Ius Publicum Europaeum

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5. Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung

a) Grundrechtliche Impulse, insbesondere durch die EMRK

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Soweit das Unionsrecht subjektive Rechte gewährt, verlangt es deren effektive Durchsetzbarkeit vor nationalen Gerichten,[562] was auch eine hinreichende gericht- liche Kontrolle einschließt.[563] Gerade im Bereich des (Verwaltungs-)Prozessrechts entfaltet die EMRK partiell einen intensiveren oder breiteren Schutz als die Grundrechte des Grundgesetzes, weshalb es hier zu einer Addition von Schutzstandards kommen kann, die auch dem deutschen Verwaltungsrecht bisweilen Anpassungsleistungen abverlangen.

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Dies hat sich besonders im Bereich der Verfahrensrechte aus Art. 6, 13 EMRK gezeigt. Die im Vergleich zu deutschen Prozessgrundrechten vergleichsweise detailliert formulierte Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht, das öffentlich verhandelt und innerhalb angemessener Frist entscheidet.[564]

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Das deutsche Verwaltungsprozessrecht hat sich bislang als hinreichend flexibel erwiesen, europäische Menschenrechtsstandards durch völkerrechtskonforme Interpretation in das nationale Rechtsschutzsystem zu integrieren.[565] Exemplarisch verwiesen werden kann etwa auf die in Art. 6 Abs. 1 EMRK explizit enthaltene, im deutschen Verfassungsrecht aber keine Entsprechung findende[566] Garantie einer mündlichen Verhandlung sowie auf den durch Art. 13 EMRK garantierten Anspruch auf Rechtsschutz bei Verfahrensverzögerungen.[567] In beiden Fällen hat die EMRK dem deutschen Verwaltungsprozess entscheidende positive Impulse verliehen: Das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren sieht an sich keine obligatorische mündliche Verhandlung vor (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Doch wird bei Bebauungsplänen im Hinblick auf die von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfassten Eigentumsrechte der betroffenen Grundstückseigentümer eine mündliche Verhandlung auch von der deutschen Rechtsprechung für zwingend erachtet.[568] Ein Art. 13 EMRK genügendes Rechtsschutzsystem gegen Verfahrensverzögerungen ist zwar bislang noch Desiderat,[569] wird aber zwangsläufig auch hier das Resultat konventionskonformer Interpretation des nationalen Prozessrechts sein müssen.[570]

b) Reduzierte Kontrolldichte bei kompensatorischer Stärkung des Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße

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Die Stärkung der Verwaltungsverantwortung im europäisierten Verwaltungsrecht durch Entmaterialisierung und Prozeduralisierung des Rechts vermindert zunächst die Verantwortung der Gerichte. Das Unionsrecht ist folglich – grob gesprochen – regelmäßig durch eine im Vergleich zum deutschen Verwaltungsrecht großzügigere Annahme von „Vertretbarkeitsspielräumen“, zumal bei komplexen wirtschaftlichen[571] und naturwissenschaftlich-technischen Entscheidungen, und damit kehrseitig durch eine häufig geringere Kontrollintensität durch EuG und EuGH gekennzeichnet.[572]

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Kompensatorisch zu der Einräumung materieller Entscheidungsspielräume der Verwaltung wirken vor allem qualifizierte Begründungspflichten (Art. 296 AEUV) sowie im Zusammenhang damit eine Verstärkung des subjektiven Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße,[573] wodurch das Unionsrecht auch insoweit als Motor einer „Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts“[574] bzw. einer „funktionalen Subjektivierung“[575] von Rechten wirkt.[576] Der unionsrechtlich induzierten Stärkung des Verfahrens korrespondiert insoweit auch eine Stärkung der Verantwortung der Gerichte. Verfahrensverstöße, die nach nationalem Recht unbeachtlich bleiben (vgl. § 46 VwVfG), können kraft Unionsrechts beachtlich sein, denn die Anerkennung des Eigenwerts von Verfahren muss auf der Rechtsschutzseite jedenfalls bei Ermessensnormen im weiten Sinne zu einer (grundsätzlichen) Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern führen.[577] Auch die – ihrerseits dem Modell des dienenden Charakters von Verfahren entspringende – Vorschrift des § 44a Satz 1 VwGO bedarf einer unionsrechtskonformen Anwendung.[578] Solange effektiver Rechtsschutz gegen die jeweilige Sachentscheidung möglich ist und hierbei auch Verstöße gegen Verfahrensrecht zum Erfolg führen können, kann § 44a Satz 1 VwGO dagegen unmodifiziert zur Anwendung kommen.[579]

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Insgesamt spricht bei europarechtsorientierter Auslegung somit rechtspolitisch manches für eine freiwillige und behutsame Rücknahme der materiellen Kontrolltiefe bei gleichzeitiger Stärkung des Verfahrensrechts auch beim indirekten Vollzug von Unionsrecht im Rahmen des nationalen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts.[580] Rechtlich gefordert wird eine solche Anpassung durch das Unionsrecht indes nicht.[581] Das Unionsrecht verlangt nur, dass dort, wo es Rechte Einzelner begründet, zur Durchsetzung dieser Rechte überhaupt wirksamer Zugang zu einem Gericht besteht.[582]

c) Abschied von der Schutznormtheorie?

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Das Unionsrecht verdrängt den subjektiven Rechtsschutz deutscher Tradition[583] nicht. Es substituiert nicht subjektive Rechte durch Formen entsubjektivierter Klagerechte, sondern tendiert lediglich zu einer Erweiterung des Rechtsschutzes, die einen „Abschied von der Schutznormtheorie“ nicht angezeigt erscheinen lässt. Unionsrechtlich induzierte Weiterungen der Klagebefugnis lassen sich vielmehr im Wege unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts inhaltlich verarbeiten.[584] Hintergrund der abweichenden (extensiveren) Konzeption des Unionsrechts ist, dass dieses den Bürger in stärkerem Maße auch als Interessent und Garant der Durchsetzung objektiver Gemeinwohlbelange wahrnimmt.[585] Dies führt dazu, dass die Schwelle für die Begründung von Rechten des Einzelnen mittels des Kriteriums des individuellen Betroffenseins vergleichsweise niedrig angesetzt und im Einzelfall selbständige Klagerechte auch dort begründet werden, wo es an einer unmittelbaren oder rechtlichen Betroffenheit fehlt.[586]

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Im Unionsrecht begründen beispielsweise – im Kontrast zur deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik – Vorsorgebestimmungen, jedenfalls soweit sie auch dem Schutz individualisierbarer Rechtsgüter wie der Gesundheit dienen, subjektive und damit individuell durchsetzbare Rechtspositionen.[587] Ferner wird man im Interesse einer effektiven Durchsetzung des unionsrechtlichen Beihilfenregimes Art. 108 Abs. 3 AEUV dahingehend auszulegen haben, dass diese Bestimmung auch Konkurrenten des Subventionsempfängers schützt. Hinsichtlich der deutschen Aktionspläne im Luftreinhalterecht hat der EuGH mit Recht festgestellt, dass der einschlägige Art. 7 Abs. 3 der Luftreinhalterichtlinie 96/62/EG[588] einem qualifiziert betroffenen Bürger einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Erlass eines Aktionsplans verleiht, dieser also eine Direktwirkung entfaltet, sobald die einschlägigen unionsrechtlichen Grenzwerte überschritten sind.[589] Damit ist auch davon auszugehen, dass nach richtlinienkonform ausgelegtem nationalem Recht (§ 47 Abs. 2 BImSchG) ein subjektives öffentliches Recht des Betroffenen auf ordnungsgemäße Luftreinhalteplanung besteht.[590]

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Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz des exklusiven Schutzes subjektiver Rechte geht gleichfalls auf Vorgaben des Unionsrechts zurück. Gemeint ist das UmwRG, das am 15.12.2006 in Kraft trat. Hiermit sollten Teile der EG-Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie umgesetzt werden.[591] Diese Richtlinie beruht ihrerseits auf der Aarhus-Konvention.[592] Als Kernstück des UmwRG gilt das in § 2 Abs. 1 Nr. 1 normierte Klagerecht bestimmter Umweltschutzvereinigungen gegen bestimmte immissionsschutzrechtliche, wasserrechtliche und abfallrechtliche Genehmigungsentscheidungen sowie – vereinfacht gesagt – gegen Entscheidungen über die Zulässigkeit von Vorhaben, für die eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung besteht. Da § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG jedoch entgegen dem unionsrechtlichen Konzept weiterhin die Geltendmachung subjektiver Rechte, wenn auch nicht notwendigerweise solcher der klagenden Vereinigung, verlangt, hat der deutsche Gesetzgeber insoweit ebenso wie indirekt auch mit § 11 Abs. 2 USchadG, der auf § 2 UmwRG verweist, die Vorgaben des Unionsrechts bislang unzureichend umgesetzt, wie der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens[593] festgestellt hat.[594]

d) Vorläufiger Rechtsschutz

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Die einschlägigen Rechtsbehelfe für den vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5, §§ 80a, 123 VwGO[595] haben grundlegende Modifikationen erfahren, soweit Rechtsschutz in Anspruch genommen wird, um Maßnahmen abzuwehren bzw. zu erhalten, die im indirekten Vollzug des Unionsrechts ergehen.[596] Zwar erkennt das Unionsrecht die Notwendigkeit effektiven Eilrechtsschutzes an, jedoch gewichtet es im Vergleich zum deutschen Verwaltungsprozessrecht das gemeinschaftliche Vollzugsinteresse deutlich höher. Dies verschiebt die Gewichte zu Lasten des Rechtsschutzsuchenden. Aus diesem Grund wird etwa die Unionsrecht vollziehende nationale Behörde grundsätzlich – entgegen dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 80 Abs. 1 und 2 VwGO – verpflichtet sein, Verwaltungsakte gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar zu erklären.[597]

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Verschärfte Anforderungen an die Gewährung gerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes stellen sich auch dann, wenn inzident die Gültigkeit des Unionsrechtsakts, auf dem die nationale Vollzugsmaßnahme beruht, angegriffen wird. Eine Aussetzung kommt in diesem Fall nur in Betracht, wenn das nationale Gericht erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts hat, die Entscheidung dringlich ist, dem Betroffenen schwere und irreparable Schäden drohen, das Vollzugsinteresse der Union angemessen berücksichtigt wird und schließlich das aussetzende Gericht die Gültigkeit des entscheidenden Unionsrechtsakts dem EuGH nach Art. 267 AEUV vorlegt.[598] Vollzieht die nationale Behörde gar eine Beihilferückforderungsentscheidung der Kommission, so ist der Betroffene auf Rechtsschutz vor Unionsgerichten nach Art. 263 Abs. 4, Art. 278 AEUV zu verweisen, während Eilrechtsschutz vor nationalen Gerichten im Interesse einer effektiven und zeitnahen Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung grundsätzlich zu versagen ist.[599]

 

e) Kooperativer und kohärenter Rechtsschutz im Europäischen Kontrollverbund

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Das Unionsrecht hat ein kohärentes Rechtsschutzsystem etabliert, das dem Einzelnen lückenlosen effektiven und kohärenten Rechtsschutz gegen die Unionsgewalt zur Verfügung stellt.[600] Dies bedeutet jedoch nicht, dass Rechtsschutz notwendigerweise auch durch Unionsgerichte zu gewährleisten wäre. Vielmehr hat die Rechtsprechung den Gerichtszugang nicht privilegierter Individualkläger nach Art. 230 Abs. 4 EG sehr restriktiv ausgestaltet: Individuelle Betroffenheit setzt danach voraus, dass der Kläger durch den angefochtenen Unionsrechtsakt wie ein Adressat berührt wird.[601] An der kumulativ erforderlichen unmittelbaren Betroffenheit fehlt es immer dann, wenn die Mitgliedstaaten einen Rechtsakt erst umzusetzen haben und ihnen hierbei gewisse Entscheidungsspielräume verbleiben.[602] Da Unionsrecht im Regelfall indirekt durch nationale Behörden nach Maßgabe nationalen Organisations- und Verfahrensrechts vollzogen wird, ist demnach Individualrechtsschutz zu Unionsgerichten nur ausnahmsweise eröffnet.[603]

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Auch der neu gefasste Art. 263 Abs. 4 AEUV geht insoweit nur für einen sehr begrenzten Bereich einen Schritt weiter, als er in der dritten Variante für „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“, also für untergesetzliche Verordnungen (Art. 290 UAbs. 1 AEUV) sowie Beschlüsse, auf die individuelle Betroffenheit des Klägers verzichtet. Für alle anderen normativen Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien mit Verordnungscharakter) verbleibt es indes beim geltenden Recht. Klagen gegen sie sind nur unter den Voraussetzungen der zweiten Variante zulässig.[604] Auch innerhalb der dritten Variante entfalten aber die Erfordernisse des unmittelbaren Betroffenseins und des Nichtnachsichziehens von Durchführungsmaßnahmen weiterhin erheblich limitierende Wirkungen.

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Schlüsselinstrument zur Herstellung effektiven Rechtsschutzes im europäischen Rechtsschutzverbund ist Art. 267 AEUV. Der Einzelne kann nationale Gerichte um Rechtsschutz ersuchen und diese gegebenenfalls dazu veranlassen, die Frage nach der inzident bestrittenen Gültigkeit eines Unionsrechtsakts dem EuGH vorzulegen.[605] Im indirekten Vollzug handeln nationale Gerichte insoweit als funktionale Unionsgerichte.[606] Soweit es an einem anfechtbaren Vollzugsakt fehlt, behilft man sich im deutschen Verwaltungsrecht damit, im Wege unionsrechtskonformer Auslegung des Prozessrechts eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO zur Verfügung zu stellen.[607] Defizite des Rechtsschutzsystems bestehen daher im Wesentlichen nur in komplex gestuften Verwaltungsverfahren, da hier indirekter und direkter Vollzug eng miteinander verschränkt sind, was zu Transparenz- und Rechtsschutzeffektivitätsdefiziten führen kann.[608]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › VI. Verwaltung und Politik

VI. Verwaltung und Politik

1. Das deutsche Modell bürokratischer Herrschaft und der Vollzugsverwaltung

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Als wirkmächtiges Leitbild in der deutschen Verwaltungskultur hat sich Max Webers Konzept bürokratischer Herrschaft erwiesen. Als dessen Kennzeichen gelten: hauptamtliches Personal, Trennung von Amt und Person, Hierarchie, Regelgebundenheit des Entscheidens, Schriftlichkeit des Verfahrens.[609] Als Optimum rationaler Verwaltung erscheint dabei eine monokratisch organisierte, auf Subordination gründende, fachlich professionalisierte und auf den möglichst präzisen Gesetzesvollzug beschränkte Verwaltung.[610] Verwaltung ist somit in Deutschland, zumal in historischer Perspektive, idealtypisch apolitisch, in ihren Entscheidungen möglichst regelgebunden und damit berechenbar; Politik und Verwaltung sind getrennte Funktionen des öffentlichen Lebens.

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Das Bild bürokratischer und hierarchischer Herrschaft war dabei von Anfang an mechanistisch überzeichnet[611] und nie in Reinform verwirklicht.[612] Es kollidiert mit der gleichfalls traditionsreichen und in der Tendenz (Stichwort: „Kommunalisierung“[613]) erheblich zunehmenden Dezentralisation („vertikale Gewaltenteilung“[614] in Gestalt von Föderalismus und Selbstverwaltung[615]), dem Kollegialprinzip[616] und der vertikalen Dekonzentration.[617] Verwaltung war daher auch in Deutschland zu keiner Zeit anspruchsloser Gesetzesvollzug, sondern kannte schon immer Elemente autonomer Gestaltungsspielräume.[618]

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Namentlich die Planungseuphorie der 1970er-Jahre[619] sowie die Renaissance planerischer Instrumente im Zuge der Umsetzung des Integrations- und Nachhaltigkeitsprinzips (langfristige Ressourcenschonung) seit den 1990er-Jahren haben die politische Seite des Verwaltens[620] wieder stärker sichtbar gemacht. Auch fand in den letzten Jahren die Rationalitätskritik am bürokratischen Modell[621] unter Politikern und Juristen immer mehr Gehör, was sich in Reformbestrebungen wie dem New Public Management bzw. dem Neuen Steuerungsmodell niederschlug. Diese Reformen führten in der Tendenz zu einer weiteren Ökonomisierung („Politisierung“) und Dezentralisierung der Verwaltung.[622]

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Ungeachtet dessen entfaltet das Modell hierarchischer Vollzugsverwaltung in Deutschland weiterhin eine erhebliche Prägekraft und verkörpert – soweit keine verfassungsrechtlich vorgesehenen oder zumindest zugelassenen sonstigen Modelle bestehen (z.B. ministerialfreie Räume, Selbstverwaltung) – das verfassungsrechtliche Grundmodell.[623] Es steht für die bürokratische, unter einem Ressortminister monokratisch und hierarchisch organisierte Verwaltung, die auch empirisch den dominanten Verwaltungstypus bildet,[624] der auch im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells nicht entfallen ist, sondern nur seine Erscheinungsform verändert hat[625].

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Das demokratische Legitimationsmodell der Verwaltung, das nach Lesart des BVerfG neben der Gesetzesbindung vor allem auf der parlamentarischen Verantwortung der Regierung und Weisungsketten vom Ressortminister bis hinunter zum vollziehenden Amtswalter gründet, ist erkennbar vom bürokratischen Verwaltungsmodell geprägt. Korrespondierend werden Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung (z.B. Beurteilungsspielraum, Ermessen) nur sehr restriktiv anerkannt und in der Regel einer rigiden gerichtlichen Kontrolle unterworfen.

2. Das europäische Modell der Gestaltungsverwaltung

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Das Unionsrecht setzt demgegenüber stärker auf ein Modell der Gestaltungsverwaltung. Dieses Modell folgt anderen Akzenten wie Bürgernähe, Transparenz, faire Verfahrensbeteiligung und Ergebnisoffenheit rechtlicher Entscheidungen einerseits. Andererseits betont es damit aber zugleich auch in stärkerem Maße, als es der deutschen Verwaltungstradition entspricht, das politische Element von Verwaltung.[626]

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Die genannten Unterschiede zeigen sich repräsentativ anhand der europäisierungsbedingten Verschiebungen in der allgemeinen Strukturierung der administrativen Entscheidungsprogramme. Dazu zählen die Ersetzung gebundener Entscheidungen durch Ermessensentscheidungen oder Planungsentscheidungen, die Nivellierung der traditionellen, wenngleich zu keinem Zeitpunkt unumstrittenen[627] deutschen Dichotomie von Tatbestand (unbestimmter Rechtsbegriff) und Rechtsfolge (Ermessen)[628] sowie der Rückzug aus der konditionalen (unmittelbar verhaltensbezogenen) zugunsten einer finalen (unmittelbar zielbezogenen) Programmierung des Verwaltungshandelns[629]. Dies zeigt sich gerade im Umweltrecht, wo namentlich durch UVP-, IVU- und SUP-Richtlinie die Fokussierung auf finale Regelungsstrategien[630], die Konzentration auf integrierte (statt sektorale) Regelungsansätze[631] sowie die Prozeduralisierung und Qualitätsorientierung[632] bislang am deutlichsten ausgeprägt sind.

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Die an der Frage administrativer Entscheidungsprogramme festgemachten Detailbeobachtungen lassen sich verallgemeinernd als vorsichtiger Trend zu einer Ablösung des Modells der rein vollziehenden Verwaltung durch eine europäisierte Gestaltungsverwaltung beschreiben.[633] Mit einer solchen Gewichtsverschiebung gehen zwangsläufig eine Steigerung der Aufgabenkomplexität, eine Betonung planerischer Elemente des Verwaltungshandelns[634] sowie eine Verlagerung der Kompetenzen auf die Exekutive einher.[635] Welche Auswirkungen diese Entwicklung im Einzelnen auf das deutsche traditionell rechtsschutzzentrierte Verwaltungsrechtsverständnis, aber auch auf Fragen der demokratischen Legitimation und Kontrolle hat, ist dabei bislang noch nicht abschließend analysiert.

3. Ausblick: Das „Recht auf gute Verwaltung“

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Das Konzept einer stärker politischen Gestaltungsverwaltung hat auf der EU-Ebene seinen jüngsten Ausdruck in der Idee einer „guten Verwaltung“ in Art. 41 GRCh gefunden.[636] Hierbei handelt es sich um ein Grundrecht und damit in ers- ter Linie um eine Gewährleistung zugunsten des Einzelnen; eine Stärkung der EU-Verwaltung[637] als objektiver Garantin der Gemeinwohlverwirklichung, insbesondere auch gegenüber der Rechtsprechung, lässt sich Art. 41 GRCh demgegenüber nicht entnehmen.[638] Da sich die Garantie gerade an die Verwaltung richtet, geht sie aber über den justizzentrierten Art. 6 EMRK hinaus.[639]

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Inhaltlich ist Art. 41 GRCh weniger evolutive Fortentwicklung als vielmehr textlich komprimierte Zusammenfassung verschiedener ungeschriebener, richterlich entwickelter Standards rechtsstaatlicher Verwaltungsverfahren.[640] Die Norm sichert klassische Elemente guter Verwaltungsführung (Begründungspflichten, Anhörungsrechte, Akteneinsichtsrechte, Unparteilichkeit, Zügigkeit) und gewährleistet so Effizienz, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Legitimation von Verwaltungsentscheidungen. Zugleich bestehen über die ergänzend hinzutretenden weichen Faktoren wie Bürgerorientierung, Verwaltungskommunikation und Verwaltungskultur[641] Schnittmengen mit dem objektiv-rechtlichen Konzept europäischer „Good Governance“[642], ohne dass beide Konzepte deckungsgleich wären.[643]

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Das Grundgesetz kennt – anders als ansatzweise manche Landesverfassungen[644] – zwar kein verselbständigtes Grundrecht auf gute Verwaltung.[645] Die einzelnen Facetten des Art. 41 Abs. 2 GRCh[646] sind jedoch im deutschen Recht entweder als verfahrensrechtliche Grundrechtsdimension oder als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gewährleistet und zudem einfachgesetzlich abgesichert. Das Recht auf eine unparteiische und gerechte Behandlung innerhalb einer angemessenen Frist (Art. 41 Abs. 1 GRCh) findet als Basis jedes rechtsstaatlichen Verfahrens etwa Ausdruck in §§ 21, 24 Abs. 2 VwVfG. Den Verfahrensstandards des Art. 41 Abs. 2 GRCh – sprich: Anhörung der Betroffenen[647], Schutz vertraulicher Informationen im Verfahren und Anspruch auf Entscheidungsbegründung – wird durch das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht bereits entsprochen (vgl. §§ 28, 30, 39 VwVfG).[648] Dem Anspruch auf Amtshaftung (Art. 41 Abs. 3 GRCh) korrespondiert das feingliedrig differenzierte, zum Teil ungeschriebene, zum Teil positivierte (z.B. § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) System des deutschen Staatshaftungsrechts.[649]

 

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Aufs Ganze gesehen sind von dem Recht auf gute Verwaltung nur begrenzte neue Impulse sowohl für das Unionsrecht[650] als auch für die Grundstrukturen des deutschen Verwaltungsrechts zu erwarten. Lediglich die auf den spezifisch europäischen Kontext zugeschnittene Verbürgung der freien Wahl der Amtssprache (Art. 41 Abs. 4 GRCh in Verbindung mit Art. 24 Abs. 4 AEUV)[651] findet im deutschen Verwaltungsverfahren, in dem Deutsch Amtssprache ist (§ 23 VwVfG),[652] bislang keine Entsprechung. Sie wird auch in Deutschland die Sensibilität für Fragen der Ausübung von Sprachenfreiheit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG)[653] in einem einheitlichen europäischen Rechts- und Verwaltungsraum mit steigender Mobilität der Unionsbürgerinnen und -bürger wachsen lassen.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › Bibliographie