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Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich

Pascale Gonod

§ 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich[1]

Allgemeine Hinweise

I.Prinzipien des Verwaltungsrechts1 – 45

1.Die Grundlagen2 – 26

a)Die Verwaltungsgerichtsbarkeit5 – 15

aa)Die französische Konzeption der Gewaltenteilung6 – 8

bb)Die Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung9 – 15

b)Die öffentliche Verwaltung16 – 26

aa)Identifizierung17 – 23

bb)Unterordnung und Unabhängigkeit24 – 26

2.Die Ausprägungen27 – 45

a)Die Verbindung von allgemeinem Interesse und Schutz der administrés28 – 36

aa)Öffentliche Gewalt, Gesetzmäßigkeits- und Verantwortlichkeitsprinzip29 – 31

bb)Erneuerung der Bedingungen der Ausübung öffentlicher Gewalt32 – 36

b)Die approche contentieuse des Verwaltungsrechts37 – 45

aa)Ein nicht kodifiziertes Recht38 – 41

bb)Anpassungen der Verwaltungsrechtsprechung42 – 45

II.Verwaltung und Steuerung46 – 79

1.Die Veränderungen: Territorien und Beamte47 – 67

a)Das Ende der Zentralisation?48 – 59

aa)Überblick über die territorialen Strukturen50 – 52

bb)Die Dezentralisierung53 – 56

cc)Die Dekonzentration57 – 59

b)Welche Verfassung des öffentlichen Dienstes?60 – 67

aa)Staatsbürgerschaft und öffentlicher Dienst63, 64

bb)Uniformität und Effizienz65 – 67

2.Der Fortbestand der administrativen Gewalt68 – 79

a)Verwaltungsakte und Verträge als Ausdruck administrativer Gewalt69 – 75

aa)Identifizierung70 – 73

bb)Umsetzung74, 75

b)Die Ausübung administrativer Gewalt76 – 79

III.Verwaltung und Demokratie80 – 101

1.Verwaltung und Parlament81 – 93

a)Die Rolle der Verwaltung bei der Gesetzgebung82 – 89

aa)Erlass von Normen84 – 86

bb)Beteiligung an der Normsetzung87 – 89

b)Die parlamentarische Kontrolle der Verwaltung90 – 93

2.Die „démocratie administrative“94 – 101

a)Eine transparentere und bürgernähere Verwaltung95 – 97

b)Auf dem Weg zu einer „citoyennité administrative“?98 – 101

IV.Verwaltung und Rechtsschutz102 – 144

1.Einrichtungen des Schutzes102 – 123

a)Die Vorherrschaft des gerichtlichen Rechtsschutzes103 – 110

aa)Anerkennung und Berücksichtigung der Grundsätze eines fairen Verfahrens und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit104 – 107

bb)Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Verwaltungssachen108 – 110

b)Die Diversifizierung der Verwaltungskontrolle111 – 116

aa)Aus der Funktionsweise der Verwaltung resultierende Kontrolle112, 113

bb)Die Kontrolle durch unabhängige Behörden114 – 116

c)Aufstieg alternativer Methoden zur Beilegung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten117 – 123

aa)Schlichtung und Mediation118 – 120

bb)Vergleich und Schiedsverfahren121 – 123

2.Die gerichtlichen Rechtsbehelfe124 – 144

a)Die Vielfalt an Rechtsbehelfen125 – 133

aa)Anwendungsbereiche von recours pour excès de pouvoir und recours de plein contentieux126 – 129

bb)Gegensatz und Annäherung von recours de pleine juridiction und recours pour excès de pouvoir130 – 133

 

b)Die Intensität der Kontrolle134 – 138

c)Die Wirksamkeit des Schutzes139 – 144

aa)Verfahren und Zeit140, 141

bb)Die Umsetzung von Entscheidungen142 – 144

V.Schlussbemerkungen: Das Recht auf eine gute Verwaltung145 – 148

Bibliographie

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › Allgemeine Hinweise

Allgemeine Hinweise

Abkürzungen


AJDA L’Actualité juridique – Droit administratif
CADA Commission d’accès aux documents administratif
CCass Cour de cassation
CC Conseil constitutionnel
CF Constitution française
CE Conseil d’État
CGCT Code général des collectivités territoriales
CJA Code de justice administrative
ENA École nationale d’administration
GA M. Long/P. Weil/G. Braibant/P. Delvolvé/B. Genevois, Les grands arrêts de la jurisprudence administrative, 162007
IFSA Institut français des sciences administratives
JCP Juris-Classeur Périodique
JO Journal officiel
LOLF Loi organique relative aux lois des finances
RFDA Revue française de droit administratif
TC Tribunal des conflits

Siehe im Übrigen die allgemeinen Hinweise zu Olivier Jouanjan, IPE I, § 2, Catherine Haguenau-Moizard, IPE II, § 15, Luc Heuschling, IPE II, § 28, und Patrice Chrétien, IPE IV, § 59.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › I. Prinzipien des Verwaltungsrechts

I. Prinzipien des Verwaltungsrechts

1

„Le propre de l’État français est d’être administratif. Ce n’est pas l’État qui a créé l’administration mais bien l’inverse.“[2]

Um den Aufbau des französischen Verwaltungsrechts und seine Entwicklung und Bedeutung in Frankreich zu verstehen, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die Zentralisierung der Verwaltung „den Staat errichtet und Frankreich geschaffen hat“.[3] Historisch betrachtet hat die Tradition der Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung eine Sonderstellung eingeräumt. Parallel dazu hat sich als Korrektiv die Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt. Aus diesem Prozess, der zwei gegenläufige, sich ergänzende Erscheinungen miteinander verbindet, ist das französische Verwaltungsrecht entstanden, auch wenn die Verwaltung seit der Monarchie ihr eigenes Recht geschaffen hat.[4] Um den Aufbau des Verwaltungsrechts und das Wesen des Rechts der öffentlichen Verwaltung in seinen wichtigsten Ausprägungen zu erfassen, ist es erforderlich, auf die grundlegenden Prinzipien einzugehen.

1. Die Grundlagen

2

Die Republik, die nach dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs entsteht, versteht es, die öffentliche Gewalt zur Verwirklichung ihres Programms zu nutzen. Die Verwaltung hat dabei als Instrument der Exekutive die Aufgabe, die materielle und rechtliche Umsetzung dieser Gewalt zu gewährleisten, an der sie als „Staatsapparat (appareil d’État)“ teilhat. Aus wirtschaftlichen (industrielle Revolution), sozialen (demografische Entwicklung und Urbanisierung) und politischen (vorübergehende Wiederherstellung des kaiserlichen Absolutismus) Gründen sieht sich die Regierung der Republik dabei mit einer Verwaltung konfrontiert, die sich stetig weiter organisiert, entwickelt und verbessert, und die noch immer von einer obrigkeitsstaatlichen und a priori kaum mit dem demokratischen Ideal zu vereinbarenden Tradition geprägt ist. Die Republikaner innerhalb der Regierung, die in der Tradition des französischen Etatismus stehen, verstärken diese Bewegung, da „die Republik noch beweisen muss, dass sie das Beste für alle ist und dass sie zum Fortschritt der Mehrheit und der Ärmsten beiträgt“.[5] Dies führt zu einer Ausweitung der Kompetenzen und Vorrechte der Verwaltung und vergrößert ihre Autonomie. Ungeachtet des republikanischen Dogmas von der Unterordnung der Verwaltung unter die Regierung ist der „pouvoir administratif“ dabei keiner effektiven politischen Kontrolle mehr unterworfen: Zwar verfügt die stark zentralisierte Verwaltung über eine Art „réflexe monarchique“, der dem Hierarchieprinzip großen Raum lässt. Letzteres wird aber nicht nur durch die territorialen Verwaltungsreformen eingeschränkt. Auch die Erfahrungen mit der Schwäche der Exekutivgewalt in der III. Republik verhindern die Schaffung des nötigen Gegengewichts zur Administrativgewalt, zumal sich zeigt, dass das Parlament seinerseits unfähig ist, den Verwaltungsapparat effektiv zu steuern und zu kontrollieren.

3

Vor diesem Hintergrund sind die richterlichen Mechanismen nicht nur aufgerufen, Defizite des gesetzlichen Freiheitsschutzes zu kompensieren. Sie sollen auch die Anforderungen des Parlamentarismus mit der jahrhundertealten Tradition einer monarchisch geprägten Verwaltung in Einklang bringen. Der Conseil d’État (Staatsrat), dem durch das Gesetz vom 24.5.1872 der Status eines Gerichts verliehen und dessen Beratungsfunktion gefestigt wird, steht im Zentrum der Konfrontation, da es ihm obliegt, zwischen der Notwendigkeit administrativen Handelns und seiner Begrenzung zu vermitteln. Er gewährleistet eine „collaboration“ zwischen Regierung und Verwaltung, deren gerichtliche Kontrolle gleichzeitig Schutz vor willkürlichem Verwaltungshandeln bietet. Dabei drängt die richterliche Sanktion sowohl die Begrenzung der Ziele des Staates als auch die politische Sanktion, auf der die Konzeption des Staates von 1789 beruhte, in den Hintergrund: Einerseits bekommen die administrés (Verwaltungsunterworfene)[6] mit dem recours (Beschwerde) ein Instrument zum Protest gegen die Staatsgewalt, das wesentlich wirksamer ist als ein Widerstandsrecht gegen einen Staat, der das Gewaltmonopol inne hat; andererseits ermöglicht der recours den Gerichten nicht nur den Schutz der Rechte des administré, sondern auch die Unterwerfung der Verwaltung unter die Regeln des Rechts.[7] Eine solche Konzeption dient unzweifelhaft der republikanischen Lehre, nach der der staatliche Eingriff ein Instrument des gesellschaftlichen Fortschritts und die Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Bedingung für die Errichtung der Republik ist. Anders ausgedrückt: Es bleibt dem Conseil d’État überlassen, „das historische Kunststück“ zu vollenden, das darin besteht, „sich den Liberalismus anzueignen, ohne das monarchische Erbe gänzlich zu verleugnen“ (Pierre Legendre), mit anderen Worten, die Verwaltung zu beschränken, um sie besser zu organisieren.

4

Daher ist die Form des heutigen Verwaltungsrechts in hohem Maße abhängig von der Tätigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie sich in der Republik, deren Produkt das Verwaltungsrecht ist, gefestigt hat; die Besonderheit des Verwaltungsrechts in Frankreich resultiert mehr aus den Bedingungen seiner Entwicklung als aus den der Verwaltung übertragenen Aufgaben.

a) Die Verwaltungsgerichtsbarkeit

5

Das Gesetz vom 24.5.1872 erlaubt die Übernahme von Mechanismen der Verwaltungskontrolle aus der Kaiserzeit in die Republik, insbesondere die Aufrechterhaltung der Institutionen, die durch die Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13.12.1799) geschaffen worden waren. Da es sich dem Dualismus der Gerichtsbarkeiten und seinen rechtlichen Grundlagen widmet, leistet es der Erneuerung der formal bestätigten Verwaltungsgerichtsbarkeit Vorschub. In dieser verbinden sich eine bestimmte Konzeption der Gewaltenteilung – oft als französische Konzeption der Gewaltenteilung bezeichnet – mit der Unabhängigkeit des Verwaltungsrichters.

aa) Die französische Konzeption der Gewaltenteilung

6

Ausgangspunkt der post-revolutionären Errichtung eines Verwaltungsrechts ist die Bekräftigung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und seiner „französischen“ Ausprägung. Diese ist bis heute für den Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) Bezugspunkt für die Annahme eines von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Rechtsprinzips: „In Anbetracht dessen, dass die Vorschriften der Art. 10 und 13 des Gesetzes vom 16. und 24.8.1790 und des Dekrets vom 16. Fructidor des Jahres III [2.9.1795], die das Prinzip einer Trennung von Verwaltung und ordentlicher Gerichtsbarkeit allgemein festgeschrieben haben, selbst keinen Verfassungsrang haben; dass aber dennoch entsprechend der französischen Konzeption der Gewaltenteilung zu den ,grundlegenden Rechtsprinzipien der Gesetze der Republik‘ auch das Prinzip gehört, dass mit Ausnahme der Sachen, die ihrem Wesen nach der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehalten sind, für die Aufhebung oder Veränderung von Entscheidungen, die die zur Ausübung exekutiver Gewalt berufenen Behörden, ihre Beamten, die Gebietskörperschaften der Republik oder solche öffentlichen Einrichtungen, die deren Befehlsgewalt oder Kontrolle unterworfen sind, in Ausübung der Vorrechte öffentlicher Gewalt getroffen haben, die Verwaltungsgerichte zuständig sind.“[8]

7

Im Rahmen der Gewaltenteilung beschränkten die Revolutionäre die Rolle der Verwaltung auf den Vollzug der Gesetze. Sie verfügte daher nicht über eine eigene Rechtsetzungsbefugnis. Dennoch ist der aus der Trennung von Verwaltung und ordentlicher Gerichtsbarkeit resultierende Grundsatz, dass die Gerichte nicht über Streitfälle mit Bezug zur Verwaltung entscheiden dürfen, grundlegend für die Entstehung eines spezifischen Verwaltungsrechts. Obwohl das Gerichtsorganisationsgesetz vom 16. und 24.8.1790 in Art. 13 betont, dass „die Funktion der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Funktion der Verwaltung verschieden sind und immer getrennt bleiben“ und „die Richter unter Androhung von Strafe weder die Tätigkeit der Verwaltung in irgendeiner Weise stören noch die Verwaltungsbeamten wegen ihrer Amtsausübung vorladen dürfen“, will es der ordentlichen Gerichtsbarkeit keineswegs die verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten entziehen; es soll sie vielmehr nur dazu anhalten, ihre rechtsprechende Funktion zu wahren, und ihr die Beteiligung an der vollziehenden Gewalt durch Vornahme von Verwaltungsmaßnahmen untersagen. Nichtsdestotrotz haben die historischen Umstände doch zu einem Entzug der verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten geführt: Das Gesetz vom 6., 7. und 11.9.1790 überträgt den gewählten lokalen Verwaltungsbeamten (administrateur locaux élus) die Zuständigkeit für zahlreiche Verwaltungsbeschwerden, und das Gesetz vom 7. bis 14.10.1790 behält dem König als Chef der allgemeinen Verwaltung „die auf die Unzuständigkeit der Verwaltungsbehörden gestützten Beschwerden“ vor. Auf Grundlage dieser Regelungen hat sich während des gesamten 19. Jahrhunderts die Idee einer französischen Konzeption der Gewaltenteilung entwickelt, nach der „das Richten über die Verwaltung immer noch Verwaltung ist“.[9]

 

8

Die Anwendung dieses „Prinzips“ macht den Verwaltungsrechtsstreit zum bloßen Anhängsel der aktiven Verwaltung und lässt den Gedanken aufkommen, die Verwaltung sei (einzige) Richterin in eigener Sache. Anders ausgedrückt: Die Bedingungen und der Grad der Unterwerfung der Verwaltung unter das Recht ändern sich in einem Maße, das an Willkür grenzt. Ausgehend von dem genannten Prinzip wird daher ein Kompromiss angestrebt, der einerseits die Kontrolle der Verwaltung gewährleistet und andererseits ihre Handlungsfreiheit wahrt. Er führt zu einer weiteren Trennung innerhalb der Verwaltung selbst, nämlich jener zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung.[10]

bb) Die Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung

9

Konsulat und Kaisertum führen zu einer Spezialisierung der Aufgaben innerhalb der Verwaltung. So führt die Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13.12.1799) den Conseil d’État ein und legt seine drei Hauptaufgaben in den Bereichen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung fest. In Art. 52 heißt es: Der „Conseil d’État ist betraut mit der Abfassung von Gesetzentwürfen und Verordnungen der öffentlichen Verwaltung sowie der Beilegung von Streitigkeiten, die im Bereich der Verwaltung auftreten“. Infolgedessen äußert sich der Conseil d’État zu Konflikten zwischen der Verwaltung und den Gerichten, zu Rechtsstreitigkeiten, für die vormals die Minister zuständig waren, und über Rechtsbehelfe (recours) gegen Entscheidungen der Präfekturräte (Conseils de préfecture). Ende 1806 wird innerhalb des Conseil d’État mit der Commission du contentieux (Kommission für Rechtsstreitigkeiten) ein auf die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten spezialisiertes Organ eingerichtet. Sie ist ein „halb verwaltendes, halb rechtsprechendes Organ“ (Napoléon), das die administrés anrufen können und vor dem ein kontradiktorisches Verfahren stattfindet. Die Kommission wird praktisch zum Richter über rechtliche Streitigkeiten.[11] Diese erste Andeutung einer Trennung zwischen der Verwaltung im engeren Sinne und einem Verwaltungsrechtsstreit innerhalb eines Verwaltungsorgans wird zur Keimzelle der Verwaltungsgerichtsbarkeit und zur Grundlage der modernen Verwaltungsrechtsordnung.

10

Diese Organisation ist das gesamte 19. Jahrhundert hindurch Kritik ausgesetzt, vor allem wegen der Trennung von Verwaltungs- und Rechtsprechungsfunktion, die dem Gedanken widerspricht, dass „Richten über die Verwaltung immer noch Verwaltung ist“, und weil sich der Conseil d’État darauf beschränkt, dem Staatschef, der die Entscheidungsgewalt behält, seine Meinung mitzuteilen.[12] Obwohl im Laufe der Zeit das Verfahren des Verwaltungsrechtsstreits verbessert wird und das Kontrollniveau zunimmt, räumt erst die Republik dem Conseil d’État eigene und souveräne Entscheidungsgewalt ein. Was bleibt und von der Republik anerkannt wird (Gesetz vom 24.5.1872), ist die dem Conseil d’État eingeräumte Möglichkeit, eine juristische Doppelfunktion auszuüben: Berater der Regierung[13] einerseits und Verwaltungsrichter erster Instanz andererseits.

11

So folgt der Gerichtsstatus des Conseil d’État aus zwei verschiedenen Entwicklungen: zum einen aus der Vertiefung der Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung, zum anderen aus der Ausweitung der effektiven Verwaltungskontrolle.

12

Auch wenn der grundlegende Übergang zur gesetzlichen Übertragung von Gerichtsbarkeit (justice déléguée) vom Willen des Gesetzgebers ausgeht, beruhen die Umstände, die zur Bekräftigung seines gerichtlichen Charakters führen, doch auf der Entwicklung des Conseil d’État selbst. Tatsächlich schafft das Gesetz vom 24.5.1872 den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen der Conseil d’État seine Fähigkeit zur Aneignung des Liberalismus entwickelt – und zu einem seiner Glanzstücke wird –, ohne das monarchische Erbe zu verleugnen. Er wirkt darauf hin, dass sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Republik etabliert, indem er sie nicht ohne Erfolg zu einem Instrument des Schutzes der Bürger gegen Machtmissbrauch und gleichzeitig zu einem Werkzeug guter Verwaltung macht.

13

Das Gesetz vom 24.5.1872 belässt noch eine wichtige Funktion bei der aktiven Verwaltung: Die Verwaltungsbeamten behalten ihre Stellung als Richter, die Minister bleiben ordentliche Richter in Verwaltungsangelegenheiten.[14] Diese Situation lässt sich mit der Vorstellung, die Verwaltung sei dem Gesetz unterworfen, kaum vereinbaren. Sie wird vom Conseil d’État seit den 1880er-Jahren bekämpft und in der Entscheidung Cadot vom 19.12.1889 verurteilt. Nach dieser Entscheidung dürfen von nun an alle verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten direkt vor den Conseil d’État gebracht werden. Die Abschaffung der Ministerialgerichtsbarkeit, die die Trennung der Begriffe von Verfahren und Gerichtsbarkeit vornimmt, ermöglicht den Aufstieg des recours pour excès de pouvoir (Anfechtungsklage wegen Überschreitung der Befugnisse) in der Familie der Klagearten. Die Besonderheit dieses recours resultiert vor allem aus den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit er angenommen und die angegriffene Handlung von einem Richter eingehend geprüft wird. Er soll den Zugang zu Gericht erleichtern und ist durch seine Funktion im System der gerichtlichen Verwaltungskontrolle gerechtfertigt. Diese besteht darin, rechtswidrige Handlungen der Verwaltung zu sanktionieren, damit die Rechte der administrés nicht verletzt werden. Dies erklärt auch seine Bezeichnung als „Prozess, der einem Akt gemacht wird“ (Edouard Laferrière). Erst mit Hilfe dieses besonderen Rechtsbehelfs zeigt der Conseil d’État, dass er seiner gerichtlichen Aufgabe gerecht werden kann.

14

Darüber zeigt sich die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine demokratische Anforderung an die Richterschaft ist, in einer Ausdehnung der Kontrolle an sich und einer Ausdehnung der Modalitäten dieser Kontrolle. Die Fortschritte, die die Rechtsprechung in diesem „goldenen Zeitalter“ des Verwaltungsrechtsstreits – einer Phase, in der die Grundlagen des modernen Verwaltungsrechts geschaffen worden sind – macht, werden in den folgenden Epochen verstärkt und gefestigt. Die Richter bemühen sich jetzt vor allem um die Beschränkung der rechtsfreien Räume und die Lockerung der Voraussetzungen, unter denen die öffentliche Gewalt zur Verantwortung gezogen werden kann.[15] Noch heute wird der Bereich der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung durch die Richter selbst abgesteckt. Sie bedienen sich dabei zweier „Techniken“: zum einen einer fortschreitenden Verfeinerung und Vertiefung der Kontrolle des excès de pouvoir und zum anderen einer richterrechtlichen Anreicherung der Normen, auf deren Grundlage das Handeln der Verwaltung beurteilt wird.

15

Auf diesen Grundlagen entwickelt sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit das Verwaltungsrecht als autonome Disziplin. Der durch und durch auf den Verwaltungsrechtsstreit bezogene Ansatz des Verwaltungsrechts prägt dieses bis heute. Das Verwaltungsrecht als Recht des Verwaltungshandelns wird zu einem Recht des Schutzes der Rechte der administrés, indem es die Ausübung von Kontrolle gegenüber der öffentlichen Verwaltung ermöglicht.