Ius Publicum Europaeum

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b) Die parlamentarische Kontrolle der Verwaltung

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Die Rolle der Regierungs- und Verwaltungsbehörden bei der Ausarbeitung der Gesetze verhält sich umgekehrt proportional zur parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung. Diese beruht weitgehend auf den verfassungsrechtlichen Vorschriften über die parlamentarische Kontrolle der Exekutive, zu der auch die Verwaltung zählt; im Mittelpunkt steht das Recht des Parlaments, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen.[105]

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Die Frage, wie die parlamentarische Kontrolle verbessert werden kann, betrifft einen der zentralen Punkte bei der Stärkung der Stellung des Parlaments im Verhältnis zu den anderen französischen Staatsorganen.[106] Voraussetzung ist zunächst, dass das Parlament über ausreichende Informationsinstrumente verfügt, darunter (mündliche oder schriftliche) Anfragen an die Regierung. Ihr Ausbau, vor allem durch das Erfordernis, in jeder der beiden Parlamentskammern mindestens eine Sitzung in der Woche entsprechenden Anfragen zu widmen, die Vielfalt ihrer Themen und die durch sie erzeugte Öffentlichkeit (Fernsehübertragungen der mündlichen und Veröffentlichung der schriftlichen Anfragen samt Antworten), führt zu einem Instrumentarium, das über die einfache Information des einzelnen Abgeordneten weit hinausreicht. Zudem sind die ständigen Ausschüsse der beiden Parlamentskammern der Ort, an dem die Vorhaben und Gesetzesentwürfe der Regierung erstmals in Augenschein genommen werden und es folglich zu einem der parlamentarischen Kontrolle zuträglichen Austausch mit der Regierung kommt. Dies gilt insbesondere für die Finanzausschüsse der beiden Kammern, die u.a. die Aufgabe haben, die Ausführung der Finanzgesetze zu überwachen und zu kontrollieren. Ferner wurden verschiedene dauerhafte parlamentarische Einrichtungen geschaffen, die délégation oder office genannt werden und zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle beitragen. Beispiele sind die Délégation parlementaire pour les communautés européennes, die Office parlementaire des choix scientifiques et technologiques, die Office pour l’évaluation de la législation oder die Office pour l’évaluation des politiques de santé. Ein zeitlich begrenztes Kontrollinstrument ist die Möglichkeit, einen Untersuchungsausschuss (commission d’enquêtes) einzurichten, dessen Aufgabe es ist, bestimmte Vorkommnisse oder das Funktionieren eines service public zu untersuchen und Informationen zusammenzutragen, auf deren Grundlage sodann ein Bericht erstellt und der jeweiligen Kammer vorgelegt werden kann.[107] Erst kürzlich wurde innerhalb des Finanzausschusses der Assemblée nationale nach dem Vorbild des National Audit Office des britischen Parlaments die Mission d’évaluation et contrôle (Mission für Evaluation und Kontrolle) geschaffen, eine Einrichtung, die damit betraut ist, Verantwortliche aus Politik und Verwaltung im Zusammenhang mit der Verwendung öffentlicher Gelder anzuhören und zu bestimmten Bereichen staatlichen Handelns vertiefte Nachforschungen anzustellen. Die Einrichtung fügt sich ein in den Rahmen des im Zusammenhang mit dem verfassungsausführenden Gesetz vom 1.8.2001 hinsichtlich der Finanzgesetze geschaffenen Instrumentariums zur parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung hinsichtlich einer effizienten Mittelverwendung und kohärenter Politik.

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Das Erfordernis einer Evaluation der Politik, ein altes Problem, auf das bereits in den 1970er-Jahren reagiert wurde (politique de la rationalisation des choix budgétaires – RCB), und die Wiederentdeckung des Themas der Staatsreform Ende der 1980er-Jahre konvergieren insofern, als eine enge Verbindung zwischen der Reform des Staates und der Reform des Haushalts besteht, was sich auch in den Verwaltungsstrukturen niederschlägt, die mit der Staatsreform betraut sind.[108] So hat das verfassungsausführende Gesetz hinsichtlich der Finanzgesetze vom 1.8.2001, die sogenannte loi organique relative aux lois des finances (LOLF), den Verwaltungsbehörden die Pflicht auferlegt, ihr Handeln an einer Planungs- und Leistungslogik auszurichten. Indem die Mittel zu Programmen, die nach der Logik von Zielsetzung und Zielerreichung gestaltet sind, zusammengefasst werden, wird die Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungskontrolle vereinfacht. Auch wenn diese Kontrolle nicht ausschließlich Aufgabe des Parlaments ist, weil verschiedene Kontrollmechanismen der Verwaltung zuzuordnen sind, wird die parlamentarische Kontrolle doch durch die LOLF gestärkt. So verfügt der Finanzausschuss, der die Ausführung der Finanzgesetze überwacht und kontrolliert und Evaluationen jeglicher Art im Zusammenhang mit den öffentlichen Finanzen durchführt, zur Erfüllung seiner Aufgaben nunmehr über weitreichende Untersuchungsrechte (Kontrolle vor Ort, Anforderung von Dokumenten, Anhörungsrechte gegenüber allen Personen, deren Anhörung er für notwendig erachtet).

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Ohne die Anforderungen der repräsentativen Demokratie auszutauschen, lässt die demokratische Legitimation der Verwaltung heute mehr Raum für die Anliegen einer partizipativen Demokratie. So könnten etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Möglichkeiten einer demokratischen Kontrolle der unabhängigen Verwaltungsbehörden, die vielfach als unzureichend angesehen werden,[109] ohne jeden Zweifel erweitert werden, wenn man die Gebote der Transparenz, der Partizipation und der Evaluation stärker berücksichtigte.[110] Zunächst tragen die in Verfahren der unabhängigen Verwaltungsbehörden bestehenden Garantien wie die Pflicht zur Begründung individueller Entscheidungen, das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens und im Rahmen von Sanktionsverfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK dazu bei, Transparenz zu schaffen, die jegliche Kontrolle erleichtert. In diesem Rahmen verdienen die Berichte und sonstigen Veröffentlichungen dieser Behörden besondere Beachtung. Das in diesen Instrumenten liegende Potential sollte vollständig ausgeschöpft werden, weil sie die Transparenz des Handelns der Behörden erhöhen, indem sie die betroffenen Berufsgruppen über Prioritäten und Ziele sowie die der Aufgabenerfüllung zugrunde liegenden Kriterien informieren. Und auch im Bereich der Beteiligung könnten Fortschritte gemacht werden, wenn man die Behörden noch weiter für die Öffentlichkeit öffnete. Denn selbst wenn der Nutzer von der eigentlichen Regulierung durch die unabhängigen Verwaltungsbehörden weitgehend ausgeschlossen ist, erlauben das Erfordernis, im Zuge der Regulierung einen Konsens zu erzielen und hierfür unter Umständen öffentliche Befragungen durchzuführen, sowie die Möglichkeit, die Behörde im Falle individueller Streitigkeiten anzurufen, eine gewisse Partizipation. Schließlich sind regelmäßige Evaluationen zwingend geboten. Die hier im Zusammenhang mit den unabhängigen Verwaltungsbehörden, deren Einrichtung dem Streben nach einer „démocratie administrative“ entspringt, konstatierten Verschiebungen gelten für die gesamte französische Verwaltung, in der das Thema einer „démocratie administrative“ erhebliche Fortschritte gemacht hat.

2. Die „démocratie administrative“

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Die „démocratie administrative“ hat unbestreitbar Fortschritte gemacht. Auch wenn diese noch nicht ausreichen, ist doch bereits eine Ablösung des Konzepts vom administré als Untertan (sujet) durch ein Konzept vom administré als Bürger (citoyen) im Gange. Diese Entwicklung, die sich seit den 1970er-Jahren beschleunigt hat, ist nicht das Ergebnis eines von vornherein im Einzelnen festgelegten Programms oder Plans, sondern resultiert aus einer Abfolge von Einzelmaßnahmen.[111] Diese tragen zu einer Erneuerung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und administrés bei und sind damit Teil einer neuen Legitimation der Verwaltung.

a) Eine transparentere und bürgernähere Verwaltung

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Ein spürbarer Wandel der Verwaltung ist nicht zu bestreiten. Zunächst ist festzustellen, dass die Entscheidungen näher am Bürger getroffen werden, was nicht zuletzt eine Folge der Dezentralisierungs- und Dekonzentrationspolitik ist. Sicherlich bleibt durch die räumliche Organisation der Verwaltung aus Sicht des Bürgers ein gewisses Maß an Komplexität bestehen. Es resultiert daraus, dass es in Frankreich nach wie vor noch – mindestens – vier Verwaltungsebenen und eine Vielzahl von Kommunen gibt, was durch die Entwicklung der gemeindlichen Zusammenarbeit bisher nur unzureichend bewältigt wird.[112] Neben die Bemühungen um eine verstärkte Öffnung und Nähe zu den administrés durch die Ausweitung von Befragungen und Abstimmungen tritt das Bestreben, bei der Regulierung der Wirtschaft die Rechte der Bürger zu berücksichtigen, ein Ziel, dem vor allem die Einrichtung und Stärkung der unabhängigen Verwaltungsbehörden dienen.[113] Damit soll zugleich die Transparenz der Verwaltung gefördert werden. Wenn das für die Verwaltung charakteristische Maß an Geheimhaltung damit auch nicht durch ein Glashaus ersetzt worden ist – was im Übrigen auch nicht wünschenswert wäre –, wurde doch ein entscheidender Schritt getan, um Transparenz und Vertraulichkeit der Verwaltung in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.

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Seit dem Ende der 1970er-Jahre wurden mehrere Gesetze erlassen, die bestimmte Rechte der administrés begründet haben. Die bedeutendsten sollen nachfolgend genannt werden. Das Gesetz vom 17.7.1978 hat ein Recht auf Einsicht in Verwaltungsdokumente geschaffen.[114] Es wurde eine Commission d’accès aux documents administratifs (CADA – Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten) gegründet, die im Rahmen einer Politik der Verwaltungstransparenz die Umsetzung des Rechts auf Zugang zu Verwaltungsdokumenten erleichtern soll. Dieses Kollegialgremium kann angerufen werden, wenn der Zugang zu Verwaltungsdokumenten verweigert wird. Es lässt der zuständigen Behörde dann innerhalb eines Monats eine Stellungnahme zukommen, in der es sich zur Einsehbarkeit des betreffenden Dokuments äußert. Die Einholung dieser Stellungnahme ist eine zwingende Voraussetzung für die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens. Lange verfügte die CADA über keinerlei eigene Entscheidungsbefugnisse und war ein klassisches Beratungsorgan. Auch wenn sie die in den Behörden fest verankerte Tradition der Verschwiegenheit nicht komplett aufgebrochen hat, ist sie doch ein wirksames Instrument zur Einleitung eines Mentalitätswandels gewesen. Sie unterstützt die von einer Auskunftsverweigerung betroffenen Personen auf wirksame Weise, da die Verwaltung in 90% aller Fälle ihrer Auffassung folgt. In dieser Rolle als Vermittlerin zwischen der Verwaltung und den Bürgern als Ansprechpartnern hat die CADA unzweifelhaft eine moralische Autorität erworben, die seit kurzem durch eine echte Entscheidungsbefugnis gestärkt wird. Während sie früher auf Widerstände in der Verwaltung lediglich in ihren Jahresberichten hinweisen konnte, ist sie seit 2005 eine unabhängige Verwaltungsbehörde, die in einem kontradiktorischen Verfahren Geldstrafen verhängen kann.[115] In eine ähnliche Richtung weisen die Lockerung der Regelungen für den Zugang zu öffentlichen Archiven durch das Gesetz vom 3.1.1979 und die Schaffung eines gewissen Schutzes vor elektronischer Datenverarbeitung und -sicherung, der durch das Gesetz vom 6.1.1978 der Commission nationale de l'informatique et des libertés (CNIL – Nationale Kommission für Informationstechnologie und Freiheitsrechte und damit die nationale Datenschutzbehörde) übertragen worden ist. Schließlich verpflichtet das Gesetz vom 11.7.1979 die Verwaltungsbehörden zur Begründung belastender Individualentscheidungen, etwa von polizeilichen Maßnahmen, Sanktionen oder Aufhebungen rechtsbegründender Entscheidungen. Ausnahmen bestehen nur bei äußerster Dringlichkeit. Die Begründungspflicht erleichtert die Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns für die administrés und bewahrt die Verwaltung vor übereilten Handlungen. Aus diesen Gründen achten die Verwaltungsgerichte sehr sorgfältig auf ihre Einhaltung.

 

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Die genannten Gesetze, die von einer grundlegenden Reformbewegung getragen werden, werden durch das Gesetz vom 12.4.2000 über die Rechte der Bürger in ihren Beziehungen zur Verwaltung, das die Entwicklung hin zu einer „citoyennité administrative“ befördert, ergänzt und aufeinander abgestimmt.

b) Auf dem Weg zu einer „citoyennité administrative“?

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Die Idee der „citoyennité administrative“ ist, obwohl immer verbreiteter, schwer zu fassen. Beschreiben lässt sie sich allenfalls als eine neue Herangehensweise an das Verhältnis zwischen dem administré als citoyen und der öffentlichen Gewalt.

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Zunächst geht es darum, die den administrés gegenüber erbrachten Leistungen zu verbessern. Dies führt zu ganz unterschiedlichen Maßnahmen. Insbesondere soll der „physische“ Kontakt zu den Behörden erleichtert werden, indem der Zugang zu den services publics vereinfacht, die inflationäre Vermehrung der Normen bekämpft und die Verwaltungssprache und die Verfahren vereinfacht werden. Zu diesem Zweck werden Dokumente wie die auch als „charte Marianne“ bezeichnete charte pour l’accueil dans les services publics[116] erlassen, wird politisch auf eine Vereinfachung des Rechts und eine Reform bestimmter Arbeitsmethoden der Verwaltung hingewirkt, ein Comité d’orientation pour la simplification de langage administratif eingerichtet, das behördliche Formulare neu abfassen soll, und auf das Instrument der übertragenen Gesetzgebung zurückgegriffen, um eine Vereinfachung des Rechts und der Verwaltungsverfahren herbeizuführen. Neben diese Maßnahmen tritt das umfassende Vorhaben, neue Informations- und Kommunikationstechnologien in der Verwaltung einzuführen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Digitalisierung der Verfahren.

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Zudem ist der Einzelne präsenter, einerseits aus eigenem Antrieb – wie der Anstieg der Zahl verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten zeigt –[117], andererseits dadurch, dass er als echter Partner der Verwaltung auftritt. Denn neben einer Politik der Demokratisierung des öffentlichen Sektors und dem verstärkten Rückgriff auf die übertragene Erbringung von services publics ergänzt die vertragliche Kooperation die klassischeren Formen der Partizipation. Das Partizipationsprinzip wird sogar rechtlich verankert. So räumt die Charte de l’environnement vom 24.6.2004 in Art. 7 jedermann das Recht ein, „an der Entwicklung öffentlicher Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Umwelt haben, mitzuwirken“. Auch sieht die Organisation bestimmter services publics Formen von Selbstverwaltung vor, etwa für die Universitäten, deren Verwaltung im Gefolge des Mai 1968 durch die Loi E. Faure auf trilaterale Gremien übertragen wurde, die mit gewählten Vertretern der Hochschullehrer, des Verwaltungs- und Servicepersonals sowie der Studenten besetzt sind. Im Bereich der territorialen Verwaltung wirken die administrés im Gefolge der Dezentralisierungsgesetze über politische Mechanismen lokaler Demokratie an den Entscheidungen mit. Hier spielt auch das Referendum eine große Rolle. Jedoch handelt es sich dabei eher um Randerscheinungen, was ohne Zweifel den Aufschwung und die bemerkenswerte Entwicklung des Verbandswesens im öffentlichen Bereich erklärt, das auf seine Art dazu beiträgt, den Bürger in das Zentrum des Verwaltungshandelns zu rücken.

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Die administrés sind heute in der Verwaltung ohne Frage viel präsenter als früher. Trotz bestehender Schwierigkeiten zeigt der Verwaltungsapparat die Fähigkeit, sich zu entwickeln, sich anzupassen und die Notwendigkeit eines „Dialogs“ mit den administrés anzuerkennen, wie ihn die europäische Rechtskultur ohnehin fordert. Das ändert freilich nichts daran, dass der Status des administré als Kunde der Verwaltung noch keine umfassende rechtliche Gestalt angenommen hat. Der Ausbau der „démocratie administrative“ ist also noch lange nicht abgeschlossen.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › IV. Verwaltung und Rechtsschutz

IV. Verwaltung und Rechtsschutz

1. Einrichtungen des Schutzes

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Der gerichtliche Rechtsschutz gilt als wirksamster Schutz gegen Verwaltungswillkür. Vor allem aus diesem Grund war das Vertrauen in verwaltungsinterne Kontrollen lange Zeit sehr begrenzt. Der Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit – durch die Schaffung der tribunaux administratifs (Verwaltungsgerichte) 1953 und der cours administratives d’appel (Verwaltungsberufungsgerichte) 1987 sowie durch die Existenz vieler auf das Beamtenstatut und Fragen des Dienstalters spezialisierter Gerichtsbarkeiten – hat die Ausdifferenzierung interner Kontrollmöglichkeiten jedoch nicht verhindert. Insofern ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Aufstieg alternativer Methoden zur Beilegung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten ganz neue Konkurrenz erwachsen.

a) Die Vorherrschaft des gerichtlichen Rechtsschutzes

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Die Vorherrschaft des gerichtlichen Rechtsschutzes ist unbestritten. Sie folgt aus der Stellung des Conseil d’État im französischen Institutionengefüge. Die Entstehungsbedingungen und die Entwicklung der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit erklären ihre Schwierigkeiten mit den europarechtlichen Anforderungen. Ferner schließt die Verwaltungsgerichtsbarkeit, obwohl ihre Zuständigkeit weit angelegt ist,[118] die ordentliche Gerichtsbarkeit insofern nicht vollständig aus, als diese bestimmte Zuständigkeiten im Bereich der Verwaltung behält.

aa) Anerkennung und Berücksichtigung der Grundsätze eines fairen Verfahrens und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit

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Art. 6 und 13 EMRK, die unmittelbare Inspirationsquelle für Art. 47 GRCh sind, regeln gleichzeitig die Grundsätze eines fairen Verfahrens und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Auch wenn entsprechende Verfahrensgarantien dem nationalen Recht nicht unbekannt sind, gibt es doch Anpassungsprobleme, die zu der Behauptung geführt haben, es sei ein „Wirbelsturm über den Verwaltungsprozess hinweggefegt“ (Bernard Pacteau). Einige Beispiele belegen dies.

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Dies gilt zunächst und in erster Linie für die Grundsätze eines fairen Verfahrens. Hier steht der commissaire du gouvernement (unabhängiger Berichterstatter, der einen Entscheidungsvorschlag in der mündlichen Verhandlung unterbreitet) im Mittelpunkt. So hat die Berücksichtigung der Urteile Kress und Martinie[119] dazu geführt, dass die Regeln über seine Teilnahme an den Urteilsberatungen geändert worden sind. Nunmehr nimmt der commissaire du gouvernement an den Beratungen der Urteile der Instanzgerichte gar nicht mehr teil. An den Beratungen der Urteile des Conseil d’État nimmt er nicht teil, wenn der Rechtsmittelführer dies beantragt. Ferner wird eine Änderung der Bezeichnung vorbereitet. Diskutiert wird auch, ob den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit eingeräumt werden soll, auf den Schlussantrag zu antworten. Ganz unabhängig von dieser Problematik fordern die Urteile Procola und Société Sacilor Lormines[120] eine stärkere Spezialisierung innerhalb der Spruchkörper. Das letztgenannte Urteil hat sich sehr differenziert zu der Frage geäußert, ob und inwieweit die Doppelfunktion des Conseil d'État als Beratungsorgan einerseits und Gericht andererseits mit der Garantie eines „unabhängigen und unparteiischen … Gericht[s]“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar ist. Um insoweit bestehende Schwierigkeiten auszuräumen, setzt das Dekret vom 6.3.2008[121] die konventionsrechtlichen Anforderungen um, u.a. indem es das Prinzip der Zugehörigkeit der Mitglieder des Conseil d’État sowohl zu den administrativen als auch zu den gerichtlichen Untergliederungen aufhebt. Es führt ferner die Regel des Art. 20 Gesetz vom 24.5.1872 wieder ein, nach der „die Mitglieder des Conseil d’État nicht an der Urteilsfindung im Rahmen von Klagen gegen Entscheidungen teilnehmen dürfen, die unter ihrer Mitwirkung von Sektionen vorbereitet worden sind, denen sie angehören“. Für Fälle, in denen der Conseil d’État über eine Klage gegen einen Rechtsakt zu entscheiden hat, der auf Grundlage einer Stellungnahme einer seiner Sektionen erlassen wurde, sieht das Dekret vor, dass der Rechtsmittelführer auf Antrag eine Liste mit den Mitgliedern des Conseil d’État erhält, die an den Beratungen über die Stellungnahme beteiligt waren. Die mit einer Doppelzugehörigkeit der Mitglieder des Conseil d’État verbundenen Schwierigkeiten werden auch bei Erlass neuer Regelungen über die Besetzung der streitentscheidenden Untergliederungen berücksichtigt.[122] Es besteht vor diesem Hintergrund ohne Zweifel eine konventionsrechtlich angeleitete Tendenz in Richtung einer Trennung des Personals, die aber das Ineinandergreifen der beratenden und der rechtsprechenden Funktion nicht antastet und daher auch notwendigerweise keine vollständige Trennung sein kann.

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Probleme im Zusammenhang mit dem durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Grundsatz der Unparteilichkeit und dem Recht auf ein faires Verfahren hat auch die der Revision durch den Conseil d’État unterliegende disziplinarische Tätigkeit der Berufskammern aufgeworfen, weil sie administrative Befugnisse (Regelung und Kontrolle des Berufszugangs) und fachgerichtliche Befugnisse (im Disziplinarbereich) vereint. Sie haben schließlich dazu geführt, dass Gesetz- und Verordnungsgeber tätig geworden sind. So hat der Gesetzgeber erst kürzlich für die medizinischen Berufe eine deutliche Trennung der administrativ tätigen von den disziplinarisch tätigen Kammerorganen vorgenommen.[123]

 

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Mit Blick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf hat das französische Recht sodann sehr früh angenommen, dass, wie es Maurice Hauriou formuliert, „jeder Bürger ebenso wie er über das Wahlrecht verfügt, auch über ein Beschwerderecht verfügen muss“.[124] Hiervon zeugen die Konzeption eines intérêt à agir (Klageinteresse) oder die Tatsache, dass der recours pour excès de pouvoir (Klage wegen Überschreitung der Befugnisse) auch ohne ausdrückliche gesetzliche Bestimmung zulässig ist.[125] Dies ändert aber nichts daran, dass es der Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, der einerseits für Neuerungen verantwortlich zeichnet – etwa: die Anerkennung eines „droit des personnes intéressées d’exercer un recours effectif“ (Anspruch betroffener Personen auf einen wirksamen Rechtsbehelf),[126] der ein Grundrecht ist und als solches ein Eilverfahren rechtfertigen kann,[127] oder die Anerkennung des Rechts auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist als allgemeiner Rechtsgrundsatz[128] – und andererseits, weil das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf das ganze Gerichtsverfahren betrifft, eine Harmonisierung der einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen verlangt.