Ius Publicum Europaeum

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bb) Umsetzung

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Nach dem privilège de préalable haben Verwaltungsakte auch ohne vorherige gerichtliche Überprüfung Tatbestandswirkung. Der Verwaltungsakt ist mithin zu befolgen und gilt als rechtmäßig, bis er von einem Richter aufgehoben oder von der Verwaltungsbehörde selbst ex nunc (abrogation) oder ex tunc (retrait) aufgehoben wird. Für den Adressaten bedeutet das zugleich, dass ein Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat. In einem besonderen Verfahren kann aber die Suspendierung des Verwaltungsakts beantragt werden.[80] Die vorläufige Vollstreckung des Verwaltungsakts (exécution par provision oder exécution provisionnelle) ist die Ausnahme. In der Regel erfolgt die Erfüllung einer Norm freiwillig. Nur teilweise ist die Vollstreckung zulässig. Verwaltungszwang bleibt damit zwar die Ausnahme, die Verwaltungsbehörde kann aber bei Nichtbefolgung des Verwaltungsakts eine Strafe verhängen, die als repressive Maßnahme den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügen muss. Ferner kann sie bei Gericht entsprechende Strafen beantragen. Der administré wird so durch eine drohende Verwaltungs- oder Kriminalstrafe dazu angehalten, sich der Verwaltungsentscheidung freiwillig zu fügen. Angesichts der damit verbundenen Gefahren für die Grundrechte hat die Verwaltungsbehörde hingegen grundsätzlich nicht das Recht, ihre Entscheidungen im Wege des Verwaltungszwangs zu vollstrecken: Sie „darf nicht selbst die öffentliche Gewalt in Bewegung setzen, um den Vollzug von Akten der öffentlichen Gewalt mit Zwangsmitteln sicherzustellen, und … muss sich an die ordentliche Gerichtsbarkeit wenden, die die Nichtbefolgung feststellt, das Vergehen bestraft und die Anwendung materieller Zwangsmittel erlaubt“.[81] Daher ist Verwaltungszwang nur in drei Fällen zulässig: wenn das Gesetz ihn ausdrücklich zulässt, in Dringlichkeitsfällen und wenn die Vollstreckung durch die Verwaltung die einzig mögliche Art der Vollstreckung ist. Verwaltungszwang bedarf einer vorangehenden Androhung und erfolgt auf Risiko der Verwaltung.

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Bei der Vollziehung von Verträgen hat die Verwaltungsbehörde ein Weisungs- und Kontrollrecht. Dieses beinhaltet die Befugnis, bei einer Vertragsverletzung durch den Vertragspartner eine Strafe zu verhängen. Zusätzlich darf sie aus Gründen des allgemeinen Interesses den Vertrag einseitig ändern und auflösen. Sicher: Weder das Prinzip der Unantastbarkeit noch das der Änderbarkeit ist gesetzlich verankert; überdies unterliegt die Ausübung der entsprechenden Befugnisse, die nicht im Ermessen der Verwaltung steht, Beschränkungen. So dürfen weder der Vertragsgegenstand noch Sinn und Zweck des Vertrags geändert werden. Auch führt jede Änderung zu einer Entschädigung. Dennoch steht die Befugnis zu einseitigem Handeln im Gegensatz zur Logik des Vertrags, nach der der Vertrag das Gesetz der Vertragsparteien ist (Art. 1134 Code civil).

b) Die Ausübung administrativer Gewalt

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Das Verwaltungsverfahren, also die Gesamtheit der Vorschriften, die den Erlass administrativer Akte regeln, ist in Frankreich traditionell nicht kodifiziert. Obwohl an diesem Punkt zwei wichtige Anliegen der Regierenden zusammentreffen – nämlich einerseits der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, der insbesondere in einer Verbesserung des Zugangs der Bürger zum Recht Ausdruck findet und in dessen Lichte Zugänglichkeit und Verständlichkeit des Gesetzes zu Zielen mit Verfassungsrang erhoben worden sind,[82] sowie andererseits die Modernisierung des Staates, in deren Mittelpunkt die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und administrés steht –, hat es lange gedauert, bis die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens auf die Agenda gerückt ist, nur um dann schließlich doch ausdrücklich aufgegeben zu werden.[83] Dieses Schicksal der Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens illustriert das konfliktbeladene Verhältnis zwischen Kodifikationsidee und französischem Verwaltungsrecht besonders deutlich. Mehr noch: Es zeigt; dass das Verwaltungsverfahren als Opfer der Aufwertung des Richters zum überlegenen Beschützer der Rechte der administrés gegenüber Verwaltungswillkür als eigener Untersuchungsgegenstand lange vernachlässigt worden ist.[84] So werden Verfahrensgarantien zum Schutz Privater wie etwa die Entscheidungsreife (maturité des décisions administratives) häufig unter dem negativen Begriff „procédure administrative non contentieuse“ zusammengefasst. Freilich bedeutet diese Vernachlässigung des Verwaltungsverfahrens nicht, dass es keine Regelungen gibt. So zielt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Verfahrensrechte, die auch im französischen Recht anerkannt sind, wenn sie in Art. 41 das „Recht auf eine gute Verwaltung“ proklamiert, das insbesondere das Recht, gehört zu werden, das Recht auf Zugang zu den Akten und die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen, umfasst.

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Auch wenn die Verfahrensregeln, die sich auf den gesamten Entscheidungsvorgang beziehen, um Qualität und Effektivität des Verwaltungshandelns zu gewährleisten, ein einheitliches Ziel verfolgen, nämlich die Verwaltungsbehörden in Anhörungen und Untersuchungen mit den nötigen Informationen zu versorgen und gleichzeitig in einem kontradiktorischen Verfahren die Rechte der Gegenseite zu berücksichtigen, sind ihre Quellen vielfältig. Ebenso wie es kein allgemein anwendbares Regelungsregime für den Erlass von Verwaltungsakten gibt, existieren so viele Arten von Verwaltungsverfahren wie Arten von Verwaltungsentscheidungen – u.a. Entscheidungen durch den Präsidenten der Republik und den Premierminister, Verhängung von Strafen, Entscheidungen durch Kollegialorgane, stillschweigende Entscheidungen, Vergabe öffentlicher Aufträge. Ganz unabhängig davon, dass Rechtsprechung und Verwaltung selbst als traditionelle Quellen von Verfahrensregeln nicht versiegt sind, existieren unter dem Einfluss demokratischer, europa- und speziell unionsrechtlicher Anforderungen mittlerweile allgemeine Verfahrensvorschriften in Form von Gesetzen und Verordnungen.

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Seit langem haben Richter allgemeine Verfahrensregeln entwickelt (u.a. – auf Grundlage des Gesetzes von 1905, das von den Beamten die Mitteilung des Akteninhalts verlangte – Verteidigungsrechte, Voraussetzungen für die Durchführung einer öffentlichen Untersuchung, die Begründung des Verwaltungshandelns, Konsultationsverfahren). Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglichte der Rückgriff auf „allgemeine Rechtsprinzipien“ eine Vervielfältigung der allgemeinen Verfahrensregeln, die zu einer zunehmenden Beschränkung der Verwaltungsbehörden führte.[85] Dazu gehören insbesondere der Grundsatz der Unparteilichkeit, der Grundsatz der Anfechtbarkeit jeder Verwaltungsmaßnahme in einem Beschwerdeverfahren und der Gleichheitsgrundsatz. Verfahrensregeln, die auf einem allgemeinen Rechtsprinzip basieren, beanspruchen allgemein Geltung. Gleiches gilt für die seit den 1970er-Jahren entstandenen Gesetzestexte: u.a. das Gesetz über die Begründung von Verwaltungsakten (vom 11.7.1979), das Gesetz über den Zugang zu Verwaltungsdokumenten (vom 17.7.1978) und das Gesetz über die elektronische Datenverarbeitung (vom 6.1.1978). Die Idee, dieses Ensemble von Regeln in einem Textkörper zusammenzufassen, ist fortgeschritten. An die Stelle des gescheiterten Verwaltungsgesetzbuchs ist dabei wohl die Idee einer Art „Nutzer-Charta“ getreten. Spuren finden sich im Dekret vom 28.11.1983 über die Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Nutzern, auch wenn dieser Text das Scheitern des ambitionierteren Projekts einer „Charta der Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Nutzern“[86] dokumentiert, sowie ferner im wichtigen Gesetz vom 12.4.2000 über die Rechte der Bürger in ihren Beziehungen zur Verwaltung, das ein weites Feld von Verfahrensregeln bestellt. Schließlich wird die angesichts des Fehlens eines Gesetzbuchs oder einer Charta bestehende Lücke im französischen Recht durch einen Ersatz rein privaten Ursprungs geschlossen: Auf Grundlage eines vom Kodifikationsausschuss (Commission supérieure de codification) 1988 beschlossenen Entwurfs ist ein ausgezeichneter Code de l'administration (Verwaltungsgesetzbuch) erschienen, der einen Abschnitt über die Beziehungen der Verwaltungen zu den Bürgern enthält.[87]

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Als Antwort auf Korruption und unionsrechtliche Vorgaben hat sich das Verwaltungsvertragsrecht seit den 1990er-Jahren weiterentwickelt. Durch die Gesetze zur Korruptionsprävention und zur Gewährleistung von Transparenz bei der öffentlichen Auftragsvergabe sowie Gleichheit der Bewerber in wettbewerblichen Strukturen ist das Vertragsrecht komplexer geworden, ohne dass es sich grundlegend geändert hätte. Das Unionsrecht hat hier vom französischen Recht, das bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierte Regelungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge kennt, Impulse empfangen. Auch wenn die bestehenden Regelungen in dieser Entwicklung verbessert worden sind, etwa durch Schaffung und Umsetzung einer Richtlinie über den Rechtsschutz vor der Zuschlagsentscheidung, geht eine gewisse Kontinuität der Lösungen doch verloren. So bestehen heute für verschiedene Vertragskategorien unterschiedliche Regelungen wie etwa der Code des marchés publics (Gesetzbuch der öffentlichen Aufträge), der 2006 novelliert wurde, oder die Regelungen im Gesetz vom 29.1.1993 über Verträge zur Übertragung von services publics.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › III. Verwaltung und Demokratie

 

III. Verwaltung und Demokratie

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Nach Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte liegt „[d]er Ursprung aller Souveränität … ihrem Wesen nach bei der Nation. Keine Körperschaft und kein Einzelner darf eine Gewalt ausüben, die nicht von ihr ausgeht.“ Art. 15 der Erklärung gibt der „Gesellschaft … das Recht, von jedem Beamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen“. Auf Grundlage dieser verfassungsrechtlichen Normen wird die demokratische Legitimation der Verwaltung klassischerweise aus den Wahlen abgeleitet. Sie findet ihren Ausdruck in den Beziehungen zwischen der Verwaltung als einem Teil der Exekutive und dem Parlament. Die Entwicklung der Ansprüche der Bürger hat die Beziehung zwischen Verwaltung und den administrés tiefgreifend verändert und dabei das Thema einer „démocratie administrative“ in den Vordergrund gerückt.

1. Verwaltung und Parlament[88]

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Traditionsgemäß und infolge ihrer Funktion, die Beziehungen zwischen den obersten Staatsorganen zu regeln, enthält die Verfassung der V. Republik nur wenige Vorschriften über die Verwaltung. Im Wesentlichen legt sie zwei Prinzipien fest: die Unterordnung der Verwaltung unter die Regierung und die Unabhängigkeit der Staatsbeamten von den politischen Kräften. Als Teil der Exekutive ist die Verwaltung in deren hierarchische Ordnung einbezogen und unterliegt, vermittelt durch die Organe der Exekutive, parlamentarischer Kontrolle. Sie nimmt damit an der Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative teil. Die Rolle der Regierungs- und Verwaltungsbehörden bei der Gesetzgebung ist umgekehrt proportional zur parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung.

a) Die Rolle der Verwaltung bei der Gesetzgebung

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Die Verwaltung ist in vielfältiger Weise an der Entstehung abstrakt-genereller Normen beteiligt. Gemeint sind alle Regelungen, die in der Verfassung, in internationalen Verträgen, in Gesetzen oder in der Rechtsprechung zu finden sind (und die folglich auf den Verfassunggeber, die Staaten, den Gesetzgeber oder den Richter zurückgehen), aber auch Regelungen, die in Verordnungen (règlements) enthalten sind und von der Exekutive, also auch der Verwaltung, ausgehen.[89]

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Die Beteiligungsformen sind vielfältig. So kann die Exekutive nicht nur durch den Erlass von Durchführungsverordnungen (règlements d’exécution des lois) Gesetze konkretisieren, sondern auch neben der Legislative gesetzesunabhängige Verordnungen (règlements autonomes) erlassen. Ferner spielt die Verwaltung eine große Rolle bei der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorhaben, die dann von anderen Organen, insbesondere der Regierung und dem Parlament, durchgeführt werden.

aa) Erlass von Normen

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Als wichtigste Neuerung der Verfassung von 1958 haben sich allmählich die materiellen Grenzen der parlamentarischen Gesetzgebung herauskristallisiert. Über einen langen Zeitraum hinweg, in dem Gesetz- und Verordnungsgebung nicht aufgrund des Regelungsgegenstands, sondern im Sinne eines Stufenverhältnisses voneinander abgegrenzt wurden, unterlag die parlamentarische Gesetzgebung keinen inhaltlichen Grenzen: Das parlamentarische Gesetz enthielt die eigentliche Regelung, die Verordnung sicherte ihre Ausführung. Erst während der III. und IV. Republik ändert sich dieser Ansatz. Es kommt zu einer „Spaltung“ innerhalb der verordnungsgebenden Gewalt: An die Seite der gesetzesausführenden tritt die autonome Verordnung, die es der Exekutive ermöglicht, Regelungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zur Gewährleistung eines funktionierenden service public zu treffen.[90] Gleichzeitig definiert die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Bereiche, die nach republikanischer Tradition dem Gesetz vorbehalten sind.[91] Zusätzlich werden in den 1920er-Jahren Gesetzgebungsbefugnisse auf den Verordnungsgeber übertragen. Rechtsakte, die auf dieser Grundlage erlassen wurden, wurden als Akte der Verwaltung angesehen, bis sie vom Parlament ratifiziert wurden. Art. 13 der Verfassung von 1946[92] verbietet diese Praxis, wird aber auf drei komplementären Wegen umgangen: Das als „loi Marie“ bezeichnete Gesetz vom 17.8.1948, der erste Versuch einer Unterscheidung zwischen Gesetz und Verordnung nach Maßgabe des Regelungsgegenstands, definiert Bereiche, für die kraft Natur der Sache der Verordnungsgeber zuständig ist. Das Parlament erlässt insoweit nur „lois cadre“ (Rahmengesetze), die der Regierung einen Spielraum belassen. Die Stellungnahme des Conseil d’État vom 6.2.1953 unterscheidet zwischen der Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis, die nach Art. 13 verboten ist, und der temporären Erweiterung der Verordnungsbefugnis, der Art. 13 nicht entgegensteht. Dabei werden auch die jeweils relevanten Sachbereiche genannt. Indem sie dem Gesetzgeber Grenzen ziehen, sind auch die heutigen Art. 34 und 37 CF Teil dieser Entwicklung: Art. 34 CF zählt die Bereiche, für die der Gesetzgeber zuständig ist, abschließend auf und verfährt damit nach dem Prinzip der „Einzelermächtigung“, denn gemäß Art. 37 Abs. 1 CF werden „Bereiche, die nicht Gegenstand der Gesetzgebung sind, … auf dem Verordnungsweg geregelt“. Art. 34 CF scheint zwar zwischen Bereichen, die durch Gesetz geregelt werden, und solchen, für die durch Gesetz nur die Grundsätze geregelt werden, zu unterscheiden. Die Auslegung durch die Verwaltungsgerichte und den Conseil constitutionnel zeugt aber nicht nur von einem einheitlichen Verständnis des Art. 34 CF, sondern toleriert auch eine an den Bedürfnissen der Praxis ausgerichtete Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten des Gesetzgebers und den Zuständigkeiten des Verordnungsgebers: einerseits durch eine weite Auslegung der in Art. 34 CF aufgezählten Bereiche, andererseits durch Verfahrensregeln, nach denen ein Gesetz einen der Verordnung zugewiesenen Bereich regeln kann, ohne verfassungswidrig zu sein, und umgekehrt ein Gesetz verfassungswidrig ist, wenn es einen dem Gesetzgeber zugewiesenen Bereich nicht vollständig ausschöpft.[93]

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Der weite Bereich, in dem der Verordnungsgeber gesetzesunabhängig tätig werden kann (Art. 21 CF), kann ferner vorübergehend erweitert werden – durch gesetzliche Ermächtigung (Art. 38 CF) oder durch Referendum.[94] Während die zweite Möglichkeit eher Ausnahmecharakter hat, wird der Rückgriff auf Art. 38 CF zunehmend zu einem üblichen Verfahren der Rechtsetzung. Bei gesetzesausführenden Verordnungen ist der Verordnungsgeber an das ermächtigende Gesetz gebunden. Bei der übertragenen Gesetzgebung wäre das eigentlich auch so, wenn nicht das Parlament weitgehenden Kompetenzverzichten zustimmen würde.[95] Unter diesen Vorbehalten und unter Berücksichtigung des Gesetzmäßigkeitsprinzips verfügen die Regierungs- und Verwaltungsbehörden über einen Spielraum, in dem man mit Blick auf die gerichtliche Kontrolle auch eine Überdehnung des Gesetzmäßigkeitsprinzips sehen könnte.

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Die Behauptung, das Rechtsetzungsermessen entziehe das Verwaltungshandeln der Gesetzmäßigkeit, setzt freilich die Annahme voraus, Verwaltungsakte – und das Verwaltungshandeln insgesamt – seien nichts anderes als logische Ableitungen aus höherrangigen Normen. Mit der Forderung, die Verwaltung müsse aktiv und gestaltend tätig werden und benötige daher einen gewissen Spielraum, lässt sich das kaum vereinbaren. Die traditionelle und vereinfachende Gegenüberstellung von gebundener Verwaltung und Ermessensverwaltung ermöglicht aber nichtsdestotrotz, die Bedingtheit des Verwaltungshandelns zu erfassen. Die Ermessensfreiheit der Verwaltung ist Ausdruck ihrer Autonomie, bleibt aber an Rechtssätze gebunden: Um die Ermessensausübung beurteilen zu können, bedarf es einer Ermittlung des eingeräumten Ermessens bezüglich des gesamten Handelns (unbedingte Befugnis oder bedingte Befugnis im Sinne eines Handlungsvorbehalts, einer Handlungsmöglichkeit oder einer Handlungspflicht), des Inhalts der Maßnahme (autonome oder gesetzesunabhängige Verordnungen, von einer bereits existierenden Regelung mehr oder weniger umfassende und präzise vorgegebene gesetzesausführende Verordnungen oder von höherrangigem Recht vorgesehene Bewilligung von Ausnahmen) und des Handlungszeitpunkts (Fristen). Es gibt auch Abstufungen des Ermessens, die die Wirklichkeit des Verwaltungshandelns abbilden. Alles in allem: Auch wenn die Verwaltung nicht über ein Maß an Ermessen verfügt, das ihr eine der verfassunggebenden Gewalt vergleichbare Ungebundenheit (Souveränität) verleiht, reicht ihre Befugnis zum Erlass abstrakt-genereller Vorschriften doch sehr weit. Die Ausübung dieser Befugnis unterliegt allerdings einerseits gerichtlicher Kontrolle und ist andererseits durch die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie weitgehend beschränkt. An den Grenzen dieser Demokratie bewegen sich die unabhängigen Verwaltungsbehörden. Sie sind zwar Organe der Exekutive, zur Verwirklichung ihrer Unabhängigkeit aber einerseits dem Einflussbereich der Regierung entzogen und andererseits selbst mit einem Verordnungsrecht ausgestattet. Obwohl ihre Einrichtung auf den Gesetzgeber zurückgeht, ist die politische Kontrolle der unabhängigen Verwaltungsbehörden daher defizitär.[96]

bb) Beteiligung an der Normsetzung

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Die weitreichenden Befugnisse der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren werfen die Frage auf, wie frei die Legislative bei der Einbringung von Vorschlägen, ihrer Diskussion und der abschließenden Entscheidung noch ist, unterliegt doch das Gesetzgebungsverfahren bestimmten Verfahrenszwängen wie etwa den Regeln über die Festlegung der Tagesordnung, die von der Regierung beherrscht wird (Art. 48 CF), oder der Befugnis der Regierung, das Parlament zur Annahme eines Entwurfs ohne Änderung und Debatte zwingen zu können (Art. 44 und Art. 49 Abs. 3 CF).[97] Zudem ist zu bedenken, dass der großen Mehrheit der verkündeten Gesetze Regierungsentwürfe zugrunde liegen. Die Gesetzesentwürfe werden dabei ebenso wie die Verordnungsentwürfe auf ministerielle Anordnung von den jeweiligen Verwaltungen ausgearbeitet; sie sind Gegenstand interministerieller Debatten und einer Überprüfung durch die juristischen Dienste, die sich in allen Ministerien entwickelt haben. Im Laufe dieses verwaltungsinternen Prozesses und vor ihrer Annahme durch den Conseil des ministres (Ministerrat), das höchste Gremium der interministeriellen Zusammenarbeit, werden die Gesetzes- und Verordnungsentwürfe aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen dem Conseil d’État vorgelegt, der traditionell die Regierung berät und das einzige umfassende Konsultativorgan ist.

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Der Conseil d’État bezieht seine Macht aus seiner Doppelfunktion als Berater und als Gericht. Aus diesem Grund und obwohl ihm die Kompetenz für die in Rede stehende Materie rechtlich nicht übertragen worden ist, haben die prinzipiell geheimen Stellungnahmen des Conseil d’État selbst dort, wo ihre Einholung nicht obligatorisch ist, große Bedeutung erlangt. Obligatorisch ist die Einholung der Stellungnahme des Conseil d’Etat vor der Beratung im Conseil des ministres für alle Gesetzesentwürfe, alle Verordnungsentwürfe (die daher als „décrets en Conseil d’État“ bezeichnet werden) sowie alle anderen Texte, für die eine Vorlage gesetzlich vorgesehen ist. Die Regierung ist zwar nicht verpflichtet, der Stellungnahme zu folgen, sie kann aber nur entweder den ursprünglichen Entwurf beibehalten oder ihn in der Fassung der Stellungnahme des Conseil d’État weiterverfolgen. Unzulässig ist die Verwendung einer dritten Fassung, ohne dass diese zuvor erneut dem Conseil d’État vorgelegt wird. Außerdem kann die Regierung fakultative Stellungnahmen einholen (bei den sogenannten décrets simples) oder auch Stellungnahmen zu „Schwierigkeiten im Bereich der Verwaltung“. Der Conseil d’État erstellt ferner Untersuchungen zu bestimmten Themengebieten, die (zum Beispiel im Bereich der Bioethik) Ausgangspunkt von Gesetzesvorhaben sein können. Um seine Beratungsfunktion erfüllen zu können, hat er spezielle Strukturen, die erst kürzlich gestärkt worden sind. Ein Dekret vom 6.3.2008, das der erste Bestandteil eines umfassenden Vorhabens ist, enthält vor allem eine Antwort auf die seit beinahe 20 Jahren kritisierte – schlechte – Qualität der Normen und ihre inflationäre Vermehrung. In der Annahme, dass „Frankreich zu viel und zu schlecht legiferiert“,[98] hat der Conseil d’État zwei Berichte zur Rechtssicherheit veröffentlicht, 1991 und 2006.[99] Zu dieser Situation, deren Gründe vielfältig sind, tritt die Entwicklung der übertragenen Gesetzgebung, die im Begriff ist, zum üblichen Modus der Gesetzgebung zu werden.[100]

 

89

Als Beteiligter am Rechtsetzungsverfahren ist der Conseil d’État großem qualitativen und quantitativen Druck ausgesetzt, da er bei der Rechtsetzung mittels gesetzesvertretender Verordnungen (législation par ordonnances) noch enger in die Ausarbeitung der Texte einbezogen ist. So hat der Conseil d’État alleine 2005 und nur unter Berücksichtigung der Zusammenkünfte der assemblée générale (Vollversammlung) 44 Sitzungen abgehalten, „die oft von 9 bis 20 Uhr dauerten. Die assemblée générale hat dabei 48 Gesetzesentwürfe der Regierung (darunter vier Entwürfe verfassungsausführender Gesetze), zehn Entwürfe betreffend den Abschluss internationaler Abkommen und 74 Entwürfe gesetzesvertretender Verordnungen geprüft.“[101] Um in dieser Situation die Effektivität der Tätigkeit zu steigern, ohne die Zahl der Mitglieder zu erhöhen, wurde einerseits eine neue section de l’administration (Sektion für die Verwaltung) eingerichtet, mit der zusammen nun fünf statt wie bisher vier Sektionen beratende Aufgaben wahrnehmen.[102] Andererseits wird die Behandlung der vorgelegten Angelegenheiten nach ihrer Bedeutung und Komplexität abgeschichtet. Und schließlich gibt es eine neue Zuständigkeitsverteilung unter den beratenden Organen. Die Strukturreform im Bereich der beratenden Tätigkeit des Conseil d’État knüpft an das Bestreben an, seine Rolle im Rechtsetzungsverfahren zu stärken. Es ist angesichts der Allgemeinheit und Ausgestaltung ihrer Aufgaben tatsächlich schwer, zwischen der section de l’administration und der section de législation (Sektion für Gesetzgebung) keine Analogie zu ziehen, zumal dies in den Kontext passt. Denn auf den Vorschlag der Balladur-Kommission hin, auch der Legislative nach dem Vorbild der Exekutive die Möglichkeit einzuräumen, den Conseil d’État für eine Stellungnahme zu einem Gesetzesentwurf anzurufen,[103] hat der verfassungsändernde Gesetzgeber schließlich im Zuge der Verfassungsänderung vom 23.7. 2008 einen Art. 39 Abs. 5 CF eingefügt: „Nach Maßgabe dieses Gesetzes kann der Präsident einer Kammer dem Conseil d’État einen Gesetzesvorschlag eines der Mitglieder dieser Kammer vor seiner Beratung im Ausschuss zur Stellungnahme vorlegen, sofern dieses Mitglied dem nicht widerspricht.“[104] Die Regelung ist bisher nicht zur Anwendung gekommen und es ist mit Blick auf konträre Traditionen auch zweifelhaft, ob dies jemals geschehen wird. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der Conseil d’État als Verwaltungsorgan, das seine Legitimität aus seiner fachlichen Kompetenz bezieht, im Zentrum einer Bewegung steht, die auf die Aufwertung der Rolle von Experten bei der Ausarbeitung der Gesetze zielt.