Insight - Martin Gore und Depeche Mode

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Punk bringt Farbe ins graue England der Siebziger – und Martin Gore profitiert davon.

Die Engländer sind kein optimistisches Volk. Manchmal ist die Klappe groß und der Humor böse. Aber im Grunde sind sich die Menschen zwischen Newcastle und Dover ziemlich sicher, dass ihr Land nicht wirklich zu den gesegneten Flecken auf der Erde gehört. Warum sonst dieses Wetter? Engländer finden immer einen Grund, sich über Gott und die Welt zu beklagen. So wie sie auch immer einen Weg finden, irgendwo mit irgendwem einen zu trinken. Doch Mitte der Siebzigerjahre ist die Stimmung in England besonders düster. Die Wirtschaft steckt in der Rezession. Es regiert die Labour Party, und weil die Sozialdemokraten auch kein anderes Mittel wissen, wollen sie die Löhne senken. Die Arbeitslosigkeit erreicht Zahlen wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der britische Popjournalist und Punk-Chronist Jon Savage schreibt am 2. Dezember 1975 in sein Tagebuch: »Eine Vorstadt von London: Sterilität – Zynismus – Langeweile, die in Gewalt umschlägt; beginnende rechtsextreme Gegenreaktion. Fuck London für seine Dumpfheit, die englische Bevölkerung für ihre Verzagtheit und das Wetter für seine Kälte und Dunkelheit.«

Bonjour Tristesse. Cool Britannia kommt erst Jahre später. Bernard Sumner von New Order sagt, er habe als Kind der Stadt Manchester seinen ersten Baum erst mit neun Jahren gesehen. Klar, im industriellen Norden ist das Grau doppelt grau. Aber England ist Mitte der Siebziger kein Land, in dem Teenager vor Lebenslust zur Gitarre greifen. Das Motiv ist eher Frust – sowie das dringende Bedürfnis, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen. Pophistorisch betrachtet sind die fast apokalyptischen Mittsiebziger die zweitwichtigste Zeit für das Land. Da waren die Sechziger mit den Beatles, den Stones, der British Invasion. Doch diese Musik spielt 1975 und später kaum noch eine Rolle. Die alten Beat-Musiker, die nicht souverän ihr Erbe verwalten, weil sie keines haben, spielen mit dicken Bäuchen und schütterem Haar auf kleinen Kneipenbühnen. Pubrock heißt die Musikrichtung: gemütliches Standardgedudel. Kein Funke Innovation, keine Lust auf Rebellion.

Und die britische Jugend? Geht trotzdem in die Pubs, weil es keinen anderen Ort gibt, an dem man sich in England betrinken kann. In Basildon schon mal gar nicht. Martin Gore zieht es, sobald er Zutritt erlangt, in die typischen Trinkhallen der Satellitenstadt. Er hört die gemütlichen Pubrocker, die schamlos das Repertoire der Standards aus den Sechzigern plündern, und die Lieder aus der obligatorischen Jukebox. Was er da hört, gefällt ihm. Sein Faible für traditionelle Rockmusik verbietet ihm, geschmäcklerisch gegen den Pub-Mainstream zu wettern. Seine erste Band Norman & The Worms ist im Grunde nichts anderes als Pubrock nach einer moderaten Frischzellenkur. Es hilft nichts: Um auch in Basildon ein wenig von der Stimmung des Londoners Jon Savage zu verstehen, der der ganzen Nation ein lautes »Fuck!« zubrüllt, müssen wir Gore für einen Moment verlassen.

Erste Station: Chelsea, London. Dort wirkt der Designer und Kommunikationsprofi Malcolm McLaren und findet, die englische Jugend habe bessere Bands verdient als die Progrock-Dinosaurier und Pubrock-Parasiten. Darum konzipiert er die Sex Pistols. Sein Motiv nennt er 1977 dem Musikmagazin Sounds: »Ich will die Teenager in Aufregung versetzen, ihnen eine Band mit ein bisschen Inhalt und Wert geben. Ich will ihrem Leben ein Abenteuer schenken und ihnen das Selbstbewusstsein geben zu sagen, was sie denken. Das ist der einzige Grund für Rock’n’Roll.« Über die Begriffe Inhalt und Wert lässt sich sicher streiten, aber Aufregung, Abenteuer und Selbstbewusstsein treffen ins Schwarze: Als die Stimmung in England auf dem Tiefpunkt ist, entsteht mit dem Punkrock eine musikalische Bewegung, deren Wucht die Popkultur des Landes für Jahre prägt. Die Sex Pistols gönnen sich den Spaß, die gesamte englische Tradition mit Füßen zu treten. Anarchisten, Antichristen, Anti-Monarchisten, Anti-Kapitalisten – von allen englischen Heiligtümern lassen sie nur den Sport in Ruhe: Hasslieder der Sex Pistols auf Fußball, Cricket oder Wimbledon gibt es nicht.

In Basildon bekommen besonders Neugierige natürlich mit, was da von Chelsea ausgehend in England passiert. Die paar TV-Auftritte der Sex Pistols sind legendär, die ersten Punkrock-Bands spielen ab 1976 auch in den Clubs von Basildon und Umgebung. The Sex Pistols, The Damned, The Stranglers, The Clash, The Adverts, The Vibrators – jede Woche ein neuer Name, jede Woche neue Aufregung und ein neues Abenteuer. Das Geschehen auf der Bühne ist das Gegenprogramm zur politischen Entwicklung: Die Regierung der Labour Party unter Premierminister James Callaghan steht auf wackligen Beinen, und in seinem Schatten entwickelt sich Margaret Thatcher zur Hoffnung der Konservativen. Ihren Spitznamen »Iron Lady« trägt sie schon seit 1976, und wer ein bisschen Sinn für politischen Realismus besitzt, weiß Mitte und Ende der Siebzigerjahre bereits, was England bald blühen wird. Doch die Lage ist auch ohne eine Eiserne Lady an der Spitze mies – und für die Jugend besonders perspektivlos. Der Staat ist überschuldet, und unter den Sparmaßnahmen leiden vor allem die jungen Engländer, die nach dem Schulabschluss plötzlich alleine dastehen und nicht wissen, was sie tun sollen.

Im Zweifel bleibt dann eben der Griff zum Musikinstrument. Die Punkrocker machen es vor – Können ist nicht notwendig, mehr noch: nicht erwünscht. Nachdem der Progrock die Botschaft in sich trug, Musiker müssten wirklich Musiker sein, heißt die Devise des Punk: Musik ist, wenn die Band das sagt und laut genug ist. So kommt es in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre zu einer Reihe von Bandgründungen – auch in Basildon. Vince Clarke (der sich zu dieser Zeit noch Vince Martin nennt) ist einer dieser Teenager ohne Perspektive. Wer weiß, ob Martin Gore überhaupt ein erfolgreicher Songwriter geworden wäre, hätte dieser Clarke nach der Schule Karriere machen können. Doch da ging außer ein paar Aushilfsjobs nichts, und so hegt er, angestiftet vom Punkrock und ohne wirklich gute Kenntnisse eines Instruments, den Wunsch, Musiker zu werden. Als wäre es ein Recht der Jugend, sich auf diesem Weg Gehör zu verschaffen.

Statt sich – wie vor der Punk-Explosion üblich – an den Standards der Beatles oder von T-Rex zu versuchen und dann beim Üben die Unschuld zu verlieren, gründet Clarke zusammen mit Andy Fletcher die Band No Romance In China, die sich ganz offen an einem anderen aufregenden neuen Act orientiert: an The Cure, deren Album Three Imaginary Boys 1979 für Aufsehen sorgt. Von Beginn an entwickeln Clarke und Fletcher ein Faible für Bands, die nicht bestmöglich spielen, sondern einen Code besitzen. Später, bei Depeche Mode, lautet er »synths only« – und auch wenn Punkrock für Gitarren und Rotz steht statt für Keyboards und gebügelte Hemden: Die Attitüde der Band, in der Gore zum Songwriter wird, ist stark vom Punkrock und dem Zeitgeist der mittleren und späten Siebzigerjahre beeinflusst. Depeche Mode – ein reines Kind der Achtziger? Wohl kaum.

Dass kein Missverständnis aufkommt: Depeche Mode sind zu keiner Zeit eine Punkrock-Band. Dafür steht eine schöne Anekdote, die Robert Marlow – Szenegröße aus Basildon und in den Bands The Plan und French Look aktiv – in Jonathan Millers Depeche-Mode-Biografie Stripped erzählt: »Andy und ich waren eines Abends auf dem Weg nach London, um The Damned zu sehen. Fletch trug eine Eisenbahnjacke mit British-Rail-Buttons. Wir stiegen in den Zug und trafen ein paar Mädchen, die ebenfalls aus Basildon kamen. Und was sagt Fletcher? ›Oh, Rob, fandest du es gestern Abend nicht auch schön in der Kirche?‹ Da saß ich also, war auf dem Weg zu einem Punkrock-Gig, rauchte meine Zigarette, versuchte vor den Mädels cool auszusehen – und er reitet auf unserem Abend in der Kirche herum.« Schade, dass Gore damals nicht dabei war. Er hätte sicher schallend über seinen Fletch gelacht.


Was ein Huhn auf Gores Arm zu suchen hatte, wie wichtig ihm seine ersten Texte waren und warum eingeschneite Farmer ihre Hoffnungen auf seine Gesichtszüge setzen sollten.

Leider gibt es keine Dokumentation des Geschehens hinter den Kulissen der deutschen Musik- und Nonsense-Sendung Bananas vom 27. April 1982. Man hätte gern gesehen, wie der Sendeleiter den jungen Gästen aus England erklärte, was man für die Show mit ihnen vorhabe. Ein Hühnerstall sollte es sein, ausgestattet mit einem halben Dutzend Hühnern sowie einem sich im Heu wälzenden Teenie-Pärchen. Die Tiere sollten aber nicht unbeteiligt auf dem Boden vor sich hin picken, sondern von den jungen Engländern auf dem Arm gehalten werden. Und zwar möglichst innig, Depeche Mode hatten schließlich ein Liebeslied mitgebracht. Also stand Martin Gore am 27. April 1982 in einem Fernsehstudio des Westdeutschen Rundfunks in Köln trug einen Smoking mit dunkelblauer Fliege, hielt eine Henne auf dem Arm und wiegte sich scheu wie ein Debütant beim Abendball im Rhythmus von See You. Die Scham und das Unbehagen, das er und seine Bandkollegen in diesen knapp drei Minuten fühlten, sind bis heute sichtbar.

Knapp fünf Monate vor diesem Fernsehauftritt im Hühnerstall hatte Vince Clarke seinen letzten Auftritt mit Depeche Mode hinter sich gebracht. Die Trennung ging überraschend emotionslos vonstatten, wenn man bedenkt, dass Clarke eine Band verließ, die vor allem durch sein Engagement und seine Songs nach vorne gekommen war. Eine klare Begründung für den Ausstieg zu einem »sehr fragwürdigen Zeitpunkt«, wie Gore später sagte, gibt es bis heute nicht. Während Clarke argumentiert, ihm sei der Rummel um die Band zu groß geworden, hat Gore einen anderen Verdacht und spricht von einem Auseinanderdriften der Band in zwei Lager – Clarke und die anderen. Gore ist eine Probe aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben: »Eines Tages kam Vince mit zwei neuen Songs an. Er spielte sie uns vor, und als er danach auf die Toilette ging, schauten wir uns an und sagten: ›Wir können diese Songs nicht singen, sie sind furchtbar.‹ Als er zurückkam, sagten wir ihm: ›Vince, wir mögen diese Songs nicht.‹ Er sagte ›Okay‹, aber es muss eine große Sache für ihn gewesen sein: Da kommst du mit zwei neuen Songs zur Probe – und deine Band findet sie furchtbar.«

 

Heute bezeichnet Gore den Ausstieg von Clarke als »Geschenk des Himmels«: »Wäre Vince geblieben, hätte ich nicht die Songs schreiben können, die ich danach geschrieben habe. Ich hätte weiter versucht, meine Songs an die von Vince anzupassen, und wäre irgendwo im Schleier der Geschichte verloren gegangen.« 1984 erklärt Gore in einem Fernsehinterview, der Ausstieg von Clarke habe sich sechs Monate lang abgezeichnet; von einer Überraschung könne also keine Rede sein. Clarke hatte vor, Depeche Mode noch einen Song zu überlassen, Only You, eine Synthie-Ballade, die später für Clarkes neues Projekt Yazoo ein Hit wurde. Die Übriggebliebenen wollten das Lied nicht, die Zeichen standen auf Neuanfang. Dass dabei Gore die Verantwortung des Songwriters innehaben würde, stand nie in Frage. »Ich war die erste und einzige Wahl, weil Dave keine Songs schrieb«, urteilte er Jahre später. Er selbst schrieb seit seinem 14. Lebensjahr Lieder. Einige davon hatte er mit seiner früheren Band Norman & The Worms gespielt, andere hatte er zurückgehalten. Dass hinter Gore mehr steckte als die Rolle des stillen Blonden mit einem Faible für hübsche Melodien, ahnte Clarke bereits zu einer Zeit, als er selbst noch bei Depeche Mode war. Clarke über Gore in einem Fragebogen für ein britisches Teenie-Magazin: »Er ist ein Genie und weiß es nicht.«

Dieses Genie war nun gefordert. Vorbei die Zeit, als sich Gore und Andy Fletcher gegenseitig in ihrer Einschätzung bestätigen durften, besonders faule Zeitgenossen zu sein. Von nun an galt es, der Öffentlichkeit, dem Label und auch sich selber zu beweisen, dass es auch ohne Clarke ging. Also packten sie es an. Erster Schritt: eine neue Single, geschrieben von Gore, eingespielt ohne Clarke, der bei den Studioaufnahmen zuvor zusammen mit Mute-Chef Daniel Miller die Strippen gezogen hatte. Für jede Band ist die erste Single nach einem erfolgreichen Album-Debüt eine Herausforderung, doch für Depeche Mode war sie nach Clarkes Ausstieg besonders hoch. Die Wahl fiel auf See You, einen Song, den Gore Jahre zuvor auf der Akustikgitarre geschrieben hatte und der damit einen entscheidenden Vorteil barg: Der neue Songwriter kam so gar nicht erst in Versuchung, mit seinem Single-Debüt die Erfolgsformel der ersten Chart-Hits von Depeche Mode zu kopieren. Denn eine Entscheidung stand: Es würde nichts bringen, Songs zu schreiben, die möglichst nah an Clarkes Vorlagen heranreichten.

Das galt nicht nur für die Musik, sondern auch für die Texte. »Vince interessierte sich vor allem dafür, ob die Wörter fließen und sich reimen, nicht so sehr für ihre Bedeutung. Mir ist auch wichtig, was ich sage. Wenn ich ein gutes Stück habe, aber den Text nicht mag, schmeiße ich den Song lieber weg«, sagte Gore in einem ausführlichen Feature des New-Wave-Magazins New Sounds, New Styles im Frühjahr 1982. Der Journalist Mike Stand bat Gore um ein Beispiel – und der zitierte seine Lieblingsstelle im C-Teil des Songs: »Well I know five years is a long time/ And that times change/ But I think that you’ll find/People are basically the same.« Als Mike Stand, wenig beeindruckt, fragte, warum er diese Zeilen für so stark halte, antwortete Gore überraschend selbstbewusst: »Sie sind gut. Ernst, aber lustig. Ich mag sie, weil diese Wörter nicht oft in Liedern vorkommen. Es sind eher Dinge, die Leute halt so sagen.« Genauere Auskünfte über die Geschichte hinter dem Song verweigerte er jedoch: Das sei erstens privat und zweitens schon drei Jahre her und damit überholt. Dennoch schien der Journalist von Gore beeindruckt zu sein, denn er fand ein schönes Bild, um ihn für die Leser zu beschreiben: »Er hat ein Gesicht, so mild, dass eingeschneite Farmer ihn einstellen könnten, damit er für sie den Schnee schmelzen lässt und ihre Herden rettet.«

Mit der Veröffentlichung von See You begann für Depeche Mode eine Stressphase. Die Single musste beworben werden, wobei das Verlangen von Presse und Fernsehen, etwas Neues über Depeche Mode zu erfahren, enorm gestiegen war. Journalisten stellten Fragen, von denen Gore nie gedacht hätte, dass sie jemanden interessierten. Wie es sich in Basildon lebe, zum Beispiel. Oder wie ihm sein alter Job als Bankangestellter gefallen habe. »Im letzten Sommer konnten wir Dinge noch von Woche zu Woche planen. Es ist schrecklich, wenn ich heute auf unseren Terminkalender schaue und entdecke, dass die kommenden sechs Monate bereits verplant sind«, sagte Gore in New Sounds, New Styles. Anfang 1982 schien ihm endgültig zu dämmern, dass er nicht nur seinen alten Job gekündigt, sondern auch einen neuen angetreten hatte. Er war nun Popstar. Fulltime.

Gore veränderte sich in diesen Wochen. Das Bild des Melodiespezialisten, der mal eben zwischen Abendessen und diversen Bieren ein paar Synthie-Noten gespielt hatte, war nicht mehr stimmig. Je tiefer er mit Depeche Mode in die Welt des Pop eintauchte, desto mehr wandelte sich seine Persönlichkeit. »Es war wie ein Vorher-nachher-Bild«, bilanzierte er 1985 im Magazin No. 1. »Vorher war ich ruhig, introvertiert und gewissenhaft. Ich war ein langhaariger Hippie wie jeder andere. Doch dann erfuhr ich, dass ich etwas machen kann, das anderen Leuten gefällt.« Besonders im Vergleich zu Dave Gahan, der sich sehr schnell in seiner Rolle als begehrter Popstar wohlfühlte, geschah die Entwicklung bei Gore langsam, beinahe behutsam. Für ein belgisches Blatt fand Gore folgende Erklärung: »Ich denke, das hatte mit meinem Job als Bankangestellter zu tun. Ich war damals sehr jung, und meine Kollegen behandelten mich sehr stiefmütterlich.« Anstatt sich an bestehende Gruppen anzuhängen oder sich zur Schau zu stellen, machte der junge Gore anfangs lieber überhaupt nichts. Nun war er jedoch gefragt, denn alle wollten seine Songs: die Band, die Medien und die immer zahlreicheren Fans.

Bevor sich die neuen Depeche Mode ohne Clarke auf der Bühne präsentieren konnten, musste allerdings jemand her, der ihn auf der Bühne ersetzte. Schließlich waren fast alle Depeche-Mode-Songs für drei Synthie-Spieler arrangiert. Die Band gab eine prominent platzierte Anzeige in einer britischen Musikzeitung auf und fand nach einem Casting-Abend Alan Wilder, einen musikalisch talentierten jungen Mann aus London, für den es ein Leichtes war, die Keyboard-Parts von Clarke zu übernehmen. Er tat es zunächst aber nicht als gleichberechtigtes Bandmitglied, sondern als eine Art fester Gastmusiker – eine Rolle, die ihn erst nervte und schließlich enttäuschte. Jedoch wollten vor allem Gore und Gahan ein eindeutiges Zeichen setzen: »Dave, Martin und Andy machen zu dritt weiter«, hieß es in einem offiziellen Band-Statement im Januar 1982. Ersetzt werde Clarke nur bei Live-Auftritten.

Das Motiv hinter dieser Haltung: Ein neues festes Bandmitglied so kurz nach dem Ausstieg von Clarke hätte die Presse mutmaßen lassen, man habe sich aus purer Not unmittelbar ein neues musikalisches Mastermind in die Band geholt. Diesen Eindruck wollte Gore verhindern. Er akzeptierte seine neue Rolle nicht nur – er verteidigte sie auch. Interessanterweise vollzog sich der Wandel im Depeche-Mode-Camp auch an einer anderen Stelle. Solange Clarke noch an Bord war, war dessen damalige Freundin Deb Danahay Repräsentantin und Organisatorin des noch sehr jungen Fanclubs, während Gores Freundin Anne Swindell am Merchandise-Stand T-Shirts, Poster und mehr verkaufte. Als Danahay nach dem Ausstieg ihres Freundes auch den Fanclub sausen ließ, sprang Swindell ein, die gerade erst die Schule beendet hatte. Zusammen mit Gahans Partnerin Joanne Fox übernahm sie das Zepter und schrieb ab 1982 regelmäßig vom Haus ihrer Eltern aus das bandinterne Bulletin Depeche Mode Info Service.

Sogar einen Auftritt vor der Kamera hatte Anne Swindell. Im Video zu See You spielt sie das mysteriöse Mädchen, nach dem Gahan Ausschau hält. Er trifft sie schließlich an der Kasse eines Kaufhauses, im dem Gahan eine See You-Single erwerben möchte. Begleitet wird das Rendezvous von Gore und Fletcher, die als Kassierer hinter Registrierkassen stehen und diese als Keyboards benutzen. Gedreht wurde das aus heutiger Sicht absurde Filmchen vom renommierten Regisseur Julien Temple, spätestens seit der Sex-Pistols-Dokumentation The Great Rock And Roll Swindle ein großer Name im Geschäft. Dennoch war Gore mit dem Video – sowie zwei weiteren Versuchen in der Folge – nicht langfristig zufrieden: Die Promoclips erschienen ihm schon drei Jahre später als albern. Die Band habe die Videos ironisch gemeint – »aber das kam in den Filmen nie rüber«. Auf der später erschienenen ersten Clip-Sammlung Some Great Videos war für See You dann auch kein Platz.

Es wird nicht ausschließlich an der offensichtlichen Werbebotschaft des Videos gelegen haben, dass See You, veröffentlicht am 29. Januar 1982, im Laufe von fünf Wochen bis auf Platz sechs der britischen Charts kletterte. Kein Clarke-Song hatte sich zuvor so weit oben platziert – ein Erfolg, der das noch frische Selbstbewusstsein Gores weiter stärkte. Wenn es ihm schon gelang, mit einem Stück aus den späten Siebzigerjahren einen Hit zu landen, was würde dann erst passieren, wenn er neue Songs schriebe? Depeche Mode erlebten einen erstaunlichen Stimmungswandel. In Erinnerung an das Frühjahr 1982 sagte Gore Jahre danach: »Wir sind generell pessimistische Typen. Aber einen kurzen Moment lang fühlten wir uns unverwundbar.« Gore sollte sich später als ein Songwriter erweisen, der zu jeder Zeit eine funktionierende Antenne für das zu haben scheint, was sich die Depeche-Mode-Fans von ihm erhoffen. Doch im Hochgefühl des Erfolgs von See You und einer anschließenden kleinen Tour durch ausverkaufte Clubs machten Gore und Depeche Mode einen Fehler: Sie veröffentlichen die Single The Meaning Of Love.

»Wir dachten wirklich, der Song würde groß einschlagen«, erinnerte sich Gore später. Heute weiß auch er, dass das Stück – geschrieben Anfang 1982 – längst nicht das Potenzial dafür hatte. Das britische Magazin Sounds urteilte in einem Verriss, die Melodielinie der neuen Single sei identisch mit der des Hits zuvor. Auch wenn diese Beobachtung kaum zutrifft: The Meaning Of Love war eine Enttäuschung für alle, die sich von Depeche Mode eine Weiterentwicklung erhofft hatten – und die britischen Charts waren dafür ein guter Seismograph, denn das Stück verpasste eine Top-Ten-Platzierung. »Es war unser erster Kontakt mit der Möglichkeit, auch scheitern zu können«, sagte Gore im Rückblick. Seine Abenteuerlust äußerte sich auch in der Maxi-Version des Tracks: Für den »Fairly Odd Mix« zerstückelten Depeche Mode den Song und drängten verstörende Parts in die Harmonik. Mit viel gutem Willen kann man diesen Ansatz heute als Prä-Techno bezeichnen, doch damals verstörte diese Studiospielerei zwei Lager, die sonst recht unterschiedliche Erwartungen an die Band hatten: Fans und Kritiker.

Während sich die Journalisten seit ihren Anfangstagen von Depeche Mode erhofften, sie würden sich zu einer gewichtigen und innovativen elektronischen Stimme des Postpunk entwickeln, waren die Fans der Band vor allem eines: sehr jung. Auf Depeche Mode standen mit Vorliebe Teenager, die begeistert die bunte und moderne Popwelt der frühen Achtzigerjahre konsumierten. In England lasen sie Smash Hits und schauten Top Of The Pops, in Deutschland blätterten sie durch die Bravo und schauten Bananas. Diese jungen Fans waren unverzichtbar, denn sie waren es, die die Singles kauften. Malcolm McLaren hatte im Zenit des Erfolgs der von ihm konzipierten Sex Pistols bereits 1977 in einem Interview deutlich gemacht, dass es die Kids sind, die die Kohle bringen – und nicht die geizigen, geschmäcklerischen Studenten. »Wir waren so jung und dumm, dass wir mit allem einverstanden waren, was uns angeboten wurde«, so Gore. »Es gab oft Streit, aber letztlich war das stärkste Argument: ›Hey, das werden so und so viele Millionen Leute sehen!‹ Und dann hieß es immer: ›Okay, lasst es uns tun.‹«

So lässt sich eben auch der obskure Auftritt im Hühnerstall für Bananas erklären – bei weitem nicht der einzige Moment, den Gore heute wohl lieber aus dem virtuellen Gedächtnis streichen würde. Dazu gehört sicher auch ein Auftritt bei der 1982 sehr erfolgreichen WDR-Vorabendshow WWF Club, wo Depeche Mode zur Abendbrotzeit dem deutschen Publikum The Meaning Of Love vorstellten. Jedoch war die Bühne im Studio wohl eher für Solokünstler ausgelegt, sodass Andy Fletcher nicht auf der Bühne spielte, sondern davor – und eher den Eindruck eines verwirrten Zuschauers machte, der seinen Platz verloren hat. Schön auch der Satz, mit dem Moderator Jürgen von der Lippe zu dem Auftritt der Gäste aus England überleitete: »Jetzt ist meine Hose nass.« Legendär ist zudem eine Fotosession für Smash Hits, die Depeche Mode in ein Cricket-Zentrum nach London führte, wo der große Sportsmann Alf Gover auf die Band wartete. Einen Bezug zur Musik hatte diese Idee des Fotografen nicht; das Resultat waren eine Handvoll Bandaufnahmen im Cricket-Outfit, inklusive Schienbeinschoner.

 

Der Chef der französischen Abteilung des Mute-Labels urteilte später über diese Monate im ersten Halbjahr 1982, Gores Persönlichkeit sei damals noch nicht »ausgereift« gewesen. Fotos, die den Songwriter mit einem wenig schmückenden Bartflaum am Kinn zeigen, untermauern diese These. Doch in ihm arbeitete es in diesen Monaten. Während Gahan in Interviews eher beleidigt auf negative Presse reagierte, schätzte Gore die Sache realistisch ein: »Keine Schuldzuweisung an die Presse dafür, dass sie uns nicht den großen Respekt zollte. Es gab damals viele Teenager-Magazine wie Smash Hits und so weiter – und wir waren in allen.« Gores optimistischer Plan zu dieser Zeit: Depeche Mode in musikalischer Hinsicht neu ausrichten, ohne die lukrativen jungen Fans aufzugeben. In einem Interview für die Zeitschrift The Face sagte er: »Wir sind eine Popband mit einem Teenie-Publikum und somit in einer guten Position, um mit verschiedenen musikalischen Formen experimentieren zu können. Wir können unseren jungen Fans Musik bieten, die sie sonst nicht hören würden.«

Das Experimentieren mit einer Musik, die Gore selber als ernsthafter und weniger niedlich bezeichnete, fiel der Band damals noch schwer. »Wir wollten es anders machen, aber es hat nicht geklappt«, gestand er Mitte 1982. »Wir wollten eine fiese B-Seite aufnehmen, starteten mit einer Bassline und schnellen Drums, ein wenig wie DAF. Wir dachten wirklich, damit hätten wir einen garstigen Track – und am Ende haben wir doch noch Glocken draufgepackt.« Trotzdem arbeitete Gore im Vorfeld der Aufnahmen für das zweite Album intensiv daran, eine eigene Handschrift als Songwriter zu entwickeln. »Seitdem ich begonnen habe, ernsthaft Lieder zu schreiben, hat sich meine Art des Songwritings stark verändert«, sagte er dem Magazin Look In. Die gern gestellte Frage, was denn zuerst da sei, der Text oder die Musik, beantwortete er unbestimmt: »Manchmal die Worte, manchmal die Melodie, manchmal beides zusammen.« Ganz sicher sei er aber jemand, der nicht in Gesellschaft mit anderen kreativ sein könne: »Viele Ideen, die ich habe, sind peinlich. Darum muss ich alleine sein, wenn sie mir einfallen.« Die Aufnahmen für das zweite Album starteten im Juli 1982 – erneut ohne Wilder, dessen Präsenz weiterhin auf Live- und TV-Auftritte beschränkt blieb. Im Studio stand die Band endgültig vor einer Richtungsentscheidung: Wollte man nach wie vor muntere Synthie-Popsongs mit simplen Texten im Stil von The Meaning Of Love aufnehmen oder einen weiteren Schritt in Richtung Ernsthaftigkeit gehen? Gore hatte mittlerweile starke Präferenzen für einen Wechsel entwickelt, und mit Gahan, der die großen Auftritte liebte und sicher gerne eine Hitsingle nach der anderen veröffentlicht hätte, hatte er den entscheidenden Fürsprecher: »Martin schreibt nicht wie Vince. Vince schreibt einfache Sachen, Martin nicht. Und wir haben Martin als Songwriter gewählt, weil wir seine Sachen mögen«, so Gahan kurz nach den Albumsessions. Wenn Bands einen neuen Weg einschlagen, findet man mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stück, das symbolisch für den Wandel steht. Bei Depeche Mode heißt dieser Song Leave In Silence, die sechste Single der Band und später das Eröffnungsstück des Albums.

Im Vergleich zu den Stücken der ersten Platte ist dieser Song ungleich komplexer und düsterer – vom sakralen Chor im Intro bis zur Struktur des Refrains, die für einen Popsong ungewöhnlich kompliziert ist. Dass Gore hier wirklich etwas Neues gelungen war, zeigen frühe Mitschnitte von Konzerten: Das Publikum lauscht gebannt der Band und beginnt erst nach der Zäsur im Anschluss an das vielstimmig gesungene Refrain-Ende zu kreischen. Zum Vergleich: Bei den simpleren Stücken tanzten die Teenager im Publikum zumeist durch. Gore bestätigte diesen Eindruck im Interview mit dem Record Mirror: »Mit dem Stück entfernen wir uns von der Dance Music. Nicht dass man zu dem Song nicht tanzen könnte, aber ich denke, die Charts sind heute zu sehr auf Dance fokussiert.« Interessanter Nebenaspekt des Artikels: Obwohl Gore sich selbstbewusst als kreativer Kopf der Band positioniert, beschreibt ihn der Journalist despektierlich als den »etwas Kleineren mit den flauschigen blonden Haaren, der hier die Lieder schreibt«.

Obwohl auch Leave In Silence als Single nicht die britischen Top Ten knacken konnte und Paul Weller als Gastkritiker eines Musikmagazins urteilte, aus dem Arschloch seines Roadies kämen mehr Melodien als von diesem Stück, war die Stimmung nach der Veröffentlichung wesentlich besser als bei The Meaning Of Love. Hier hatte man einen Song, dem man schon damals einen zeitlosen Charakter zuschreiben konnte. Und hier hatte man einen Text, der nichts mehr mit dem naiven Thema »Junger Typ weiß nicht, was Liebe ist« der Vorgänger-Single zu tun hatte. Gore schrieb erstaunlich abgeklärte Zeilen über das Ende einer Liebe und über Sprachlosigkeit – und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nie mit einer richtigen Freundin Schluss gemacht hatte (oder sie mit ihm). Heute sagt er: »Ich blicke gerne auf Leave In Silence zurück. Das Stück war für uns ein Wendepunkt. Wir spürten, dass dies ein Weg war, um voranzukommen.«

So sehr Gore Leave In Silence schätzt, so wenig mag er heute das Album, das dieser Song eröffnete. A Broken Frame ist für ihn ein Zeugnis der künstlerischen Zerrissenheit. »Für mich funktioniert diese Platte nicht als etwas Einheitliches. Einige dieser Lieder hatte ich mit 16 geschrieben, und wir erfanden sie im Studio als elektronische Lieder neu. Andere Songs schrieb ich erst im Studio. Für mich ist es unser schwächstes Album.« Für den waghalsigen Schritt, ausschließlich auf neue und komplexere Songs zu setzen, fehlte der Band erstens die Zeit und zweitens der Mut. Gore gelang es nicht, sich ganz aus dem Schatten von Clarke zu lösen: »Es musste schnell gehen. Hinzu kam, dass ich dachte, wir bräuchten ein paar Popsongs, weil wir sie auch auf Speak & Spell hatten.« Seine neuen Songs stellte Gore der Band zumeist in rohem Zustand vor. Oft spielte er nur eine Synthie-Melodie und stampfte den Rhythmus mit dem Fuß. Im Studio entwickelte Gore mit Fletcher und Gahan die Stücke weiter, stets mit Blick auf die Uhr. Denn Studiozeit war teuer, und Depeche Mode standen nicht bei einem Majorlabel unter Vertrag, bei dem Budgets damals noch keine Rolle spielten.

Was die Bedeutung der Texte betraf, gab sich Gore auch gegenüber seinen Bandkollegen verschlossen. Es war offensichtlich, dass er für die neueren Songs Worte fand, die sich an die düstere Grundstimmung anpassten. Durch die Zeilen von Tracks wie Satellite oder The Sun & The Rainfall wehte eine Stimmung von Abschied, Desillusion und notwendigen Veränderungen. Konkrete Interpretationen lieferte Gore aber nicht. »Wir wissen es nicht, Martin sagt es uns nicht«, entgegneten Fletcher und Gahan einem Journalisten, der wissen wollte, was es mit den Liedzeilen von Monument auf sich habe: »My monument/ It fell down/ Work all of my days/ For this kind of praise/It fell down.« Gore war nicht danach, das Geheimnis für die Presse zu lüften. »Das ist eine sehr direkte Frage«, entgegnete er. »Ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe ist zu sagen, was diese Songs bedeuten.« Hinweise über Begebenheiten, die ihn zu seinen Texten aus dieser Zeit inspiriert haben könnten, gibt es daher wenige. In einem Interview aus dem Jahr 1982 sagte er: »Ich schreibe eigentlich über alles und übertreibe es nur ein wenig.«