Ius Publicum Europaeum

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cc) Europäische Verwaltungszusammenarbeit und Einheitlicher Ansprechpartner

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Zu einer weiteren Intensivierung der europäischen Verwaltungszusammenarbeit in Form einer Europäisierung der Amtshilfe[246] zwischen den national zuständigen Behörden hat die Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (kurz: EU-Dienstleistungsrichtlinie – DLRL)[247] geführt (Art. 21, 28–35 DLRL). Durch Art. 4a des Gesetzes vom 17.7.2009 zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewerberecht und in weiteren Rechtsvorschriften[248] wurde ein neuer Abschnitt „Europäische Verwaltungszusammenarbeit“ (§§ 8a–8e) in das VwVfG eingefügt.[249] Die „Europäische Verwaltungszusammenarbeit“ geht jedoch über die traditionelle deutsche Amtshilfe (§§ 4ff. VwVfG) weit hinaus.

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Daneben brachte die DLRL u.a.[250] weit reichende Überformungen des Verwaltungsorganisationsrechts: Art. 6 DLRL sieht zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung die Einrichtung eines sogenannten Einheitlichen Ansprechpartners vor, über den alle Verfahren und Formalitäten, die für die Aufnahme der Dienstleistung notwendig sind, abgewickelt werden können. Hauptaufgaben[251] des Einheitlichen Ansprechpartners sind die Übermittlung von Informationen darüber, welche verfahrens- und materiell-rechtlichen Anforderungen für die rechtmäßige Aufnahme und Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu beachten sind, sowie eine Unterstützung bei der Abwicklung der erforderlichen Verfahren.

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Die Umsetzung der DLRL erfolgte in Deutschland u.a.[252] durch das Vierte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften (4. VwVf ÄndG) vom 11.12.2008[253]. Ihm dient die Umsetzung der DLRL als Anlass für eine „überschießende Transformation“ (freiwillige Rezeption) in Gestalt eines über den Anwendungsbereich der DLRL hinaus geltenden Abschnitts „Verfahren über eine einheitliche Stelle (§§ 71–71e)“.[254] Die einheitliche Stelle fungiert als Verfahrensmittlerin zwischen Antragsteller und zuständigen Behörden sowie als Koordinierungsstelle für die durchzuführenden Verwaltungsverfahren, besitzt aber keine eigene Sach- oder Entscheidungskompetenz. Für das Verhältnis von einheitlicher Stelle zu den zuständigen Fachbehörden sieht § 71d VwVfG in Ergänzung der allgemeinen Amtshilfepflicht nach § 4 VwVfG eine gegenseitige Unterstützungspflicht vor, die nicht abschließend ist; weitere Einzelheiten können insbesondere im Rahmen von Verwaltungsvorschriften geregelt werden.[255] Die Regelung, wer die Aufgaben des Einheitlichen Ansprechpartners wahrnimmt, überlässt die DLRL den Mitgliedstaaten. In Deutschland werden hierfür auf der Ebene der zuständigen Länder (vgl. Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG) verschiedene Modelle präferiert (Ansiedlung auf kommunaler Ebene; Kammermodell; Übertragung auf Landesministerium bzw. Landesmittelbehörde; Modell der Kooperation zwischen Kammern und Kommunen).[256]

2. Personal

a) Grundlagen

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Das Recht des öffentlichen Dienstes ist nach Art. 33 Abs. 5 GG unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.[257] Hergebrachte Grundsätze sind ein vorkonstitutioneller Kernbestand von tragenden Strukturprinzipien des Beamtentums.[258] Hierzu zählen etwa die Regelung des Beamtenstatus durch Gesetz,[259] der Grundsatz der Hauptberuflichkeit,[260] die Pflicht zur unparteiischen Amtsführung,[261] die politische Treuepflicht,[262] die Gehorsamspflicht[263] und die Alimentationspflicht des Dienstherrn[264].[265]

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Die Beamtengesetze des Bundes und der Länder tragen dem Rechnung und haben den dienstrechtlichen Status der Beamten in der Regelform als Lebenszeitverhältnis mit im Einzelnen detailliert geregelten Rechten und Pflichten ausgestaltet. Richter des Bundes und der Länder stehen in einem funktional gesondert geregelten Dienstverhältnis, das den Besonderheiten richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 GG) Rechnung trägt, ungeachtet dessen im Übrigen aber einem Lebenszeitbeamtenverhältnis entspricht.[266] Dienstherrenfähig, das heißt befugt, Beamte zu ernennen, sind Bund, Länder, Gemeinden sowie aufgrund sondergesetzlicher Zuweisung sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts (vgl. § 2 BeamtStG, § 121 BRRG).

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Das Grundgesetz misst dem Beamtentum eine besondere Rolle bei der Gewährleistung eines funktionierenden Gemeinwesens zu. Der Beamte soll sich ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen, wofür der Staat ihm und seiner Familie einen angemessenen Lebensunterhalt durch Alimentation sichert.[267] Die hierdurch im Berufsbeamtentum angelegte persönliche Unabhängigkeit soll es ermöglichen, dass die Beamten ihre verfassungsrechtliche Aufgabe erfüllen, eine stabile und gesetzestreue Verwaltung zu sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften zu bilden.[268] Aus diesem Grund sieht Art. 33 Abs. 4 GG vor, dass die Ausübung hoheitlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treuverhältnis (also in der Regel einem Beamtenverhältnis) stehen.[269] Außerhalb dieser Kernaufgaben besteht der Personalkörper des öffentlichen Dienstes in Deutschland zu einem erheblichen Teil aus Angestellten, deren Status auf einem tarifvertraglich näher ausgestalteten privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnis beruht.[270]

b) Reformbestrebungen

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Das Beamtenrecht befindet sich – nicht zuletzt in Reaktion auf eine Reihe von Strukturproblemen des öffentlichen Dienstes in der Praxis[271] – gegenwärtig in einer Phase grundlegender Modernisierung, die gekennzeichnet ist durch Flexibilisierung, Föderalisierung und Privatisierung.[272] Die vor allem arbeitsmarktpolitisch motivierte Politik, sektoral nur noch Teilzeitbeamte einzustellen, kompensatorisch aber die Möglichkeiten zu erweitern, durch Nebentätigkeiten Einnahmen zu erzielen, wurde vom BVerfG aufgrund der hierdurch zu besorgenden Interessenkonflikte für verfassungswidrig erachtet, da die Gefahr bestehe, dass der Beamte zum „Diener zweier Herren“ werde.[273]

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Mit der Föderalismusreform wurde die ursprüngliche Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für das Recht des öffentlichen Dienstes auch der Länder (Art. 74a GG a.F.) abgeschafft und in eine eingeschränkte konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Statuspflichten der Beamten der Länder und der Gemeinden (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG) übergeleitet.[274] Hierdurch erhalten die Länder ungeachtet der Bindung an hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums eine weitgehende Autonomie, ihr Dienstrecht neu zu ordnen, wovon sie auch zunehmend Gebrauch machen.[275] Schließlich steht das Berufsbeamtentum aufgrund ansteigender Versorgungslasten fortwährend unter einem Rechtfertigungsdruck gegenüber privaten Dienstverhältnissen. Eine Abschaffung des beamtenrechtlichen Sonderstatus durch Verfassungsänderung und die Überleitung in ein allgemeines Dienstrecht auf privatrechtlicher Grundlage[276] wird politisch diskutiert. Wo dies gemessen an Art. 33 Abs. 4 GG möglich ist, wird vermehrt auf eine Verbeamtung verzichtet.[277]

c) Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung

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Das Beamtenrecht sah sich bislang vergleichsweise geringen europäischen Anpassungszwängen ausgesetzt.[278] Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten können in ein deutsches Beamtenverhältnis berufen werden, soweit nicht in Einklang mit Art. 51 AEUV die Besonderheiten der übertragenen Hoheitsaufgaben entgegenstehen.[279] Die laufbahnrechtliche Anerkennung von berufsqualifizierenden Abschlüssen anderer Mitgliedstaaten ist auf der Grundlage des geltenden Unionssekundärrechts[280] möglich.[281]

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Noch nicht abschließend bewältigte Probleme zeichnen sich im Bereich möglicher Altersdiskriminierung ab. Während das Unionsrecht Unterscheidungen nach dem Alter nur bei objektiven Erfordernissen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zulässt,[282] knüpft das deutsche Beamtenrecht in zentralen Bereichen[283] weiterhin an das Alter an. Eine notwendig regelungszweckspezifische Rechtfertigung wird zwangsläufig dem Beamtenrecht punktuelle Modifikationen zur Anpassung an unionsrechtliche Vorgaben abverlangen.[284] Gleiches gilt für die Hinterbliebenenversorgung, die nach deutschem Beamtenrecht eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern unionsrechtswidrig vorenthalten wird.[285]

3. Verfahren

a) Grundlagen

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Es entspricht der deutschen Verwaltungsrechtstradition, die Verwirklichung des materiellen Rechts zum Dreh- und Angelpunkt des Verwaltungsrechts zu machen, während dem Verfahren ein vergleichsweise geringer Stellenwert zukommt.[286] Dem Verfahren wird gegenüber dem materiellen Recht eine hauptsächlich „dienende Funktion“ zugemessen;[287] es ist der „Weg zur Entscheidung als Endprodukt“[288]. Dabei dominiert vor allem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Überzeugung, dass diese dienende Funktion grundsätzlich auch ohne Sanktionierung von Verfahrensfehlern erfüllt werden kann.[289] Der Charakter des Verwaltungsverfahrens auch als Teil des Rechtskonkretisierungsprozesses[290] wird vom deutschen Recht zwar im Prinzip anerkannt, jedoch letztlich nur unzureichend in operable Regelungsstrukturen übersetzt, die diesen prozeduralen Eigenleistungen auch konkret Rechnung tragen würden.[291]

 

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Diese Grundhaltung gegenüber dem Verfahren spiegelt sich in der verwaltungsrechtlichen Fehlerfolgenlehre wider:[292] Verfahrensfehler lassen die Wirksamkeit eines ergangenen Verwaltungsakts grundsätzlich unberührt (vgl. § 44 VwVfG). Darüber hinaus sind sie im Rechtsbehelfsverfahren im Regelfall unbeachtlich. Zum einen können sie bis zum Abschluss der letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz im Grundsatz dadurch geheilt werden, dass die unterbliebene oder fehlerhafte Verfahrenshandlung nachgeholt wird (§ 45 Abs. 1 und 2 VwVfG; vgl. für die Umwelt-verträglichkeitsprüfung auch § 4 Abs. 1 Satz 2 UmwRG). Zum anderen ist die Mehrzahl der Verfahrensfehler, die nicht geheilt wurden, nach der prozessökonomisch begründeten und – abgesehen von einzelnen Durchbrechungen (vgl. erneut für die Umweltverträglichkeitsprüfung § 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 UmwRG[293]) – zu einem allgemeinen Fehlerfolgenprinzip („Auswirkungs-Kriterium“) hypostasierten[294] Vorschrift des § 46 VwVfG jedenfalls unbeachtlich, soweit „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat“.[295]

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Ungeachtet dessen gründet auch das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht auf allgemeinen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen und Verfahrensrechten der Beteiligten, Dritter sowie der Öffentlichkeit.[296] Hierzu gehören insbesondere: der Amtsermittlungsgrundsatz, wonach die Behörde den relevanten Sachverhalt von Amts wegen sowie unparteiisch zu ermitteln hat (§ 24 VwVfG) und sich hierzu der erforderlichen Beweismittel bedienen darf (§ 26 VwVfG); die Anhörung Beteiligter, die nur in Ausnahmefällen unterbleiben darf (§ 28 VwVfG)[297] und das Recht der Beteiligten, Akteneinsicht zu erhalten (§ 29 VwVfG). Während im Unionsrecht eine Begründung obligatorisch ist (Art. 296 AEUV) und Verstöße in der Regel zur Aufhebung der Entscheidung führen, erkennt zwar auch das deutsche Verwaltungsrecht die Begründungspflicht als rechtsstaatliches Verfahrensprinzip an,[298] beschränkt diese aber auf schriftliche bzw. elektronische Verwaltungsakte (§ 39 Abs. 1 VwVfG), wobei es selbst hiervon teils weit reichende Ausnahmen vorsieht (§ 39 Abs. 2 VwVfG) und die Fehlerfolgen stark relativiert (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 46 VwVfG).

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Verwaltungsverfahren sind in Deutschland grundsätzlich nicht an eine bestimmte Form gebunden; sie sind „einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen“ (§ 10 VwVfG; vgl. für die europäische Ebene jetzt auch Art. 298 AEUV). Leitbild ist die der Ergebnisorientierung des deutschen Verwaltungsrechts entsprechende Effizienz des Verfahrens,[299] nicht seine Förmlichkeit. Auch das Verwaltungsverfahrensrecht kennt aber daneben besondere Verwaltungsverfahren.[300] Dies ist zum einen das förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63ff. VwVfG), das mit dem Herzstück der mündlichen Verhandlung (§§ 67f. VwVfG) dem Gerichtsverfahren angenähert ist. Zum anderen kommt gerade im Fachplanungsrecht[301] dem Planfeststellungsverfahren (§§ 72ff. VwVfG) besondere Bedeutung zu. Dieses zeichnet sich durch besonders anspruchsvolle, mit Elementen der planerischen Abwägung angereicherte prozedurale Instrumente aus, in deren Zentrum die Öffentlichkeitsbeteiligung steht.

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Gesetzliche Reformen seit Anfang der 1990er-Jahre haben die Förmlichkeit der Verwaltungsverfahren sukzessive zurückgedrängt und unter den Leitbildern der Beschleunigung, Deregulierung sowie Entbürokratisierung („Schlanker Staat“) zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht nur Rechtsschutz abgebaut[302], sondern auch prozedurale Standards gelockert, insbesondere die Planfeststellung durch die Option der vereinfachten Plangenehmigung ersetzt (vgl. § 74 Abs. 6 VwVfG).[303] Überdies kam es in den letzten Jahren in Deutschland zu einer verstärkten Ausdifferenzierung des Verwaltungsverfahrens, bei der die „klassischen“ verfahrensrechtlichen Grundtypen (Verfahren der Gefahrenabwehr, Verfahren der Kontrolle privater Freiheitsbetätigung, Verfahren der Anlagenzulassung) durch „neue“ Verfahrenstypen (insbesondere Verteilungsverfahren, Qualitätssicherungsverfahren, Risikoverfahren) ergänzt wurden.[304]

b) Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung

aa) Prozeduralisierung

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Gerade im Verfahrensrecht verlangt die Europäisierung dem deutschen Verwaltungsrecht nicht unerhebliche Anpassungen ab.[305] Das geringe Gewicht von Verfahrensfehlern, das ein besonderes Kennzeichnen des deutschen Verwaltungsrechts darstellt, gerät dabei in einen tendenziellen Konflikt mit der stärkeren Betonung des Verfahrens im Unionsrecht.[306] Rechtsvergleichend macht sich hierin besonders der Einfluss angelsächsischer und vor allem französischer Rechtstraditionen bemerkbar.[307] Eine stärkere Verfahrensbetonung zeigt sich aber auch in der Rechtsprechung des EGMR.[308] Der Gerichtshof misst der Einhaltung hinreichender Verfahrensstandards über Art. 6, 13 EMRK hinaus entscheidende Bedeutung bei der Rechtfertigung von Eingriffen in durch die Konvention garantierte Menschenrechte zu.[309] Auch hierdurch wird das deutsche Verwaltungsrecht stärker für eine (notwendige) Ergänzung durch prozedurale Standards und eine „verfahrensfreundliche“ Auslegung sensibilisiert.

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Im Vergleich zum deutschen Verwaltungsrecht ist das Unionsrecht somit von seinem Grundansatz her prozeduraler ausgerichtet,[310] auch wenn eine vielfach zu geringe Normierungs- und Systematisierungsdichte im europäischen Verwaltungsrecht in gewissem Kontrast zu der betonten Bedeutung von Organisation und Verfahren steht.[311] Mit dem Hang des europäischen Rechts zur „Entmaterialisierung“ der normativen Entscheidungsprogramme ist das deutsche Denken von Haus aus wenig vertraut.[312] Insbesondere die §§ 45, 46 VwVfG zeugen von einer gewissen „Geringschätzung“ des Verfahrens.[313] Dem korrespondiert eine hohe materielle Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte, die beim Ergebnis des Verfahrens – eben der verwaltungsbehördlichen Entscheidung ansetzt. Folgen hat die Verfahrensfreundlichkeit des Unionsrechts etwa – entgegen der Rechtsprechung des BVerwG[314] – für den Fall einer unterlassenen oder mit schwerwiegenden Fehlern behafteten Umweltverträglichkeitsprüfung (keine Unbeachtlichkeit des Fehlers gemäß § 46 VwVfG).[315] Auch eine Fehlerheilung nach § 45 Abs. 2 VwVfG muss unterbleiben, soweit diese eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts vereiteln würde.[316]

bb) „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten – Rücknahme unionsrechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte

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Gerade mit Blick auf das Verwaltungsverfahrensrecht gilt im Bereich des indirekten Vollzugs von Unionsrecht der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten,[317] auch wenn in der europäischen Verwaltungs- und Rechtsprechungsrealität aufgrund der zahlreichen, zum Teil recht präzisen, aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleiteten richterrechtlichen Vorgaben eine wirkliche „Autono- mie“ im Einzelfall kaum mehr erkennbar ist.[318] Im Übrigen ist noch nicht hinreichend geklärt, wo der „überschießende“ normative Gehalt des Grundsatzes der Verfahrensautonomie gegenüber den Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit liegen soll, bzw. ob der Grundsatz überhaupt dogmatischer oder doch nur summativer und heuristischer Natur ist.[319]

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Die besonders weit reichende Überformung der nationalen Rücknahme- und Erstattungsdogmatik bei unionsrechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten (Beihilfebescheide) kann hierfür als Musterbeispiel gelten, auch wenn sie keiner Verallgemeinerung zugänglich ist: Von den §§ 48, 49a VwVfG bleibt insoweit nur noch eine fast völlig entkernte Hülle übrig.[320] Während § 48 VwVfG vom Gedanken des Vertrauensschutzes dominiert wird, sah sich der EuGH von Anfang an vor allem mit dem Problem eines unzureichenden Vollzugs des Unionsrechts konfrontiert. Insoweit bestand der Kollusionsverdacht, dass mitgliedstaatliche Verwaltungen zur Durchsetzung nationaler Interessen unionsrechtswidrig vergebene Fördermittel bewusst und unter Ausnutzung der Rücknahmehindernisse nicht zurückfordern.[321] Hierauf hat der Gerichtshof zwar im Grundansatz zutreffend, aber zu radikal reagiert, indem er zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen sowie unter Heranziehung der Loyalitätspflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV bei prinzipieller Anerkennung des Vertrauensschutzes ein grundsätzlich vorrangiges Gewicht des unionalen Vollzugsinteresses eingefordert und insoweit hinderliche Kautelen des deutschen Verwaltungsrechts (z.B. § 48 Abs. 4, § 49a Abs. 2 VwVfG) eingeebnet hat,[322] ohne einen effektiven Mindestvertrauensschutz zu gewährleisten.

cc) Verfahrenskonvergenz – Rücknahme unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte

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Dass die Anpassung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts an das Unionsrecht auch konvergent und harmonisch verlaufen kann, belegt etwa die Rechtsprechung zur Rücknahme unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte.[323] Der EuGH hat hier frühzeitig anerkannt, dass eine fristgebundene Bestandskraft, die zur Unaufhebbarkeit eines Verwaltungsakts führt, grundsätzlich uni- onsrechtskonform ist, dass die Prinzipien der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Rechts- bzw. Bestandskraft auch wichtige allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts[324] bilden,[325] und folglich grundsätzlich keine Verpflichtung besteht, eine gegen das Unionsrecht verstoßende rechts- bzw. bestandskräftige gerichtliche bzw. behördliche Entscheidung nachträglich zu überprüfen und aufzuheben.[326] Etwas anderes gilt nur dann, wenn entweder eine unionsrechtswidrige Entscheidung in Folge einer verfehlten Nichtvorlage nach Art. 267 AEUV bestandskräftig wurde[327] oder eine rechtskräftige nationale Gerichtsentscheidung eine entgegenstehende ablehnende Beihilfenentscheidung der Kommission übergeht[328]. Wird eine unionsrechtswidrig belastende Verwaltungsentscheidung dagegen bestandskräftig, ohne dass der Rechtsweg hiergegen ausgeschöpft wurde, so ist die Verwaltung grundsätzlich lediglich unter den nach nationalem Recht eingeräumten Voraussetzungen verpflichtet,[329] eine mögliche Rücknahme zu prüfen, nicht aber diese auch vorzunehmen.[330]

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Diese moderaten Vorgaben lassen sich aus der Sicht des deutschen Verwaltungsrechts bruchlos und verfassungskonform[331] in das Regelungssystem der §§ 48, 51 VwVfG integrieren.[332] Die unionsrechtliche Vollzugseffektivität, namentlich die Beseitigung einer unionsrechtswidrigen Wettbewerbsverzerrung, ist hierbei als ein ermessensleitender Gesichtspunkt unter anderen im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.[333]