Insight - Martin Gore und Depeche Mode

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Als A Broken Frame schließlich fertig war und im September 1982 erschien, dominierte bei Gore zunächst aus zwei Gründen ein Gefühl der Erleichterung. Er hatte es erstens geschafft, genug Stücke zusammenzubekommen, und zweitens zumindest einen Ansatz gefunden, sich von Clarke zu emanzipieren – ohne Hilfe von außen; dieser Eindruck war ihm besonders wichtig. Daher spielte Wilder bei den Aufnahmen von A Broken Frame noch keine Rolle, daher gab es aber nach der Veröffentlichung auch keinen Grund mehr, ihn nicht endlich fest in die Band aufzunehmen. So verkündete Gores Freundin Anne Swindell in der Oktober-Ausgabe des Depeche Mode Info Service: »Alan Wilder ist jetzt ständiges Mitglied bei Depeche Mode« – und die Bandmitglieder waren wieder zu viert.


Martin Gore und sein gespaltenes Verhältnis zum Synthie-Pop der frühen Achtziger.

Der Klavierspieler benötigt für seine Kunst alle zehn Finger, der Gitarrenheld mindestens ein halbes Dutzend, der Schlagzeuger seine beiden Hände und Füße. Rock’n’Roll ist echtes Handwerk – und das Schwitzen gehört dazu. Wer in einer Band spielt, muss auch körperlich etwas leisten. Muss sich die Annehmlichkeiten eines Rockmusikers im Schweiße seines Angesichts verdienen. Das gilt vor allem für die progressiven Bands der Siebzigerjahre, die es handwerklich »draufhaben«, wie man sagt, und ihr Können immerfort in überlangen Songs beweisen. Das gilt später aber auch für die Bands, deren Ansinnen es ist, genau diese so genannten Dinosaurier von der Bühne zu fegen: die Punkrocker, die am liebsten mit nacktem Oberkörper spielen, schnell und intensiv auf ihre Instrumente einprügeln und zwischen den Songs wütend agitieren. Auch das Publikum schwitzt: Pogo – und der Schweiß tropft von der Decke. Rock- und Popmusik, ob etabliert oder subversiv, ist Ende der Siebzigerjahre eine gesamtkörperliche Erfahrung.

Und dann kommen die Synthie-Popper. Sie schwitzen nicht. Und sie brauchen für ihr Instrument, den Synthesizer, nur einen Finger. Synthie-Popper in Reinkultur entziehen der Musik die Körperlichkeit. Sie geben sich androgyn und singen nicht über Herzen, sondern Maschinen. Sie sagen, sie seien die Zukunft – und wehren sich daher nicht, wenn die Medien ihnen das Etikett der »Futuristen« verpassen. Der große Pionier dieser Welle ist die deutsche Gruppe Kraftwerk. Fernab von den Epizentren der Popmusik erschaffen und formieren die Düsseldorfer ab Mitte der Siebzigerjahre eine möglichst nicht-physische Band. Die Mitglieder sehen sich nicht als Musiker. »Wir schwitzen nicht. Wir machen keine dreckige Arbeit. Wir sind wie Computer-Programmierer«, definiert es Kraftwerk-Mitbegründer Ralf Hütter. Für junge Briten, die Ende der Siebzigerjahre mit dem für die Insel typischen Kneipenrock fertig waren, klingt dieser Ansatz außerordentlich vielversprechend. Er gibt ihnen die Möglichkeit, Popmusik zu spielen und die Klischees zu ignorieren. Die Idee von der nicht-physischen Band gibt auch schüchternen, introvertierten Menschen die Chance, in einer Band zu spielen. Und Martin Gore nutzt diese Chance – auch wenn er später Kraftwerks Idee total umdefiniert, indem er seinen Körper sehr wohl in die Band einbringt, jedoch anders, als die Rocker sich das vorstellen.

Als sich Depeche Mode in Basildon finden, haben andere britische Synthie-Popper bereits wichtige Vorarbeit geleistet. Der wichtigste Pionier der jungen Szene ist Gary Numan aus London, doch seine Hinwendung zur elektronischen Musik geschieht mehr oder weniger zufällig. Numan plant mit seiner Band Tubeway Army eine Glamrock-Platte im Stil von David Bowie, als er im Studio über ein Mini-Moog-Keyboard stolpert, das eine andere Band dort vergessen hat. Er testet das Gerät, weiß nicht viel von dessen Eigenschaften, erwischt aber einen harten, leicht verzerrten Sound, der bei ihm eine Assoziationskette in Gang setzt: So kraftvoll hat seine verzerrte Gitarre nie geklungen – und aus einem Bauchgefühl heraus deutet er die bereits fertigen Songs der ersten Tubeway-Army-Platte um. »Ich bin nur ein Gitarrist, der Keyboards spielt«, sagt er. »Ich verwandele Punksongs in elektronische Songs.« Zwar war das Debüt von Tubeway Army noch eine halbseidene Angelegenheit zwischen Glamrock und Elektro-Pop; doch spätestens mit dem dritten Album The Pleasure Principle, diesmal unter eigenem Namen, legte Numan den Grundstein für die Synthie-Pop-Welle.

Musikalisch – aber auch textlich, wie ein Song wie M.E. beweist. Numan schreibt ihn aus der Perspektive der letzten noch funktionierenden Maschine auf einer Welt, in der alles Leben gestorben ist. Diese düsteren Visionen einer schattigen Zukunft sind ein Gegenmodell zur hyperrealistischen und intensiven New Wave aus Nordengland, gespielt vor allem von Joy Division und ihrem sehr körperlichen Frontmann Ian Curtis. Der ehemalige Ultravox-Sänger John Foxx legt mit seinem ersten Soloalbum Metamatic die künstlerische Latte für folgende Elektro-Platten noch höher. Die LP erscheint 1980 und enthält Lieder wie A New Kind Of Man und He’s A Liquid. Drei Jahre später spielen Depeche Mode Teile ihres dritten Albums Construction Time Again in Foxx’ Studio in London ein und profitieren dort von der künstlerischen und kreativen Brillanz des Besitzers.

Keine Frage, Metamatic ist einer der künstlerischen Höhepunkte der Synthie-Pop-Welle. Auf Augenhöhe: die besten Alben von David Sylvians Projekt Japan, Gentlemen Take Polaroids und Tin Drum. Doch nicht alle Acts, die sich von Gary Numan inspirieren lassen, streben in so eindrucksvolle Höhen. Im Windschatten eines echten Futuristen wie Foxx tauchen britische Bands auf, die ihre Synthesizer aus zwei Gründen im Gepäck haben: erstens, weil die ehemals teuren Geräte plötzlich für unter 200 Pfund zu haben sind – und damit weniger kosten als die Kombination aus Gitarre und Verstärker; zweitens, weil die Idee einer Band ohne Gitarren und Schlagzeug eine schnelle Karriere verspricht, denn sie ist neu und aufregend. Das klingt negativer, als es gemeint ist, denn die frühen Alben und Singles von pragmatischeren Elektro-Acts wie Thomas Dolby, Soft Cell, Tears For Fears, Heaven 17, Orchestral Manoeuvres In The Dark, Eurythmics oder The Human League sind um Klassen besser als das, was nach Ende der Welle Mitte der Achtzigerjahre zum Mainstream wird.

Die Rolle von Depeche Mode in diesem Pool neuer Bands ist von Beginn an ambivalent. Gore kommt überhaupt nur in die Gruppe, weil er einen Synthesizer besitzt und Vince Clarke heiß ist auf ein solches Instrument, denn er verspricht sich davon schnelle Aufmerksamkeit. Pragmatischer geht es nicht. Auch ist Gore kein Futurist. Seine Einflüsse sind vor allem traditioneller amerikanischer Rock’n’Roll; seine Experimentierlust in Sachen elektronischer Musik ist wenig ausgeprägt, monatelang spielt er seinen Synthesizer, ohne zu wissen, dass der mehr als nur einen Sound draufhat. Als Gore schließlich zum Songwriter der Band wird, schreibt er die Stücke auf der Gitarre und arrangiert sie mit dem jeweiligen Produzenten sowie später Alan Wilder – manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Beteiligung – für die Synthie-Besetzung um. Dass die bis in die späten Achtzigerjahre unumstößlich bleibt, liegt vor allem an Gores Abneigung gegen den klassischen Rock’n’Roll und seine Manierismen.

1982 erreicht die Synthie-Pop-Welle ihren Höhepunkt. Die Elektrobands dominieren die Charts, und zwar so sehr, dass die britische Musikergewerkschaft fordert, den Einsatz der Synthesizer in den Studios einzuschränken, da diese Geräte auf Dauer die professionellen Musiker arbeitslos zu machen drohen. Doch auch andere Szenen wettern gegen die Synthie-Popper. Gitarrenlastige Wavebands wie Echo & The Bunnymen lästern, diese Keyboard spielenden Kids besäßen kein Talent. Die Punkband The Undertones schreibt den Song My Perfect Cousin über ein besonders oberflächliches Exemplar unter den Synthie-Musikern. Ihr Image ist miserabel. »Haircut Bands« ist noch ein braves Urteil, »art fag« – Kunstschwuchtel – zielt da schon tiefer. In den Redaktionen der Musikmagazine sitzen vor allem Althippies, die den Siegeszug der elektronischen Musik für das Ende des Abendlandes halten und gegen die Bands Stimmung machen. Während sich die Innovatoren unter den elektronischen Musikern rechtzeitig in die Avantgarde verabschieden und Gruppen wie Soft Cell oder The Human League ab Ende 1982 laut propagieren, nun stünden echte Streicher und Bläser für die Zukunft, bleiben Depeche Mode ihrer Idee treu: Keyboards only. Die Ära des Synthie-Pop endet Anfang 1983. Plötzlich stehen Depeche Mode recht alleine da. Martin Gore gefällt das ziemlich gut. Er zieht das Ding stur durch – und wird dafür reich belohnt.


Welche Bücher Gore in seinem Lesekoffer hat, was seine Ex von Nackten im Fernsehen hielt und wie er eine italienische TV-Legende für einen Moment sprachlos machte.

Der Brite John Baine gab sich Anfang der Achtzigerjahre den Namen Attila The Stockbroker und begann eine Karriere als bitterböser Punk-Poet. Eines seiner beliebtesten Stücke der ersten Tage handelte von seinem regelmäßigen Protagonisten Nigel, einem blassen Typen, der gerne bei C&A von der Stange kauft und Depeche Mode hört. Nigel Wants To Go & See Depeche Mode heißt der kurze Text. Attila The Stockbroker spuckt Gift und Galle, spricht »Depeche Mode« besonders affektiert aus – »Depechay«, so wie es Dave Gahan in den ersten Tagen selbst wollte – und beschreibt die Musik der von den Punks wenig geliebten Band als »bland unchallenging pop music«, farb- und anspruchslos. Attilas kurze Geschichte ist der beste Beweis: Der Status von Depeche Mode im Underground sowie im Kanon der sich selbst als wichtig einschätzenden Kritiker war Anfang 1983 noch immer schlecht. Man nahm die Band weiterhin nicht ernst.

 

Martin Gores Einstellung zur öffentlichen Meinung war zu dieser Zeit ambivalent. Er sah weiterhin keinen Grund darin, sich in der Szene sowie bei der szene-relevanten Presse beliebt zu machen. In vielen Interviews zu A Broken Frame verweigerte er jede Deutung seiner Lyrics und überließ zumeist Dave Gahan, Andy Fletcher und Vollzeit-Neuling Alan Wilder das Erzählen. Die parlierten dann auch gerne drauflos, sodass viele Interviews mit der Band in dieser Zeit geschwätzig wirkten: ein paar Anekdoten und schnelle Einschätzungen, jedoch wenig wirklich Gehaltvolles. Auch eine Art finales Konzept, wohin der Weg von Depeche Mode gehen solle, war nicht zu entdecken. In einem Gespräch mit dem Record Mirror schätzte Gore die Lage der Band folgendermaßen ein: »Die Dinge entwickelten sich zuletzt in Sachen Presse sehr schlecht. So musste es kommen. Es ist keine Überraschung, nur ein bisschen nervig, besonders weil es nun eine Menge Leute gibt, die uns zunächst mochten – und plötzlich nicht mehr. Noch vor einiger Zeit konnten wir nichts verkehrt machen, jetzt können wir nichts mehr richtig machen.«

Doch genau darauf kam es nach A Broken Frame an: etwas richtig zu machen. Musik zu bieten, die von Fortschritt kündet, die Fans glücklich macht – und die aufregend genug ist, um den Skeptikern die Argumente zu nehmen. Richten sollte es zunächst eine neue Single. Get The Balance Right! erschien am 31. Januar 1983. Gore wurde vom Management um Daniel Miller mit der Idee konfrontiert, ein komplett neues Stück zu veröffentlichen, und sah sich gezwungen, schnell einen neuen Track auf die Beine zu stellen. Der Songwriter erinnerte sich daran, in diesem Augenblick zum ersten Mal den unangenehmen Druck verspürt zu haben, einen Hit vorlegen zu müssen, ohne das Material dafür zu haben. Get The Balance Right! war schlicht und ergreifend der einzige neue Song, den Gore nach A Broken Frame geschrieben hatte. Band und Umfeld entwickelten daher zunächst wenig Herzblut für das Stück. Zudem verliefen die Aufnahmen kompliziert, denn im Blackwing Studio, wo Depeche Mode seit Speak & Spell Stammkunden waren, geriet das ohnehin komplexe Zusammenspiel von Menschen und Maschinen aus der Bahn.

Studiobesitzer und Produzent Eric Radcliffe hatte sich seit den frühen Tagen des Elektro-Pop immer neue technische Geräte angeschafft. Ende 1982 waren die ersten digitalen Geräte in das Studio im Südosten Londons geliefert worden. Radcliffe und Miller, der als Mentor, Koproduzent und wohl auch wohlmeinender Kontrolleur noch immer bei jeder Depeche-Mode-Session dabei war, probierten die neuen Maschinen aus – und Gore wusste nicht so recht, welche Rolle er als Songwriter und Musiker dabei zu spielen hatte. Darüber hinaus hatte die Band genug Herausforderungen im internen Rollenspiel zu meistern, denn die Studiosessions zu Get The Balance Right! waren die ersten mit Wilder. Der Neue war eindeutig der beste Musiker unter den vieren. Das wusste auch Gore – und als Wilder zudem anregte, mit ihm zusammen an neuen Songs zu feilen, wackelte das Bandgefüge. Es ist weniger seiner Experimentierlust als seinem Problem mit dem Wörtchen »Nein« zuzuschreiben, dass Gore zum ersten Mal seinem strengen Prinzip untreu wurde, ausschließlich alleine an Songs zu arbeiten. So entstand das mal wie ein Wiegenlied einlullende, mal verstörende Instrumental The Great Outdoors!, die erste und, so Wilder, einzige wirklich gemeinsame Komposition von Gore und ihm.

Wie wenig Gore diese für ihn ungewohnte Art der kreativen Kooperation gefallen hatte, erfuhr Wilder in einer Diskussion kurze Zeit später: Nein, es sei kein Problem, dass Wilder eigene Songs einbringe, aber das Arbeiten zu zweit sei für ihn kein Modell für die Zukunft. Somit geriet die kompositorisch unspektakuläre Single-Flipside The Great Outdoors! zu einem Stück, das in Sachen Arbeitsweise die Weichen für die Zukunft stellte, weil sie eine weitere Kooperation der zwei besten Musiker in der Band ausschloss. Auch die A-Seite entfaltete eine Wirkung, mit der Gore zur Zeit der Aufnahme nicht rechnen konnte – auf zwei Ebenen. Da war einmal der Text: Gore schrieb erstmals keine introvertierte Reflexion subjektiver Gefühle. Schon das Ausrufezeichen im Titel deutet an: Dies ist eine Aufforderung! Oder besser, eine Aneinanderreihung von solchen. »Understand! Learn to demand! Compromise! And sometimes lie!« heißt es gleich in der ersten Strophe. Und später: »When you reach the top/ Get ready to drop/ Prepare yourself for the fall/ You’re gonna fall/ It’s almost predictable.« Er hat es nie direkt zugegeben, aber mit der Annahme, dass Gore diese Worte nicht nur an die dringend nach Orientierung suchenden jungen Fans, sondern auch an sich und seine Band gerichtet hat, gewinnt man jeden Indizienprozess.

Doch auch die Musik von Get The Balance Right! öffnete für Depeche Mode neue Türen, wenn auch unverhofft. Für die damals obligatorische Maxi-Version tüftelte die Band an einem fast acht Minuten langen »Combination Mix« – typischerweise nicht mit Heißhunger und großer innovatorischer Kraft, sondern weil es halt sein musste, wie Gore sich später erinnerte. Sie hätten schon Spaß dabei gehabt, aber mit der Arbeit deshalb begonnen, »weil wir dachten, es machen zu müssen«. Als die Maxi-Single schon bald in angesagten Plattenläden in Detroit oder Chicago auftauchte, hatten die amerikanischen DJs keine Ahnung, was für eine Band das eigentlich war, die sich den Namen Depeche Mode gegeben hatte. »Keiner wusste, wer diese Typen waren. Es gab kein Image, keine Bilder«, erinnert sich Derrick May, einer der wichtigsten Initiatoren des Detroit Techno. May ist zudem Schöpfer der genialen Genre-Bestimmung, Techno sei nicht mehr als ein Unfall und klinge, als steckten Kraftwerk und George Clinton zu zweit im Aufzug fest. Gemessen an dieser Definition ist es nicht verwunderlich, dass die DJs in Detroit und auch Chicago auf Get The Balance Right! ansprangen. May: »Ich dachte einfach, das Stück sei wirklich, wirklich funky.«

Auch wenn diese siebte Single für die Band eine schwere Geburt war und Gore später einmal meinte, das Stück geradezu zu hassen, war es eine dieser Weichenstellungen, die ihn als Songwriter immer besser in die Spur brachten. Da war ein Text mit Aussage und mit diversen Deutungsebenen. Und da war eine Musik, die so spielerisch elektronische Statik und Groove zusammenbrachte, dass die Pioniere einer ganz neuen Musikrichtung darauf abfuhren. In vielen Diskussionen und Befragungen der Depeche-Mode-Fanclubs gehört Get The Balance Right! zu den Lieblingsstücken aus den Achtzigern, und der britische Musikjournalist Garry Mulholland hat den Song – obwohl alles andere als ein Fan der Band – in seinen Kanon der »500 Greatest Singles Since Punk And Disco« aufgenommen. Grund genug für Gore, heute mit Blick auf Get The Balance Right! die Aussage zu treffen: »Uns gäbe es vielleicht heute nicht mehr, hätten wir damals nicht diese Single veröffentlicht. Wer auch immer diesen Druck auf uns ausübte – er tat gut daran.«

Was Gore Anfang 1983 anstrebte, war die Arbeit an Songs, die sich auf musikalischer Ebene einer schnellen und einheitlichen Deutung entziehen. »Ich möchte variieren«, sagte er in einem Interview mit dem Magazin Record Collector, bei dem er deshalb so außergewöhnlich oft zu Wort kommt, weil die anderen drei sich für die meiste Zeit verzogen hatten, um ihren Songwriter dadurch zu Aussagen zu zwingen. »Es ist gut, wenn wir nicht mehr auf eine Sorte von Musik reduziert werden«, so Gore. »Unsere neuen Songs kommen eher auf den Punkt. Sie handeln von allgemeinen Dingen, mit denen jeder mehr anfangen kann als mit sehr persönlichen Texten.« Keine zwei Monate später ging er noch einen Schritt weiter, als er einem Smash-Hits-Journalisten erklärte: »Die neuen Songs behandeln die Probleme der Welt und solche Dinge. Das kommt dabei heraus, wenn man so viel The Clash hört.« Ein kleiner Scherz, denn der Einfluss von The Clash auf die Musik von Depeche Mode ist ohne Frage zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Beide Lager waren sich nicht grün; 1985 soll es auf einem Festival in Frankreich zwischen den beiden Roadcrews zu Handgreiflichkeiten gekommen sein.

Seine neuen Themen fand Gore nicht durch das Hören von Punkplatten, sondern während der vielen Reisen, auf die das Management Depeche Mode nach A Broken Frame schickte. Im Frühling 1983 begann der dritte Teil der Tour mit sechs Konzerten in den USA, dann ging es Anfang April nach Asien: Tokio, Hongkong, Bangkok. Es war der ganz normale Wahnsinn einer Asientour, von dem fast alle Bands berichten, die schon einmal dort waren. Von heute auf morgen waren Depeche Mode Superstars in den Metropolen eines Kontinents, den sie nie zuvor gesehen hatten – Belagerungen auf den Flughäfen und kreischende Teenies bei den Konzerten inklusive. Zwischen den Live- und Promo-Auftritten beschnupperten sie die asiatische Kultur und lungerten am malerischen Strand von Pattaya in Thailand herum. Gore war dafür bekannt, seine Koffer auf Tourneen mit Büchern vollzustopfen und sich als Leser in andere Welten zu flüchten – doch der Trip nach Asien, die Reisen durch Europa (vor allem Deutschland) sowie die dritte Stippvisite der Band in den USA machten auf ihn einen gewaltigen Eindruck.

Gore sah Länder und Leute. Noch drei Jahre zuvor kreiste die noch taufrische Band in einem engen Orbit um die britische Grafschaft Essex und um den Süden und Osten von London. Nun war dieser junge Mann aus Basildon plötzlich erstens Kosmopolit und zweitens Songwriter. Verständlich, dass Gore Anfang 1983, als die ersten Songs für das dritte Album von Depeche Mode entstanden, kein Interesse mehr dafür aufbringen konnte, Lieder über spätpubertierende Gefühlswallungen oder das mehr oder weniger unergründliche Geheimnis der Liebe zu schreiben. »Man wird älter, und gleichzeitig beobachtet man mehr«, begründete er dem New Musical Express seinen neuen Ansatz als Textschreiber und fragte sich selbst: »Sieht man tatsächlich mehr, oder sieht man es mit anderen Augen? Ich persönlich neige dazu, mich desillusionieren zu lassen. Es gibt viele Dinge, die mir gut erschienen – und die ich heute nicht mehr als gut bewerte. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur eine pessimistische Person.«

In der April/Mai-Ausgabe des Depeche Mode Information Service kündigte Gores Freundin Anne Swindell erstmals das dritte Album der Band an: Aufnahmen von Mai bis Juli, Titel Construction Time Again, geplante Veröffentlichung im August. Der Titel nahm Bezug auf die Dauerbaustelle Depeche Mode: Nachdem der Weggang von Vince Clarke den Rahmen zerbrach, integrierte die Band nun Wilder. Für Gore waren diese sensiblen sozialen Interaktionen echte Arbeit. Daher: Construction Time Again. Und wenn man schon den Bauzaun aufzog, dann sollte auch richtig was passieren: Die Band entschied sich – aktiv beraten von Daniel Miller – für ein neues Studio und zog in The Garden, das Studio des elitären Elektro-Pop-Musikers John Foxx, der schon sehr früh visionäre elektronische Klänge mit Avantgarde und so genannter Neuer Musik kombinierte. Sein erstes Soloalbum nach drei LPs als erster Sänger von Ultravox, Metamatic, gehört zu den besten Alben des Genres; mit dem zweiten Album The Garden hatte er 1981 einen Meilenstein gesetzt in Sachen Klang und Intellektualität von Popmusik.

Foxx, 14 Jahre älter als Gore, war eine der wenigen britischen Autoritäten des Elektro-Pop – kein Synthie-Teen, sondern ein gestandener Künstler mit Vision. Für den Songwriter von Depeche Mode war Foxx’ Ruf ein wichtiges Argument, sein Studio zu buchen. Das zweite war die Lage des Studios: Gore, der viele Jahre lang seinem Heimatstädtchen die Treue hielt und Basildon nur für den Job in Richtung London verließ, begann zunehmend, sich für außergewöhnliche Orte zu interessieren. Da spielte es auch eine Rolle, dass The Garden in Shoreditch lag, einem Stadtteil im Londoner East End mit kurvenreicher Geschichte. Während das Viertel rund um die Brick Lane seit Mitte der Neunzigerjahre pulsiert und Scharen junger Künstler anzieht, lag Shoreditch Anfang der Achtziger brach. Die Fabriken standen leer, Londoner wie Touristen machten einen weiten Bogen um das ehemalige Industrieviertel. Für Gore muss es ein bemerkenswertes, ambivalentes Szenario gewesen sein: einerseits ein vom Kapital verlassener Ort, andererseits ein romantisches Sinnbild für eine riesige urbane Baustelle – Construction Time Again.

Auch das Innenleben von The Garden strahlte etwas Besonderes und Exklusives aus. Gore hatte in seinem Leben noch nicht viele Studios von innen gesehen, und The Garden bot ihm und der Band in technischer Hinsicht völlig neue Möglichkeiten, seine Lieder aufzunehmen. Es passte kongenial zusammen: Gore schaute mit seinen Songs über den Tellerrand hinaus – und das Studio bot ihm eine neue Plattform. Auch Wilder fühlte sich in The Garden wohl und brachte sich ein – zum einen als neuer Hauptverantwortlicher für die Technik, denn Wilder war Feuer und Flamme, als er die neuen digitalen Möglichkeiten im Studio kennenlernte, zum anderen als Songwriter: Nachdem Gore nicht mehr mit ihm zusammen komponieren wollte, hatte Wilder alleine Stücke geschrieben, und Depeche Mode entschlossen sich, zwei von ihnen mit auf das Album zu nehmen.

 

Im Jahr zuvor wäre ein neues Mitglied, das sich so stark einbringt, für Gore noch ein echtes Problem gewesen. Nun sah er die Sache entspannter. »Ich empfand es als hilfreich, dass Alan mit dabei war. Es war, als wäre ein Lehrer anwesend, der unsere Arbeit kontrolliert, bevor sie öffentlich wird«, so Gore. Seine Haltung zu Wilders Songwriting-Ambitionen war – typisch Gore – nüchtern und pragmatisch: »Ich denke, er hatte sich zuvor ein paar meiner Demos angehört und verstanden, worum es mir ging; dann kam er mit seinen beiden Songs. Und es half mir: zwei Songs weniger, die ich für das Album schreiben musste.« Das neue Bandgefüge ergänzte schließlich noch ein weiterer Neuling im Kreativzentrum von Depeche Mode. Auf Einladung von Studiobesitzer John Foxx tauchte Gareth Jones auf, ein Tontechniker und Klangvisionär mit deutlichem Hang zu avantgardistischen Klängen. Depeche Mode waren ihm damals eigentlich viel zu poppig. Er hatte Lust auf Innovation, auf bislang Ungehörtes – und da schien ihm die Synthieband mit den paar Hitsingles nicht der richtige Partner zu sein. Doch er ließ sich schließlich doch überreden und begann so, Depeche Mode mit seiner schnellen, hyperaktiven Arbeitsweise nach vorne zu treiben.

Trotz aller Ideen und Visionen: Man darf sich Gore im Jahr 1983 nicht als permanent nachdenklichen, grüblerischen, vollends gereiften und durchweg professionellen Musiker vorstellen. Er und seine Bandkollegen waren immer noch Anfang 20. Britische Jungs mit Flausen im Kopf. Und was Gore betrifft: Bei aller Schüchternheit in Anwesenheit fremder Leute, bei all der anspruchsvollen Literatur in seinem Reisekoffer und bei aller Melancholie in seinem Herzen war er alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Schon gar nicht, wenn er ein paar Bier getrunken hatte – was vorkam, denn das Eastend von London war damals für seine rustikalen Pubs bekannt. War Gore nicht mehr nüchtern, wandelte sich sein Charakter. Dann bekam er vor allem Spaß daran, seinen ältesten und engsten Freund zu ärgern. Fletcher war ein gutes Opfer für Gores bizarre Späße.

Die Szenerie im teuren Tonstudio mit seinen nagelneuen Geräten sah wie folgt aus: Während Miller, Jones und Wilder an neuen elektronischen Klängen tüfteln, um die Popwelt mit einem visionären Depeche-Mode-Album aus den Angeln zu heben, versteckte der verantwortliche Songwriter Gore die Brille seines kurzsichtigen Bandpartners Fletcher, der daraufhin in eine Art kindische Panik geriet, in einem fort »Mart! Mart! Wo ist meine Brille?« schrie und halbblind unter dem Gelächter des Übeltäters durch die Landschaft aus Kabeln und teuren Geräten tappste. Construction Time Again? Wohl wahr. Gore machte nie einen Hehl aus diesen Späßen. So verriet er 1983 dem belgischen Teenie-Magazin Joepie: »Ich lasse gerne meinen Launen freien Lauf, und Andy ist immer das Opfer.« Aber eines stehe fest: »Er ist ohne Zweifel mein bester Freund und immer noch mein regelmäßiger Ausgehpartner.«

Doch es gab selbstverständlich auch andere Stunden; Momente, in denen die ganze Band tatsächlich von der Idee gepackt war, ein Album aufzunehmen, das es so noch nicht gab. Auf Initiative von Jones, dessen Einfluss auf die neuen Klänge man nicht unterschätzen darf, zogen alle vier regelmäßig durch Shoreditch, um Klänge zu finden: Sounds, die sie später im Studio mit Hilfe eines Samplers modulieren und in die Songs einfügen wollten. Auf dem Album gibt es unzählige Geräusche zu hören, die Depeche Mode aus dem Alltagskrach des Londoner Eastends entnommen hatten – und weil im Osten der Metropole weniger Vögel zu hören sind als laute Maschinen oder Züge, klingen die meisten dieser Sounds sehr industriell. Paradebeispiel für die neue Arbeitsmethode, die Gore faszinierte, ist das Stück Pipeline. Es besteht fast komplett aus Klängen, die sie mit einem analogen Rekorder aufnahmen und bearbeiteten. Gore sang es, um nicht inkonsequent zu werden, schließlich außerhalb des Studios auf einer verwaisten Baustelle ein.

»Get out the crane/ Construction time again« – Pipeline wurde letztlich zum Herz- und quasi Titelstück der Platte. Die Melodie erinnert an einen uralten Folksong, den Gore zwar nicht ohne Melancholie, aber doch mit einer bemerkenswerten Portion Standfestigkeit über die Lippen brachte. »Taking from the greedy/ Giving to the needy«, lautet der Refrain, und es ist nicht verwunderlich, dass einige Journalisten den Song, wenn nicht das ganze Album mit seinen Liedern über Gier, Umweltverschmutzung und verlogene Dekadenz als sozialistisches Manifest interpretierten. Schon erstaunlich: Erst dachte die britische Presse nicht daran, diese vor allem bei Teenagern beliebte Synthie-Band ernstzunehmen. Dann schrieb Gore (wie auch Wilder in seinen Stücken) ein paar sozialkritische Texte über recht offensichtliche Probleme – und Depeche Mode wurden zum Aushängeschild einer Bewegung, die sich entschieden gegen die Machenschaften der Premierministerin Margaret Thatcher richtete. Nur Gore überraschte es nicht. Er hatte ja schon zuvor beschlossen, sich von den willkürlich ändernden Urteilen der englischen Journalisten nicht mehr überraschen zu lassen. Eine gesunde Einstellung, die ihm im Laufe der Jahre noch oft helfen sollte.

Höhepunkt der Welle, Depeche Mode als eine Art musikalischen Arm der Labour Party zu bezeichnen, war eine Titelgeschichte des damals sehr politischen Wochenblatts NME, geschrieben von einem Mann namens Chris Dean, der Chef der linken Polit-Punk’n’Soul-Gruppe The Redskins war und zeitgleich unter dem Pseudonym X. Moore größere und politisch motivierte Geschichten für den NME verfassen durfte. »Red Rockers Over The Emerald Isle«, nannte er seine Story im September 1983. Bemerkenswert: Auf dem Titel des Magazins sieht man Gore als Einzigen in voller Größe, der Rest der Band drückt sich hinter ihm an eine Wand. In seinem Text stellt X. Moore Gore als den Klügsten der Truppe vor und gibt einen interessanten Einblick in dessen Lesekoffer: »Er kennt seinen George Orwell, und wenn er von präpubertären Fotografen angequatscht wird, überbrückt er die Zeit mit der Lektüre von Brechts Fünf Lehrstücke.« Leider gelang es X. Moore nicht, bei aller Begeisterung für den Songwriter diesen zur Analyse seiner Songs oder zumindest zu einer gehaltvollen Aussage zu motivieren.

Wobei, ist das nötig? Wenn Songs von Gore einmal wirklich genug preisgegeben haben, dann die auf Construction Time Again. Es wird den Autor ehren, aber nicht sonderlich erfreuen, dass die meisten Zeilen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Das beste Beispiel ist Everything Counts, die erste Single-Auskopplung, bei der Gore den Refrain sang – vielleicht einen der besten Refrains der Popgeschichte: »The grabbing hands/ Grab all they can/ All for themselves/ After all.« Ob Gore auch im Laufe des Interviews mit X. Moore, bei dem sich Wilder und Gahan als besonders redefreudig erwiesen, Orwell oder Brecht las, ist leider nicht überliefert. Geredet hat er in diesem Gespräch kaum; an anderer Stelle gab er immerhin in gewissem Maße die Motivation für seine Texte preis – auch wenn diese in ihrer Banalität die sozialistische Presse kaum zufriedengestellt haben wird. Gore: »Ich schrieb diese Art von Lyrics, weil ich über diese Dinge nachgedacht hatte.« Und warum dann nicht schon vorher? »Weil ich damals eben noch nicht über solche Dinge nachgedacht hatte.« Ein politisches Engagement kam für Gore aber weder zu dieser Zeit noch später in Betracht. Politiker zu sein, sei ein dubioser Beruf, sagte er 1985 dem Magazin No.1: »Zu viel Macht, zu wenig Prinzipien.«

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