Ius Publicum Europaeum

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b) Steuerung

aa) Gesetz

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Im demokratischen Rechtsstaat ist das Parlamentsgesetz – ungeachtet unterschiedlicher Anpassungszwänge[409] – weiterhin das wichtigste Steuerungsmedium,[410] das durch sonstige Steuerungsformen (Organisation, Haushalt, Personal u.a.) nur ergänzt, aber nicht ersetzt werden kann. Dies ergibt sich bereits aus dem breit ausgebauten Vorbehalt des Gesetzes. Die Steuerung durch das Parlamentsgesetz kann aber, selbst wenn man Bereiche einer gesetzesfreien Verwaltung[411] von vornherein ablehnen wollte, schon wegen der jedem Normtext notwendig anhaftenden Unschärfe niemals vollständig sein. Eine Verwaltung, die nur der Vollstrecker des Parlamentswillens ist, gibt es nicht. Jeder gesetzliche Auftrag an die Verwaltung ist vielmehr zugleich eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen. Die Verwaltung hat die Lücken des gesetzlichen Auftrags zu füllen und ist von daher auch selbst zur Gestaltung der Lebensverhältnisse aufgerufen. Eine „Übersteuerung“ kann sich für den mit einer Verwaltungsaufgabe verfolgten Zweck sogar als ineffektiv erweisen.[412]

bb) Haushalt

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Die Verfügung über Finanzmittel verleiht Staatsorganen ein „Blankettinstrument zu wirtschaftlichem Handeln“[413] und damit erhebliche Macht.[414] Die „Macht des Geldes“ ist mit vielfältigen Vorgängen des Nehmens (Abgabenerhebung, staatliche Kreditnachfrage, erwerbswirtschaftliche Betätigung, Vermögensverwaltung) und des Gebens (Leistungsverwaltung, z.B. soziale Unterstützung, Subventionsvergabe, öffentliche Auftragsvergabe) verbunden, die der rechtlichen Umhegung und „Domestizierung“ bedürfen. Das Grundgesetz sorgt für diese notwendige Koordinierung staatlichen Gebens und Nehmens im Staatshaushalt.[415] Damit tritt neben die Programmierung der Verwaltung durch materielles Gesetz als ergänzendes demokratisches Steuerungsmedium die Haushaltssteuerung.[416]

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Der Haushalt wird nach deutschem Verfassungsrecht vom Parlament durch Haushaltsgesetz verabschiedet, dessen Bestandteil der Haushaltsplan ist (vgl. Art. 110 GG).[417] Die parlamentarische Haushaltsplanung ist historisch gewachsenes Hausrecht der Parlamente[418] und erfüllt – jedenfalls seinem theoretischen Anspruch nach[419] – zentrale Funktionen der Koordination exekutivischen Ausgabeverhaltens[420], der Staatslenkung und schließlich – als Voraussetzung für wirksame Finanzkontrollen[421] durch unabhängige Rechnungshöfe (vgl. Art. 114 Abs. 2 GG)[422], Parlamente, Gerichte und Öffentlichkeit – der demokratischen Legitimation und der Rechtsstaatlichkeit.[423] Im Haushaltsplan sind einzelne Haushaltstitel ausgewiesen, die die Verwaltung ermächtigen, Ausgaben für einen näher spezifizierten Zweck zu tätigen. Das Haushaltgesetz ist eine abstrakt-generelle Norm ohne Außenwirkung. Es bindet also nur die Verwaltung im Binnenverhältnis, entfaltet aber keine Rechtswirkungen zu Gunsten oder zu Lasten des Bürgers. Die Verwaltung kann namentlich die Erfüllung bestehender Ansprüche nicht mit der Begründung verweigern, es bestehe keine Haushaltsdeckung.[424] Ungeachtet dessen entfaltet das Haushaltsrecht immer dort Steuerungswirkung, wo finanzwirksames Verwaltungshandeln durch Außenrecht nicht abschließend determiniert ist,[425] also etwa in der Leistungsverwaltung.

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Vor allem in den 1990er-Jahren wurde das Haushaltsrecht in Deutschland im Zuge der Einführung des Neuen Steuerungsmodells (erneuten) Reformen unterworfen.[426] Nach § 6a HGrG können Einnahmen und Ausgaben nunmehr haushaltsmäßig im Rahmen eines „Systems der dezentralen Verantwortung“ veranschlagt werden, was zur Steigerung des Kostenbewusstseins in der Verwaltung beiträgt.[427] Überdies wurde das tradierte kameralistische Haushaltsrecht als verkrustet, bürokratisch und durch seine strikte Titelbindung unzureichend angesehen, Impulse zu wirtschaftlichem Handeln[428] in der Verwaltung freizusetzen. Das reformierte Haushaltsrecht ist daher durch Lockerungen der Haushaltsbindung der Verwaltung, insbesondere durch Eröffnung gegenseitiger Deckungsfähigkeit und Übertragbarkeit, flexibilisiert worden.[429] Auch die Organisation des Haushaltsvollzugs wurde grundlegend reformiert (Budgetierung, Dezentralisierung, Globalisierung, Zielvereinbarungen, Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling, Personalmanagement).[430] Sowohl der Haushaltsvollzug als auch die Finanzkontrolle haben hierdurch einen signifikanten Wandel erfahren.[431]

c) Kontrolle

aa) Parlamentarische Verantwortlichkeit

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In seiner weitesten Bedeutung steht der Begriff der parlamentarischen Verantwortlichkeit als Oberbegriff für das Bündel von Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten, die das Recht gegenüber der vollziehenden Gewalt im Einzelnen vorsieht.[432] Dazu gehören die Möglichkeit, den Bundeskanzler mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums durch einen neuen Bundeskanzler zu ersetzen (Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG), das Zitierrecht (Art. 43 GG), das Recht auf aktuelle Stunden (§ 106 GOBT), das Recht zu kleinen und großen Anfragen (§§ 100ff., 104 GOBT)[433], die Einsetzung eines Wehrbeauftragten (Art. 43b GG)[434] und das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (Art. 44 GG)[435]. Darüber hinaus mag man zur Verantwortlichkeit der Regierung auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder für die während ihrer Amtszeit begangenen Straftaten zählen.

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Enger verstanden bedeutet parlamentarische Verantwortlichkeit nur die in Art. 65 GG niedergelegte Pflicht des Bundeskanzlers, der Bundesminister (streitig)[436] und der Bundesregierung[437], dem Parlament über ihre Politik Rechenschaft abzulegen und Fragen zu beantworten. Es handelt sich dabei um eine rein prozedurale Verantwortung, denn sie verpflichtet die Regierung nicht dazu, in ihrem Handeln inhaltlich den Erwartungen des Parlaments zu entsprechen. Die Regierung erfüllt ihre Verantwortung bereits dann, wenn sie dem Parlament Rede und Antwort steht. Das Grundgesetz hofft freilich auf materielle Responsivität[438] der Regierungspolitik als mittelbare Folge der verfahrensrechtlichen Regelung.

bb) Staatsaufsicht

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Die Staatsaufsicht nimmt aus Gründen des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips eine Schlüsselfunktion im Bereich des staatlichen Kontrolltableaus ein,[439] auch wenn dies bei verfassungsrechtlicher Rechtfertigung sogenannte ministerialfreie Räume nicht grundsätzlich ausschließt.[440] Staatsaufsicht im Rechtssinne ist diejenige Tätigkeit des Staates, die innerhalb der dezentralisierten Verwaltungsorganisation das Verhalten eines verselbständigten Verwaltungsträgers auf seine Vereinbarkeit mit einem bestimmten, staatlicherseits vorgegebenen Richtmaß überprüft und im Falle einer festgestellten Abweichung entsprechend berichtigt.[441] Staatsaufsicht findet daher gegenüber Selbstverwaltungsträgern statt.[442] Sie beschränkt sich nicht von vornherein auf einen bestimmten Aufsichtsmaßstab, Aufsicht über die Erfüllung der eigenen (Selbstverwaltungs-)Angelegenheiten des ausgegliederten Verwaltungsträgers ist aber grundsätzlich reine Rechtsaufsicht. Bei der Fach- bzw. Sonderaufsicht, also der Aufsicht über die Erfüllung der im Auftrag oder nach Weisung des Staates wahrgenommenen Aufgaben, wird demgegenüber auch die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns kontrolliert.[443]

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Hinsichtlich der Aufsichtsmittel ist – je nach gesetzlicher Ausgestaltung – zwischen präventiven[444] und repressiven[445] Instrumenten zu unterscheiden.[446] Jedes Eingreifen der Aufsichtsbehörde ist von einer gesetzlichen Grundlage abhängig (Art. 20 Abs. 3 GG),[447] wobei das Einschreiten in der Regel im Ermessen der Aufsichtsbehörde steht (Opportunitätsprinzip).[448] Die allgemeine Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Selbstverwaltungsträger verdichtet sich besonders dort, wo Selbstverwaltung grundrechtliche Wurzeln hat (Rundfunk, Wissenschaft). Hier kann und muss gegebenenfalls eine Rücknahme der Intensität, wenn auch kein gänzlicher Verzicht auf Staatsaufsicht erfolgen,[449] etwa im Sinne des Grundsatzes hochschulfreundlichen Verhaltens[450].

d) Personelle Legitimation

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Die personelle demokratische Legitimation der Verwaltung wird über die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament hergestellt. Über die insoweit demokratisch legitimierte Exekutivspitze wird die Legitimation dadurch weitergegeben, dass (1) eine ununterbrochene Weisungskette vom jeweiligen Ressortminister zum entscheidenden Amtswalter besteht und (2) die einzelnen Amtswalter, die legitimationsbedürftige Hoheitsgewalt ausüben, zudem von einem seinerseits legitimierten Beamten ernannt worden sind (Modell der Legitimationskette).[451] Eine Unterbrechung der Legitimationskette ist nur in besonders zu begründenden Ausnahmefällen zulässig, namentlich in Sonderbereichen ministerialfreier Verwaltung (z.B. Bundesbank) und im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung, die sich zusätzlich auf autonome Legitimationsstränge stützen kann.

3. Weitere Instrumente

a) Direkte Demokratie und bürgerschaftliche Beteiligung

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Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nennt neben den Wahlen auch „Abstimmungen“ als eine Form der Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk, ohne dass zwischen den Formen der repräsentativen (mittelbaren) und der direkten (unmittelbaren) Demokratie ein Vorrang- oder Nachrangverhältnis bestünde. Gleichwohl kennt das Grundgesetz de constitutione lata keine Beispiele für „Abstimmungen“. Die in diesem Zusammenhang häufig genannten Territorialplebiszite der Art. 29, 118, 118a GG stellen richtigerweise ebenso wenig einen Anwendungsfall von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG dar wie die in Art. 28 Abs. 1 Satz 4 GG geregelte Möglichkeit von „Gemeindeversammlungen“[452], von der die Kommunalordnungen der Länder ohnehin keinen Gebrauch mehr machen.[453] Das Grundgesetz ist damit prononciert antiplebiszitär;[454] Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG läuft im Ergebnis weitgehend leer.

 

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De constitutione ferenda dürften Formen direkt-demokratischer Entscheidung jedoch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber (Art. 79 Abs. 2 GG) eingeführt werden.[455] Die (noch) überwiegende Staatsrechtslehre steht einer solchen Einführung gleichwohl aus historischen und verfassungspolitischen Gründen ablehnend gegenüber;[456] auch unter den Parteien hat sich bislang hierfür keine Mehrheit finden lassen.[457] Neuerdings mehren sich jedoch die Stimmen, die, nicht zuletzt inspiriert durch positive Erfahrungen anderer Länder (z.B. Schweiz)[458], – mit Recht – für eine behutsame und punktuelle Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch Elemente der Volksgesetzgebung (Volksbegehren, Volksentscheid) eintreten.[459]

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Eine bunte Palette direkt-demokratischer Instrumente besteht in unterschiedlich weitem Umfang und gekoppelt an unterschiedlich strenge Voraussetzungen sowohl mit Blick auf Verfassungsänderungen als auch auf Volksgesetzgebung auf der Ebene des Landesverfassungsrechts.[460] Die Länder halten sich damit auch im Rahmen des Homogenitätsgebots (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG), solange sie sich auf die Wahrnehmung ihrer eigenen Kompetenzen beschränken.[461]

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Eine große Rolle spielen plebiszitäre Instrumente auf der kommunalen Ebene. In zahlreichen Gemeindeordnungen bestehen hierzu umfangreiche Regelungen,[462] die sich gleichfalls innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens (Art. 28 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GG) halten. Kernelement ist dabei das auf die Herbeiführung eines Bürgerentscheids gerichtete Bürgerbegehren[463], das den Gemeindebürgern wichtige Spielräume der politischen Gestaltung ihrer örtlichen Lebensverhältnisse („Schule der Demokratie“) eröffnet und damit der grassierenden Politikverdrossenheit entgegenwirkt. Weitere plebiszitäre Elemente auf lokaler Ebene sind die Bürgerversammlung[464], der Bürgerantrag und die konsultative Bürgerbefragung.[465]

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Nicht zu den plebiszitären Instrumenten im rechtlichen Sinne, aber in deren thematisch-funktionalen Kontext gehören die vielfältigen Rechte bürgerschaftlicher Beteiligung (Partizipation). Sie reichen von informellen Maßnahmen wie bloßen Beschwerden als Ausprägung des – auch gegenüber der Gemeinde oder dem Landkreis bestehenden – Petitionsrechts (Art. 17 GG)[466] bis hin zum Zusammenschluss von Bürgern und Vereinigungen zu Bürgerinitiativen in Ausübung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG). Auch andere Kommunikationsgrundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) oder die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) können mit Blick auf kommunalpolitische Anliegen aktiviert werden.

b) Öffentlichkeit

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Die Öffentlichkeit des Verwaltungshandelns ist für sich gesehen kein Instrument, unmittelbar Verwaltungshandeln zu legitimieren. Eine lediglich kraft Betroffenheit situativ entstehende Öffentlichkeit ist von vornherein kein taugliches Legitimationssubjekt („Volk“ im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG). Öffentlichkeit kann aber Transparenz herstellen und hierdurch die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung insgesamt unterstützen.[467] Die Öffentlichkeit erfüllt hierbei Kontrollfunktionen,[468] die ihrerseits den rechtmäßigen und effektiven Gesetzesvollzug stabilisieren, was wiederum die Wirksamkeit demokratisch gesetzten Rechts befördert. Insoweit kommt der Öffentlichkeit also eine mittelbare demokratische Gewährleistungsfunktion zu.[469]

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Besonderen Ausdruck findet dies in – teilweise erst durch unionsrechtliche Impulse veranlassten[470] oder jedenfalls erweiterten – Instituten wie der umfänglichen, auch der Repräsentationsergänzung dienenden[471], Öffentlichkeitsbeteiligung in komplexen Verwaltungsverfahren (z.B. § 73 VwVfG, § 3 BauGB, §§ 9, 14i UVPG, § 10 Abs. 3 BImSchG, § 17a FStrG)[472], dem Anspruch auf Akteneinsicht (§ 29 VwVfG) und den verselbständigten Informationszugangsansprüchen (§ 1 IFG, § 3 UIG, Landesinformationsfreiheitsgesetze)[473]. An einer (bundes-)verfassungsrechtlichen Verbürgung dieser Rechte fehlt es im Unterschied zu Frankreich[474] in Deutschland jedoch; lediglich einzelne Landesverfassungen kennen entsprechende Regelungen.

c) Funktionale Selbstverwaltung als Betroffenenbeteiligung

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Funktionale Selbstverwaltungsträger beziehen ihre Legitimation zum einen aus dem Parlamentsgesetz, das die Aufgaben überträgt, zum anderen von den Betroffenen als dem personalen Substrat des Selbstverwaltungsträgers.[475] Etwa die Hochschulselbstverwaltung beruht auf einer wissenschaftlich-autonomen Legitimation (Art. 5 Abs. 3 GG).[476] Jenseits grundrechtlicher Selbstverwaltung ist die erforderliche Dichte (personeller wie materieller) demokratischer Legitimation umstritten.[477] Die Rechtsprechung hat hier erhebliche Abstriche gebilligt, soweit insgesamt ein hinreichendes Legitimationsniveau verbleibt[478] und die Verselbständigung der Wirksamkeit demokratischen Rechts dient.[479]

4. Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung

a) Gesetzmäßigkeitsprinzip

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Unionsrecht ist von Verwaltung und Gerichten zu beachtendes Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und genießt Anwendungsvorrang (nicht Geltungsvorrang) vor dem gesamten nationalen Recht, das Verfassungsrecht eingeschlossen.[480] Grundsätzlich folgt hieraus die Pflicht, das nationale Recht zur Vermeidung von Konflikten unionsrechtskonform auszulegen.[481] Ergibt sich im Einzelfall ein hierdurch nicht auflösbarer Konflikt zwischen nationalem Recht und Unionssrecht, so ist der Vorrang des Unionsrechts gegebenenfalls dadurch sicherzustellen, dass nationales Recht inzident verworfen wird und damit unangewendet bleibt. Jedenfalls deutsche Gerichte haben daher ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht,[482] nach zutreffender Ansicht gleichermaßen aber auch Verwaltungsbehörden, jedenfalls bei manifesten Unionsrechtsverstößen.[483]

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Punktuell soll das Unionsrecht sogar zu Modifikationen beim Vorbehalt des Gesetzes bzw. bei der Lehre von der Verwaltungsaktsbefugnis berechtigen. So ist es zwar nach deutschem Recht unzulässig, eine vertraglich gewährte Leistung ohne besondere Rechtsgrundlage durch Verwaltungsakt zurückzufordern. Die effektive Durchsetzung der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts könne es jedoch gebieten, hiervon unter Berufung auf Art. 14 Abs. 3 Beihilfenverfahrensverordnung[484] und Art. 288 Abs. 2 AEUV eine Ausnahme zuzulassen, da ansonsten eine Verschleppung der (beschleunigt durchzuführenden)[485] Subventionsrückforderung einträte.[486]

b) Parlamentarische Einbindung im Mehrebenensystem

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Unter den Vorzeichen der Europäisierung und Internationalisierung erfolgt die parlamentarische Kontrolle im Mehrebenensystem immer weniger nachgängig-repressiv und stattdessen immer stärker dirigierend, begleitend und mitwirkend (vgl. für die EU-Ebene: Art. 23 Abs. 2 und 3 GG in Verbindung mit dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union[487]).[488] Um die parlamentarische Steuerung in einem komplexen Geflecht überstaatlicher Regelungs- und Entscheidungszusammenhänge zu wahren, kommt es entscheidend darauf an, einerseits die Möglichkeiten parlamentarischer Einflussnahme, vor allem die Kontrollstrukturen, zu verbessern, aber auch die Verwaltungsgesetze an den Bedürfnissen eines transnationalen Verwaltungsrechts auszurichten.[489]

c) Verbundaufsicht

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Im Europäischen Verwaltungsverbund verwirklichen sich, wie insbesondere das Beihilfen-, Kartell-, Agrar- und Strukturfondsrecht zeigen, in immer stärkerem Maße auch europäisierte Aufsichts- bzw. Verwaltungskontrollstrukturen, deren Mittel, Verfahren und Maßstäbe eingehend untersucht und unter dem Begriff der „Verbundaufsicht“ systematisierend zusammengeführt wurden.[490] Die Verbundaufsicht schließt im Einzelfall sogar die Befugnis der Kommission zur Erteilung von Einzelweisungen bzw. zur Vornahme weisungsähnlicher Handlungen gegenüber den Mitgliedstaaten ein.[491]

d) Europäische Öffentlichkeit

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Der traditionsreiche Grundsatz einer beschränkten, nur dem Schutz spezifischer Individualinteressen der Verfahrensbeteiligten (§ 13 VwVfG) dienenden[492] Aktenöffentlichkeit (§ 29 VwVfG) wurde durch die Umweltinformationsricht- linie[493] im Bereich umweltbezogener Informationen zu einem Grundsatz der Verwaltungsöffentlichkeit modifiziert, der verfahrensunabhängig und ohne Nachweis eines spezifischen Interesses des Informationssuchenden gilt.[494] Die „gemeineuropäische Rechtsidee“ der Transparenz durchdringt das deutsche (Informations-)Verwaltungsrecht und bewirkt eine Abkehr von der bisherigen Tradition der Geheimhaltung des Verwaltungsverfahrens (Arkanprinzip).[495] Mit dem am 1.1.2006 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetz (IFG)[496] hat der Bundesgesetzgeber die Idee einer informierten Öffentlichkeit sodann über das Umweltrecht hinaus verallgemeinert. Er hat sich damit der für die europäische Eigenverwaltung geltenden Rechtslage[497] und der Rechtslage in anderen europäischen Staaten angenähert, ohne dazu formal unionsrechtlich verpflichtet gewesen zu sein („freiwillige“ Rezeption). Zuletzt hat er im Interesse der Verbesserung der Lebensmittelsicherheit auch noch ein spezielles – für Bundes- und Landebehörden geltendes – Verbraucherinformationsgesetz (VIG)[498] erlassen.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › V. Verwaltungsrechtliche Institute in der Rechtsschutzperspektive