Ius Publicum Europaeum

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dd) Tendenzen zu Parallelrechtsordnungen und Spill-over-Effekte

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Insgesamt sind somit Tendenzen zu einer Herausbildung eines dualen Rechtsregimes für Fälle mit und ohne Unionsbezug – etwa bei der Rücknahme unionsrechtswidriger und (nur) nationalrechtswidriger Verwaltungsakte – zwar unverkennbar,[334] dürften aber eher eine Zwischenphase der Entwicklung darstellen.[335] Vieles spricht für die optimistische Annahme, dass sich die „Kraft der Systembildung“ mittelfristig gleichwohl durchsetzen und sich ein einheitliches nationales Verfahrensrecht herausbilden wird, das die Anforderungen des Unionsrechts und die hierdurch faktisch induzierten Spill-over-Effekte[336] in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Eine europaweite „Egalisierung“ der Strukturen des Verwaltungsrechts und seiner Inhalte ist damit nicht gemeint. Sie ist mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 EUV) und den Schutz der nationalen (Verwaltungs-)Identität (Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV)[337] auch nicht erforderlich und ließe die Kraft, die im „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ steckt, auf lange Sicht ungenutzt.

4. Handlungsformen

a) Handlungsformenlehre, Handlungspraxis und Handlungssystem

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Die Handlungsformen der Verwaltung vermitteln als zentrale „Bündelungsbegriffe“ zwischen Tatbeständen und Rechtsfolgen. Fritz Ossenbühl hat das anschaulich mit dem Bild umschrieben, die Handlungsformen seien „die Tore, durch welche die in ihrer Vielfalt unüberschaubare, amorphe Tätigkeit der Verwaltung in die ordnende Welt des Rechts eingeschleust wird“[338]. Juristisch kondensiert kann man davon sprechen, dass sich in der Lehre von den Handlungsformen die Formidee und die Systemidee verbinden – beides typische Ausprägungen kontinentalen Rechtsdenkens.[339] Auch deshalb gilt die Handlungsformenlehre mit Recht als das Kernstück des Allgemeinen Verwaltungsrechts.[340]

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Ähnlich der Entwicklung im Verwaltungsorganisationsrecht ist auch bei den Handlungsformen der Verwaltung zunehmende Diversifikation zu verzeichnen.[341] Zu denken ist etwa an neue Formen des Verwaltungsakts[342] (z.B. fingierter Verwaltungsakt, Verwaltungsakt mit Drittwirkung). Diese neuen Formen stehen sowohl für die Rezeptionsoffenheit und damit Beständigkeit des Verwaltungsakts als auch für die Notwendigkeit aufgabenadäquater Weiterentwicklung des Bewährten.

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Trotz der Diversifikation und gerade wegen ihr bedarf es auch im Bereich der Handlungsformen einer regelmäßigen wissenschaftlichen Ordnung und Systembildung, welche die in der Handlungspraxis anzutreffende Formenvielfalt sichtet und – gegebenenfalls unter Zurückschneidung auf Grundkategorien – strukturiert sowie die immer häufigeren Formen- und Instrumentenverbünde („Mix“)[343] juristisch analysiert, beides unter Beachtung der Bedeutung des Verwaltungsverfahrens sowie der Lehre von den Maßstäben des Verwaltungshandelns.[344]

b) Handlungsformenset im Überblick

aa) Verwaltungsakt

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Der Verwaltungsakt, der in § 35 Satz 1 VwVfG legaldefiniert ist (mit dem Sonderfall der Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz 2 VwVfG) gilt bis heute als das klassische Instrument der deutschen Verwaltung, das weiterhin ganz im Zentrum der Verwaltungspraxis steht.[345] Der Verwaltungsakt erfüllt zunächst eine Konkretisierungsfunktion: Indem die Verwaltung die generell-abstrakten Regelungen auf einen konkreten Sachverhalt und einen bestimmten Bürger bezieht und das von Rechts wegen Gesollte mit Außenwirkung einseitig festsetzt, schafft sie konkret-individuelles Recht.[346] Zugleich ist der Verwaltungsakt ein Vollstreckungstitel.[347] Darüber hinaus hat der Verwaltungsakt eine Stabilisierungsfunktion, weil er im Rahmen seines Regelungsgehalts die zukünftige Rechtsbeziehung zwischen Bürger und Verwaltung aus sich heraus gestaltet.

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Die Gestaltungswirkung des Verwaltungsakts bleibt grundsätzlich selbst dann erhalten, wenn der Verwaltungsakt aus formellen oder materiellen Gründen rechtswidrig ist. Es gilt der Grundsatz der Bestandskraft von Verwaltungsakten. Er ist in dem Regelungssystem der §§ 43ff. VwVfG angelegt und in § 44 VwVfG – im Ergebnis dem Unionsrecht vergleichbar[348] – nur für bestimmte Fälle einer offensichtlichen und schwerwiegenden Fehlerhaftigkeit durchbrochen. Der Grundsatz der Bestandskraft wendet sich bei belastenden Verwaltungsakten zwar gegen den betroffenen Bürger, wird aber durch die Möglichkeit der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 48 VwVfG sowie – in bestimmten Fällen – durch einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (§ 51 VwVfG) in Richtung auf das Gegenprinzip der Flexibilität des Verwaltungshandelns abgemildert.[349]

bb) Verwaltungsvertrag

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Die wichtigste Rechtsform für konsensuales Handeln der Verwaltung ist der öffentlich-rechtliche Vertrag, genauer gesagt, der Verwaltungsvertrag (§§ 54ff. VwVfG).[350] Wegen des Ungleichgewichts zwischen den Beteiligten erschienen für Otto Mayer „wahre Verträge des Staates auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes“ noch „überhaupt nicht denkbar“[351]. Durch § 54 Satz 2 VwVfG ist aber (auch) der subordinationsrechtliche Vertrag als Kategorie voll anerkannt. Daneben regeln die §§ 54ff. VwVfG auch den unproblematischen koordinationsrechtlichen Vertrag zwischen Verwaltungsträgern. Der Verwaltungsvertrag steht heute gleichberechtigt auf einer Stufe neben dem Verwaltungsakt (vgl. § 9 VwVfG); er ist zulässig, soweit nicht ausnahmsweise (z.B. Beamtenernennung, Steuerfestsetzung, Prüfungsentscheidung) ein Vertragsformverbot eingreift. Damit ist er sowohl rechtlich als auch empirisch zur Normalität der Verwaltung in Deutschland geworden.[352] Gleichwohl wird er in der Lehre zum Teil noch immer – zu Unrecht – als „atypische“ bzw. „irreguläre“ Handlungsform der Verwaltung angesehen.[353]

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Nach dem Grundsatz der Wahlfreiheit der Verwaltung stehen der öffentlich-rechtlich organisierten (Leistungs-)Verwaltung auch die Handlungsformen des Privatrechts offen.[354] Ob ein Vertrag als öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich anzusehen ist, richtet sich nach dem Charakter der durch den Vertrag begründeten Pflichten (Vertragsgegenstand).[355] Öffentlich-rechtlich ist eine Pflicht, wenn sie sich gerade an einen Träger hoheitlicher Gewalt „als solchen“ wendet (modifizierte Subjektstheorie bzw. Sonderrechtstheorie).[356] Für den verwaltungsrechtlichen Vertrag gelten subsidiär die bürgerlichrechtlichen Normen entsprechend (§ 62 Satz 2 VwVfG).

cc) Administrative Normsetzung

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Eine Regelung, welche die Grenze zur Rechtsnorm überschreitet, kann die Verwaltung nach traditioneller Auffassung nur aufgrund besonderer gesetzlicher Ermächtigung in Form einer Rechtsverordnung oder einer Satzung erlassen.[357] Eine Rechtsverordnung ist ein Rechtssatz, der von der Exekutive aufgrund einer besonderen parlamentsgesetzlichen Ermächtigung erlassen wird (vgl. Art. 80 Abs. 1 GG)[358] und der abstrakt-generellen Charakter hat.[359] Die Verordnungsermächtigung ist damit ein zentrales Instrument zur Verlagerung von Entscheidungsverantwortung von der Legislative auf die ausführende Gewalt, von dem angesichts der Vielfalt der für normierungsbedürftig befundenen Sachgebiete und der gewünschten Regelungstiefe zur Entlastung des Parlaments – und wohl auch zur Wahrung seines Charakters als einer politischen Instanz – in hohem Maße Gebrauch gemacht wird.

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Die Satzung ist den juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltungsaufgaben zur Wahrnehmung dieser Aufgaben vorbehalten. Sie ist gleichfalls eine abstrakt-generelle Regelung mit Außenwirkung, vermag aber nur für die Personen, die der Selbstverwaltungskörperschaft angehören und damit ihrer Entscheidungsgewalt unterworfen sind, Rechtswirkungen zu erzeugen.[360] Die Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG gelten für Ermächtigungen zum Erlass von Satzungen nicht, auch nicht analog.[361] Wohl aber können die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte in Verbindung mit der Wesentlichkeitstheorie für bestimmte Satzungsinhalte eine spezielle formell-gesetzliche Ermächtigungsgrundlage fordern.

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Verwaltungsvorschriften enthalten wie Rechtsverordnungen und Gesetze abstrakt-generelle Regelungen, anders als diese begründen sie unmittelbar aber keine Rechte und Pflichten im Außenverhältnis zum Bürger. Sie sind „Innenrecht“, mit dem eine übergeordnete Stelle der Verwaltung untergeordnete Einheiten organisiert und das Verwaltungsverfahren, die Auslegung des Gesetzes und die Ausfüllung von Ermessensspielräumen anleitet.[362] Das Dogma von der fehlenden Außenrechtsqualität bedarf allerdings mehrerer Einschränkungen. Anerkannt ist zunächst, dass Verwaltungsvorschriften über den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) eine mittelbare Außenwirkung erlangen können (Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung).[363] Das soll nach der Rechtsprechung sogar dann gelten, wenn tatsächlich noch kein Fall gemäß der Verwaltungsvorschrift entschieden wurde (Verwaltungsvorschrift als „antizipierte Verwaltungspraxis“).[364] In der Rechtsprechung ist außerdem in bestimmten Fällen (vor allem bei komplizierten naturwissenschaftlich-technischen Fragen) die Figur einer „normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift“ anerkannt, die als solche grundsätzlich auch für die Gerichte bindend ist.[365] In der juristischen Dogmatik wird diskutiert, inwieweit sich diese Rechtsfigur verallgemeinern lässt und wie weit die Bindungskraft des „originären Verwaltungsrechts“ reicht.[366]

 

dd) Plan

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Die Bedeutung von Planung (als komplexem Vorgang) sowie Plänen (als dem „Produkt“ von Planung) ist in den letzten Jahren nicht zuletzt unter dem Einfluss des Unionsrechts ständig gewachsen, wie etwa ein Blick auf das europäische Umweltrecht belegt (z.B. Wasserrahmenrichtlinie, Luftreinhalteplanung, FFH-Schutzgebiete).[367] Dabei gibt es „den“ Plan zwar als Handlungsform (insbesondere der Infrastrukturverwaltung),[368] nicht aber als einheitlichen Rechtsbegriff und als selbständige Rechtsform. „Plan“ stellt vielmehr eine Sammelkategorie für sehr unterschiedliche Erscheinungen dar, die jeweils nach den einschlägigen Rechtsgrundlagen eingeordnet und behandelt werden müssen und deren rechtliche Qualifikation bei fehlender gesetzlicher Regelung im Einzelfall durchaus schwierig und umstritten sein kann.[369]

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Der Plan tritt im Gewande aller klassischen Rechtsformen auf: als Rechtssatz (formelles Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung), Kabinettsbeschluss, Richtlinie des Bundeskanzlers, Verwaltungsakt, Verwaltungsvorschrift, Einzelweisung oder Realakt. Daneben gibt es aber auch immer wieder neuartige Zwischenformen und Pläne sui generis (z.B. Konzept[370]). Zu unterscheiden sind imperative, influenzierende und indikative Pläne, wobei den imperativen Plänen rechtlich die größte Bedeutung zukommt.[371] Beispiele für imperative Pläne sind die Landesentwicklungs- und Regionalpläne (je nach Land in der Regel formelles Gesetz, Satzung oder Rechtsverordnung), der Bebauungsplan (Satzung)[372], der Planfeststellungsbeschluss (Verwaltungsakt) oder der Haushaltsplan von Gemeinden (Satzung)[373].

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Planung ist Finalprogrammierung und kann definiert werden als „analysierende[n] Erfassung gegenwärtiger Lagen, […] Prognose künftiger Entwicklungen und […] Vorentwurf einer normativen Ordnung. Sie zielt auf den Ausgleich von Interessen und die Koordination von Aktivitäten in einem Gefüge abgestimmter, miteinander zu einem Konzept verflochtener Maßnahmen.“[374] Planende Verwaltung ist durch das Moment der Gestaltungsfreiheit (Planungsermessen) gekennzeichnet, das ein Stück weit eine Selbstprogrammierung hinsichtlich der verfolgten Ziele und der hierfür eingesetzten Mittel zulässt.[375]

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Pläne stehen in einem besonders ausgeprägten Spannungsverhältnis von Stabilität und Flexibilität, da sie einerseits Planungssicherheit vermitteln sollen, ohne dass hierdurch bereits ein allgemeiner Planfortbestands- oder Planbefolgungsanspruch begründet würde, sich andererseits aber häufig aufgrund der Dynamik der zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse Planänderungen oder gar Planaufhebungen als erforderlich erweisen.[376] Die dichteste dogmatische Durchdringung hat die Planung in den Referenzgebieten des Umwelt- und vor allem des Bau- und Raumordnungsrechts erfahren.[377]

ee) Verwaltungsrealakt und informales Verwaltungshandeln

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Zu den genannten Handlungsformen tritt das tatsächliche (bzw. schlichte) Verwaltungshandeln (Verwaltungsrealakt) hinzu. Hierunter wird jedes Handeln verstanden, das nicht regelnden Charakter hat.[378] Es kann zwar Rechtsfolgen auslösen, doch ist es nicht darauf, sondern auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtet.[379] Erscheinungsformen des Realhandelns sind in erster Linie der Gesetzesvollzug und das informale Verwaltungshandeln.

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Informales Verwaltungshandeln,[380] insbesondere informale Absprachen, Vorsondierungen und Sondierungsgespräche, wurden zeitweise als Lösungsangebot zur Verminderung ordnungsrechtlicher Vollzugsdefizite (insbesondere im Umweltrecht) betrachtet.[381] Heute spielen informale Handlungsformen in der Verwaltungsrechtsdiskussion eine eher nachrangige Rolle, nicht zuletzt auch, weil sie sich aufgrund ihrer Intransparenz und der Gefährdung von Betroffenenrechten als rechtsstaatlich prekär erwiesen haben.[382]

c) Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung

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Die Rechtform des Verwaltungsakts findet auf Unionsebene ihre Entsprechung in der Entscheidung (Art. 288 Abs. 4 AEUV)[383] und stellt damit an sich kein Transformationshindernis dar. Allerdings musste die Dogmatik des Verwaltungs- akts ergänzt werden, um bestimmte Wirkungen im europäischen Binnenraum präziser erfassen zu können. Transnationale[384] Verwaltungsakte entfalten Wirkungen auch außerhalb des jeweiligen Hoheitsgebiets.[385] Ein kohärentes System transnationaler Anerkennung ist bislang freilich Desiderat geblieben,[386] immerhin bestehen aber bereits, wenn auch sehr unterschiedliche, sektorale Regelungen, etwa im Bereich der Produktzulassung[387], des europäischen Migrationsrechts[388] oder des transnationalen Steuerrechts[389].

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Auch das transnationale Aktions- und Kooperationsrecht[390] wird absehbar eine weitere Feindifferenzierung der Handlungsformen erfordern, weil sich bestimmte Interaktionsformen wie netzwerkartig institutionalisierte transnationale Behördenkooperationen[391] bislang mit den tradierten Formen des Verwaltungsvertrags einerseits und des Realakts andererseits nur unzureichend erfassen lassen. Beispiele wären etwa die für den Verwaltungsvollzug kardinalen, aber durch die administrative Handlungsformenlehre bislang nicht durchdrungenen Kooperationsstrukturen im Netz europäischer Wettbewerbsbehörden (§ 50a GWB) oder die internationalen Aufgaben der Bundesnetzagentur im Telekommunikationsrecht (§ 140 TKG). Notwendig ist hier eine produktive Verbindung internationaler Problemlösungserfahrungen mit der formalen Strukturgebung innerstaatlichen Verwaltungsrechts,[392] zu der gerade auch der Kanon rechtsförmlicher Handlungsformen zählt.

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Anfang der 1990er-Jahre wurde die deutsche Handlungsformenlehre durch die Rechtsprechung des EuGH erschüttert, die der (normkonkretisierenden) Verwaltungsvorschrift die fehlende Tauglichkeit attestierte, verbindliche und subjektive Rechte des Einzelnen begründende EG-Richtlinienbestimmungen umzusetzen.[393] Vor diesem Hintergrund ist der deutsche Gesetzgeber verstärkt dazu übergegangen, „technische“ Details des Unionsrechts (wie etwa Grenzwerte) im Verordnungswege umzusetzen. Hierbei hat er vielfach den – hinsichtlich seiner Zulässigkeit umstrittenen – Weg einer Generalklausel gewählt (vgl. z.B. § 6a Abs. 1 WHG)[394]. Richtigerweise wird man davon auszugehen haben, dass derartige Verordnungen in Zusammenschau mit dem (hinreichend bestimmten und seinerseits demokratisch legitimierten) Unionsrecht bei modifizierender Auslegung mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sind.[395]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › IV. Verwaltungsrechtliche Institute in der Demokratieperspektive

IV. Verwaltungsrechtliche Institute in der Demokratieperspektive

1. Historische Dimension

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Demokratie und Verwaltung wurden aus historischer Sicht in Deutschland vergleichsweise spät miteinander versöhnt.[396] Teils revolutionäre Bemühungen um eine Demokratisierung des restaurierten Deutschlands im Vormärz (1815–1848) sind ebenso gescheitert wie der Versuch einer gesamtdeutschen Verfassunggebung auf demokratischer Grundlage („Paulskirchen-Verfassung“ vom März 1849).[397] Prägender Typus des Staats- und Verfassungsrechts im 19. Jahrhundert blieb bis Ende des Ersten Weltkriegs die konstitutionelle Monarchie, die auf einer eigentümlichen, letztlich inkohärenten Überlagerung von Fürsten- und Volkssouveränität beruhte.[398] Trotz kontinuierlicher Ausdehnung der Parlamentsgesetzgebung, der Etablierung des Reichstags als Parlament des Deutschen Reiches (1871) und der Festigung der parlamentarischen Budgethoheit seit dem Preußischen Verfassungskonflikt[399] blieben lange Zeit Elemente erhalten, die demokratischer Egalität widersprachen (Dreiklassenwahlrecht, Ausschluss des Frauenwahlrechts). Eine wirklich parlamentarisch-demokratische Verfassung, die auf den Prinzipien der Republik und der Volkssouveränität beruhte, stellte erstmalig die („Weimarer“) Reichsverfassung von 1919 dar,[400] an deren wesentliche Grundpfeiler später – nach faktischer Außerkraftsetzung während des „Dritten Reiches“[401] – auch das Grundgesetz unter entsprechenden Vorgaben der West-Alliierten 1949 anknüpfen konnte.[402]

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Eigentümlichkeit der deutschen Entwicklung hin zur Demokratie ist die Vorwegnahme des rechtsstaatlichen Elements als Kompensation für das weitgehende Scheitern von Forderungen des liberalen Bürgertums nach politischer Teilhabe im 19. Jahrhundert.[403] Diese Tradition, Verwaltung weniger proaktiv als Fortsetzung demokratischer Selbstbestimmung durch administrative Gestaltung, sondern eher defensiv als Bedrohung individueller Freiheit anzusehen, prägt die deutsche Verwaltungskultur bis heute. Demokratie und Rechtsstaat werden als separate und eher antagonistische Prinzipien gesehen, Verbindendes zwischen ihnen (z.B. die Wirksamkeit demokratisch gesetzten Rechts, der demokratische Gestaltungsauftrag der Verwaltung) eher vernachlässigt. Folgen sind eine intensive rechtliche Inhaltskontrolle, eine Zurückdrängung diskretionärer Entscheidungen, strikte Gesetzesvorbehalte und ein ausgebauter Individualrechtsschutz.

2. Parlamentarische Einbindung

a) Formen demokratischer Legitimation

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Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verlangt eine hinreichende Legitimation der Verwaltung im Wege parlamentarischer Einbindung (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), das heißt ein bestimmtes Legitimationsniveau.[404] Hierfür kommen verschiedene Modi der Legitimation in Betracht. Sie sollen die Frage beantworten, mit welchen zulässigen Mitteln die Zurechnung der Staatsgewalt zum Volk bewirkt werden kann. „Klassisch“ ist dabei der Kanon von institutionell-funktioneller[405], materieller (sachlich-inhaltlicher) und personeller Legitimation.[406] Die materielle Legitimation vollzieht sich in zwei grundlegenden Formen, nämlich der demokratischen Steuerung und der Kontrolle der Verwaltung. Steuerung im – hier zugrunde gelegten – engeren Sinne ist dabei stärker auf die Herstellung der Entscheidung bezogen, nimmt also die Ex-ante-Perspektive ein, während Kontrolle primär als retrospektive Abweichungsanalyse zu verstehen ist.[407] Dass auch ein Kontrollinstrument wie die parlamentarische Verantwortlichkeit Vorwirkungen haben und insofern als Steuerungsinstrument (im weiteren Sinne) wirken und gelten kann, steht auf einem anderen Blatt.[408] Beide, Steuerung und Kontrolle, zielen auf eine Steigerung der Sachrichtigkeit der Entscheidung durch Einwirkung auf das Steuerungs- bzw. Kontrollobjekt. Hinzu tritt – gleichsam als zweiter Legitimationsstrang – die personelle Legitimation, die in einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern der Verwaltung besteht.