang mit der Zulässigkeitsvoraussetzung des Klageinteresses (intérêt à agir) eine extrem liberale Linie verfolgen. Auch der Klagegegenstand, der als „acte faisant grief“ (Verwaltungsakt mit jedenfalls potentiell beeinträchtigendem Charakter) bezeichnet wird, wird weit verstanden. Nicht nur, dass mit dem recours pour excès de pouvoir die Ermessensausübung der Verwaltung angegriffen werden kann: Auch hat der Einfluss des Europarechts dazu geführt, dass die im Falle von actes de gouvernement (Regierungsakte) und mesures d’ordre intérieur (verwaltungsinterne Maßnahmen) bestehenden rechtsfreien Räume eingeschränkt worden sind, auch wenn die eine oder andere gerichtliche Entscheidung dies noch nicht wahrhaben will.[155]

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Die actes de gouvernement, für die bislang noch keine allgemeine und theoretische Definition existiert, die über die Aussage hinausginge, dass sie einer bestimmten „Staatsraison“ (Raymond Odent) entsprechen,[156] werden von Verwaltungsorganen getroffen, unterliegen aber keiner gerichtlichen Kontrolle. Zu ihnen zählen heute Akte, die die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament[157] oder der Regierung und einem ausländischen Staat oder einer internationalen Organisation[158] betreffen. Die Qualifikation eines Akts als acte de gouvernement kennt allerdings auch Grenzen. So kann die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags gerügt werden. Auch endet die gerichtliche Immunität, wenn der Akt als von Abkommen, Verträgen und diplomatischen Beziehungen abtrennbar angesehen wird.[159] Bei den mesures d’ordre intérieur handelt es sich um Entscheidungen mit generellem oder individuellem Charakter, die darauf gerichtet sind, dass die Verwaltung reibungslos funktioniert und sich Weisungen fügt, und vom Richter entsprechend qualifiziert werden. Sie sind gerichtlicher Kontrolle entzogen, weil es sich um „unbedeutende Angelegenheiten“ handelt. Unter dem Einfluss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Liste dieser Maßnahmen kürzer geworden, insbesondere in ihren eigentlichen Domänen, dem Schulwesen, der Armee und dem Strafvollzug. So werden heute die Schulordnungen sowie Sanktionen oder andere Maßnahmen gegenüber Angehörigen des Militärs oder Strafgefangenen als Maßnahmen mit jedenfalls potentiell beeinträchtigendem Charakter angesehen.[160]

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Potentiell beeinträchtigend sind aus Sicht der Rechtsprechung nur Maßnahmen, die eine Rechtsfolge herbeiführen und damit zu einer Änderung der Rechtslage führen, nicht hingegen rein unverbindliche Maßnahmen, die lediglich der Vorbereitung einer Entscheidung dienen, nur eine Stellungnahme beinhalten (wie Gutachten, Vorschläge oder Untersuchungen) oder lediglich eine frühere Entscheidung bestätigen. Auch Dokumente, in denen die Verwaltungsbehörden Auskunft über die Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften geben oder lediglich auf eine Rechtsvorschrift hinweisen, sind verwaltungsinterner Natur. Es handelt sich um circulaires interprétatives (interpretierende Runderlasse), die sich von circulaires réglementaires (Runderlassen mit Regelungscharakter) unterscheiden. Letztere führen zu einer Änderung der Rechtslage – indem sie etwa die Ausübung eines Rechts bestimmten Bedingungen unterwerfen – und sind in der Regel nicht von einer Rechtsetzungsbefugnis der Verwaltung gedeckt. Diese klassische Unterscheidung, die sich am Gegenstand der Runderlasse orientiert, ist im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des recours pour excès de pouvoir schwierig umzusetzen. Sie ist daher durch ein neues Gegensatzpaar abgelöst worden, das eher auf die Wirkungen der Runderlasse blickt und zwischen circulaires impératives (anordnende Runderlasse) und solchen ohne Anordnungscharakter unterscheidet.[161] Schließlich legt die Verwaltungsbehörde durch directives (Richtlinien) fest, wie sie das ihr eingeräumte Ermessen ausüben will. Die damit verbundene Aufstellung einer handlungsanleitenden „Doktrin“ ist Ausdruck der „Steuerungsbefugnis“ der Verwaltung.[162]

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Ähnlich wie bei der Aufhebung von Verwaltungsakten wird auch der Anwendungsbereich des recours de pleine juridiction, einer Klage, bei der die richterlichen Befugnisse auch andere Maßnahmen als die Aufhebung von Verwaltungsakten umfassen, immer weiter ausgedehnt. Er umfasst sowohl Streitigkeiten um die außervertragliche und vertragliche Haftung der Verwaltung, in denen der Richter darüber zu befinden hat, ob die Verwaltung zum Ersatz eines durch sie verursachten Schadens zu verurteilen ist, als auch sonstige vertragsrechtliche Streitigkeiten, die bei dieser Klageart dominieren. Ferner deckt er Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Steuerrecht, dem Wahlrecht, einsturzgefährdeten Gebäuden, überwachungsbedürftigen Anlagen oder auch dem Flüchtlingsrecht ab. Schließlich können hier nach Maßgabe besonderer gesetzlicher Bestimmungen und innerhalb ihrer Grenzen auch Sanktionen eingeordnet werden, die bestimmte unabhängige Verwaltungsbehörden wie der Conseil supérieur de l’audiovisuel (Hörfunk- und Fernsehrat) verhängen.

bb) Gegensatz und Annäherung von recours de pleine juridiction und recours pour excès de pouvoir

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Die Gegensätzlichkeit beider Klagearten bleibt angesichts zahlreicher spezifischer Regelungen betreffend Zulässigkeit und Verfahren Realität. So unterliegt etwa der recours pour excès de pouvoir seit 1864 keinem Anwaltszwang. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben aber zu einer Annäherung der beiden voneinander unabhängigen Klagearten geführt, zwischen denen der Kläger, der die Aufhebung einer Entscheidung über eine Zahlung begehrt, seit 1921 frei wählen kann.[163]

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So wird, erstens, die Verbindung zwischen recours pour excès de pouvoir und Verwaltungsakt in vielerlei Hinsicht gelockert. Zum einen ist schon sehr früh anerkannt worden, dass der recours pour excès de pouvoir gegen einen Akt statthaft ist, der von einem der pleine juridiction unterliegenden Gesamtvorgang abgetrennt werden kann (acte détachable). Ein Beispiel für einen dermaßen abtrennbaren Akt ist die Entscheidung, einen Vertrag abzuschließen, weil sie auf den Vertrag selbst keine unmittelbaren Auswirkungen hat.[164] Zum anderen, und das ist sicher außergewöhnlich, findet der recours pour excès de pouvoir Anwendung auf Arbeitsverträge zwischen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und ihren Bediensteten.[165] Ferner hat er zu einem neuen Aufhebungsrechtsbehelf geführt, der sich gegen Vertragsangebote gegenüber Dritten richtet.[166] Dieser Rechtsbehelf wird nicht ausdrücklich als recours pour excès de pouvoir bezeichnet – was mit Blick auf die Befugnisse des Richters, der den Vertrag aufheben, kündigen und ändern kann, durchaus folgerichtig ist – und bewegt sich im Bereich des plein contentieux. Und doch verbindet er zwei Dinge, die in den theoretischen Klassifizierungsansätzen streng voneinander getrennt sind: die Aufhebung der Entscheidung und den Vertrag.

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Zweitens überschreiten die Befugnisse, die dem Richter heute im Rahmen des recours pour excès de pouvoir bei der Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen zuerkannt werden, die bloße Aufhebung des Verwaltungsakts. Der Verwaltungsrichter kann kraft Gesetzes gegenüber der Verwaltung Anordnungen (injonctions) treffen und Zwangsgelder verhängen, auch um die Aufhebung eines von einem Vertrag abtrennbaren Akts durchzusetzen. Ferner behält sich die Rechtsprechung die Möglichkeit vor, die Regel auszusetzen, nach der bei Aufhebung eines Verwaltungsakts davon auszugehen ist, dass der Verwaltungsakt nie bestanden hat, um die zeitlichen Wirkungen der Aufhebungsentscheidung zu modifizieren.[167] Es handelt sich um eine Befugnis, die das Verwaltungshandeln erleichtert und Ähnlichkeiten mit der Befugnis aufweist, einen Rechtsakt zu ändern.

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Die geschilderte Entwicklung zeugt von der Annäherung von recours pour excès de pouvoir und recours de pleine juridiction.

b) Die Intensität der Kontrolle

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Der Richter ist entsprechend der allgemeinen Verfahrensregel, die Entscheidungen ultra petita verbietet, gehalten, nicht über die Anträge der Beteiligten hinauszugehen. In diesem Rahmen übt er eine Kontrolle aus, die zwei Gegebenheiten zum Ausgleich bringen muss: die Erfordernisse des Verwaltungshandelns und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, oder, um eine Formulierung aus der Entscheidung Blanco aufzugreifen, „die Bedürfnisse der Verwaltung und die Notwendigkeit, das Recht des Staates mit den privaten Rechten in Einklang zu bringen“.

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Im Rahmen sowohl des contentieux de pleine juridiction als auch des contentieux de l’excès de pouvoir hat dies zu einer Ausweitung der richterlichen Kontrolle geführt. So war das Prinzip der Haftung der öffentlichen Gewalt zwar Ende des 19. Jahrhunderts anerkannt, es galt aber als „weder generell noch absolut“. Dass die Haftung heute insoweit durchaus generell ist, als für jegliches Verwaltungshandeln gehaftet wird, ist ein Ergebnis der Verschärfung der gerichtlichen Kontrolle. Kein Bereich des Verwaltungshandelns steht heute noch außerhalb des Haftungsregimes. Ursprünglich auf dem Restitutionsgedanken basierend, hat sich dieses durch die Berücksichtigung des Solidaritätsgedankens weiterentwickelt. Dies zeigt sich einerseits in der richterrechtlichen Annahme einer verschuldensunabhängigen Haftung der öffentlichen Gewalt, die entweder auf das Prinzip der Gefährdungshaftung oder auf die Annahme einer Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei der Erhebung öffentlicher Abgaben gestützt ist, andererseits in der Einrichtung von Entschädigungsfonds (etwa für Kriegsschäden oder die Opfer terroristischer Akte)[168] durch den Gesetzgeber. Diese Entwicklung hat zu dem durchaus kritikwürdigen Befund geführt, dass man heute eine versicherungsähnliche Haftung der öffentlichen Gewalt in Erwägung zieht,[169] für die vor allem das Vorsorgeprinzip verantwortlich ist. So verlangt der Richter in bestimmten Bereichen keine besondere Schwere der Pflichtwidrigkeit mehr, schränkt die Fälle, in denen es einer faute lourde (grobe Fahrlässigkeit) bedarf, zugunsten des bloßen Erfordernisses einer faute simple (einfache Fahrlässigkeit) ein und dehnt die Haftung für vermutetes Verschulden aus. Auch im vertraglichen Bereich hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die die Rechte der administrés gewährleisten und dennoch die „Erfordernisse des Verwaltungshandelns“ berücksichtigen. Ein Beispiel ist die théorie de l’imprévision (Lehre von der Geschäftsgrundlage).[170]

 

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Die Kontrolle der Verwaltung mittels des recours pour excès de pouvoir, eines Rechtsbehelfs, der traditionell als das bevorzugte Instrument zur Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gilt, fällt in denselben Zuständigkeitsbereich. Parallel zum breiten Zugang zu den Gerichten, den dieser recours objectif infolge seiner großzügig konzipierten Zulässigkeitsvoraussetzungen eröffnet, sowie zur Entwicklung der Kontrollmechanismen sind auch die einer Erörterung vor Gericht zugänglichen Klagegründe (cas d’ouverture) erweitert worden.

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Die Klagegründe beim recours pour excès de pouvoir, die sich auf die unterschiedlichen Aspekte der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts beziehen, können in zwei von der Rechtsprechung entwickelte Gruppen unterteilt werden: Gesichtspunkte der légalité externe (formelle Rechtmäßigkeit) und Gesichtspunkte der légalité interne (materielle Rechtmäßigkeit). Die erste Gruppe betrifft Fälle, in denen der Verwaltungsakt fehlerhaft ist, weil die Behörde unzuständig ist (incompétence) oder ein Form- und Verfahrensfehlern (vice de forme et de procédure) vorliegt. Zur zweiten Gruppe gehören Fälle, in denen es um die materiellen Voraussetzungen des Verwaltungshandelns geht, also Fehler bei Tatsachenfeststellung und Subsumtion (erreur des motifs de fait) und Fehler bei der Rechtsanwendung (erreur des motifs de droit), die unmittelbare Verletzung einer Rechtsvorschrift (violation directe de la règle de droit) und den Ermessensmissbrauch (détournement de pouvoir). Der Richter kann also mit anderen Worten über alle Formen von Rechtswidrigkeit befinden, mögen diese nun objektive Aspekte wie etwa die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Entscheidung oder subjektive Aspekte wie die mit ihr verfolgten Ziele betreffen. Letztere können im Zusammenhang mit dem Klagegrund des Ermessensmissbrauchs erörtert werden, der eine Überprüfung der inneren Absichten der Verwaltung auf ihre Integrität hin erlaubt. Wenn die Rechtsprechung Techniken entwickelt hat, die ihr eine Anpassung der Kontrolle an die Rechtslage, in der sich die Verwaltungsbehörde befindet, erlauben, bedeutet das nicht, dass sich die Kontrolle nicht mehr auf alle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen bezieht, wenn auch stets nur im Rahmen des klägerischen Antrags.[171]

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Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle ist beim recours pour excès de pouvoir abhängig vom Grad des der Verwaltung eingeräumten Ermessens. Das gilt vor allem für die Kontrolle der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen (motifs). Traditionell unterscheidet man zwischen contrôle normal (volle Kontrolle) und contrôle restraint (eingeschränkte Kontrolle). Die Unterscheidung überschneidet sich mit der Unterscheidung zwischen gebundenem Verwaltungshandeln und Ermessensverwaltung und führt vor allem bei der Kontrolle der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen zu Unterschieden. Während der Richter beim contrôle normal die Tatsachenfeststellung und -würdigung in ihrer ganzen Breite prüft (u.a. Genauigkeit der Tatsachengrundlage sowie deren rechtliche Würdigung), beschränkt er sich beim contrôle restraint auf die Prüfung der Genauigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen und des eventuellen Vorliegens offensichtlicher Beurteilungsfehler (erreur manifeste d’appreciatión).[172] Die Kontrolle offensichtlicher Beurteilungsfehler erlaubt es etwa, in einem Disziplinarverfahren die Angemessenheit einer Sanktion im Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens zu prüfen. Der contrôle restraint scheint gegenwärtig gegenüber dem contrôle normal an Boden zu verlieren, und dies selbst dort, wo die Verwaltung über Ermessen verfügt. Zudem nehmen die Richter unter bestimmten Voraussetzungen, die ebenfalls immer weitere Bereiche des Verwaltungshandelns erschließen, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, die es ihnen erlaubt, die Angemessenheit eines Mittels im Verhältnis zum verfolgten Zweck zu thematisieren. So wurde etwa die Erklärung der Verwaltung, eine Enteignung diene dem Wohl der Allgemeinheit, auf Grundlage einer „Kosten/Nutzen-Rechnung“ überprüft.[173] Die Tätigkeit des Verwaltungsrichters gewinnt dadurch an Komplexität, dass er die Grenze zwischen Rechtsprechung und aktiver Verwaltung wahren muss. Dieses Spannungsverhältnis scheint aber dadurch ausgeglichen zu werden, dass der Richter einen Platz innerhalb der Verwaltung einnimmt: Entstehung und Entwicklung des recours pour excès de pouvoir gehen auf eine Zeit zurück, in der der Verwaltungsrichter als einfacher Berater des Staatsoberhaupts durchaus einige Anleihen bei den verwaltungsinternen Kontrollmechanismen nehmen konnte. Genau aus diesem Grund zögerte der Conseil d’État auch nach Zuerkennung einer unabhängigen Stellung[174] hinsichtlich der Beibehaltung seiner älteren Rechtsprechung. Nach kurzer Zeit waren die Verwaltungsgerichte aber bestrebt, gerichtliche Rechtsbehelfe zu entwickeln und ihren Anwendungsbereich unter Berücksichtigung der Freiheit der Verwaltung und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit auszudehnen.[175]

c) Die Wirksamkeit des Schutzes

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Lange Zeit bestand ein scharfer Kontrast zwischen der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns auf der einen Seite, von der Wissenschaft emphatisch begrüßt, und der fehlenden Durchschlagskraft der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der anderen Seite, von ihr vollkommen ignoriert.[176] Der Mangel an Effektivität resultierte aus Unzulänglichkeiten der Entscheidungsvollstreckung und der Eilverfahren. Während daher die Qualität der Verwaltungsgerichtsbarkeit insgesamt kaum in Frage gestellt wurde, rückte die Tatsache, dass gerichtliche Entscheidungen häufig nur für moralische Genugtuung sorgen konnten, schnell in den Mittelpunkt der notwendigen Erneuerung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wie die Berücksichtigung der Verfahrensdauer ist auch die Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen Teil eines fairen Verfahrens.

aa) Verfahren und Zeit

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Die Verfahrensdauer ist durch unterschiedliche Umstände bedingt: Die Dauer für den Kläger ist nicht identisch mit der Dauer der eigentlichen Rechtsfindung, weil die Gerichte auch den formellen Anforderungen und dem kontradiktorischen und unparteiischen Charakter des Verfahrens Rechnung tragen müssen. Der Kampf gegen die Langsamkeit der Justiz, die bereits zu mehreren Verurteilungen Frankreichs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt hat, wird seit Ende der 1980er-Jahre geführt und hat bereits eine signifikante Verkürzung der Verfahrensdauer gebracht, auch wenn dieser Erfolg durch die stetig steigende Zahl von Verfahren gefährdet ist. Weil Verwaltungsentscheidungen nach „der Grundregel des öffentlichen Rechts“[177] unmittelbar vollziehbar sind, hindert die Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs ihre Vollziehung nicht. Da die Mechanismen, die das Fehlen einer aufschiebenden Wirkung der gerichtlichen Rechtsbehelfe ausgleichen sollten, nicht ausreichten, wurde das Gesetz vom 30.6.2000 verabschiedet.[178] Dieses Gesetz führt einen Eilrechtsbehelf ein, dessen Gegenstände vielfältig sein können und über den nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ein Einzelrichter durch Beschluss entscheidet. Das Gesetz führt eine neue Kultur in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein, deren Verfahren traditionell schriftlich sind und in den Händen eines Kollegialgerichts liegen. Zudem verschafft es dem Bürger neue und bis dahin unbekannte Garantien. Unter den durch das Gesetz eingeführten Verfahrensarten sind solche, die zur Aussetzung einer Verwaltungsentscheidung und zu Anweisungen führen, und damit von einer bemerkenswerten Entwicklung zeugen.

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Der référé-provision (Art. L 521–1 CJA) ist der Nachfolger des sursis à exécution (Anordnung der aufschiebenden Wirkung). Er erlaubt es, den Vollzug einer Verwaltungsentscheidung ganz oder teilweise auszusetzen, auch wenn die Entscheidung ablehnenden Charakter hat. Die Anordnung der Aussetzung setzt zum einen Dringlichkeit voraus, die angegriffene Entscheidung muss also „auf hinreichend schwerwiegende und unmittelbare Weise das öffentliche Interesse, die Lage des Rechtsbehelfsführers oder die Interessen, die er zu verteidigen sucht, beeinträchtigen“. Zum anderen bedarf es eines Grundes, „der geeignet ist, im Aussetzungsverfahren einen ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung aufkommen zu lassen“. Die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts muss mit anderen Worten brüchig und unsicher sein, um seine Aussetzung zu rechtfertigen. Mit der Einführung des référé-liberté (Art. L 521–2 CJA) etabliert das Gesetz zudem einen der einstweiligen Verfügung im Zivilrecht vergleichbaren Rechtsbehelf. Dieser völlig neuartige Rechtsbehelf findet Anwendung, wenn das Verwaltungshandeln Grundrechte verletzt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass keine Verwaltungsentscheidung vorliegen und kein Hauptsacheverfahren anhängig sein muss. Wie beim référé-provision muss Dringlichkeit vorliegen. Ferner darf die Verletzung einer Fundamentalfreiheit (liberté fondamentale) jedenfalls nicht ausgeschlossen sein. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, verfügt der Richter über weitreichende Befugnisse. Er kann „alle notwendigen Maßnahmen anordnen“, also sämtliche Maßnahmen sichernden und vorläufigen Charakters.