Insight - Martin Gore und Depeche Mode

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Warum Gore der beliebteste Kerl in Basildon war, wer ihn dazu brachte, seinen Job bei der Bank zu kündigen, und was ihn in einer Juni-Nacht 1981 vom Schlaf abhielt.

Martin Gores Eintrittskarte für das Line-up der Band Composition Of Sound aus Basildon war ein CS-5-Synthesizer der Firma Yamaha. Kein High-End-Gerät, eher ein Mittelklassemodell für halbwegs ambitionierte Einsteiger. Der Synthesizer kostete ihn 1979 200 britische Pfund, die Gore von seinem Gehalt als Angestellter der NatWest-Bank in der Londoner City bezahlte. Der Kauf war eher spontaner Natur; zumindest hatte Gore sich im Vorfeld nicht näher über die Marktlage informiert. »Es war das erste Mal, dass ich überhaupt einen Synthesizer gesehen hatte. Ich wusste nichts über sie und fand einen Monat lang nicht einmal heraus, wie man den Sound verändert«, gestand er 1982 einem Magazin für Musik und Technik. Doch Anfang der Achtzigerjahre ging es in England nicht so sehr darum, wie man einen Synthesizer bedient und welche Möglichkeiten so ein Gerät hat. Entscheidend war, einen Synthesizer zu besitzen – und da war Gore in der zu dieser Zeit durchaus vitalen Musikszene des Städtchens Basildon einer der Ersten.

Die Sache mit dem Synthesizer sprach sich herum. Über Gores Schulfreund Andy Fletcher, der ebenfalls in der Londoner City jobbte, bekam der ein Jahr ältere Vince Martin Wind von der Sache, ein Gelegenheitsjobber für schlecht bezahlte Aufgaben, der sich vorgenommen hatte, an einer Popkarriere zu basteln – und sich später in Vince Clarke umbenannte, damit er trotz Konzertgagen weiterhin als Mr. Martin Arbeitslosengeld kassieren konnte. Er spielte zusammen mit Fletcher bei Composition Of Sound, war für das Songwriting zuständig und hatte große Lust, nach allerhand Versuchen mit Bands in herkömmlicher Besetzung Gitarre, Bass und Schlagzeug (darunter von 1977 bis 1979 No Romance In China, ebenfalls mit Fletcher) etwas anderes zu probieren. Also bat er Gore in seine Band und ging richtigerweise davon aus, dass der nicht Nein sagen würde. Das Motiv, warum der zurückhaltende Gore der richtige Mann für Compositon Of Sound war, verschwieg Clarke auch damals nicht. »Wir nahmen ihn in die Band, weil er einen Synthesizer besaß. Das war der Grund – und sicher nicht seine aufgeschlossene Persönlichkeit«, so Clarke rückblickend. Es gab damals in Basildon ein wahres Geschacher um den jungen Mann mit dem Synthesizer. Clarke: »Es ging darum, ihn gegenseitig den anderen Bands auszuspannen.«

Fühlte sich Gore vom Interesse an seiner Person geschmeichelt? Oder war er beleidigt, weil er ja auch merkte, dass es nicht um ihn ging, sondern um seinen Yamaha CS-5? Weder – noch. Clarke: »Martin, in seiner unverbindlichen und zurückhaltenden Art, tat das, was die Leute von ihm verlangten.« Gore war kein Typ, der Vorgaben machte, Bedingungen stellte oder Grundsatzdiskussionen anstieß. Es stellte ihn lediglich zufrieden, seinen neuen Synthesizer sofort einsetzen zu können – jedoch ohne auch nur ansatzweise das beachtliche Klangspektrum des Geräts auszureizen. Gore war damals kein Tüftler und Bastler. Sein musikalisches Interesse fokussierte sich auf Melodien; er liebte die Düsseldorfer Pioniere Kraftwerk für die Art, wie sie simple und eingängige Melodien auf rein elektronischer Basis erzeugten. Generell galt Gores Vorliebe in dieser Zeit den Minimalisten. So hatte er auch ein Faible für Jonathan Richman, der mit seinen Modern Lovers auf der Basis einfacher Gitarrenriffs aufregende Musik spielte.

Kraftwerk und Jonathan Richman waren in Gores Augen überzeugende Antworten auf die Frage, ob es eine intelligente Art von Rock- und Popmusik geben kann, die nichts mit den epischen und komplexen Entwürfen der Progrock-Bands zu tun hat. Er selbst hatte nun einen Synthesizer und probierte, es seinen Idolen gleichzutun. Er begann als Teil von Composition Of Sound damit, zusammen mit Clarke und Fletcher eine neue Art von Band zu entwickeln: eine Gruppe ohne alles, was bis in die Siebzigerjahre hinein fester Bestandteil einer Rockband war. Keine Gitarren, kein Schlagzeug. Nur einen Bass gab es zu Beginn, den Fletcher spielte. Gore fand spätestens 1980, es sei nun Zeit für eine neue Musikrichtung. Schließlich galt es die zwei Versprechen einzulösen, die Punk der britischen Jugend gegeben hatte. Erstens: Jeder kann Musik machen. Zweitens: Jeder kann Musik machen, wie er möchte. »Nach Punk fanden wir, dass Musik nicht zu dem alten Rockband-Format zurückkehren dürfe«, gab Gore später zu Protokoll, »und elektronische Musik war, für unsere Begriffe, der Schritt nach vorne. Es erschien uns nur logisch, eine Synthesizer-Band zu sein. Etwas Neues zu tun – und sich nicht wieder dem Bandformat mit Schlagzeug, Bass und Gitarre zu widmen.«

1980 war Gore noch immer ein Amateurmusiker; ein junger Bankangestellter, der in seiner Freizeit in Bands spielte. Neben seinem Engagement bei Composition Of Sound war er Mitglied des kurzlebigen Projekts French Look. Auch hier war vor allem sein Synthesizer gefragt; obligatorisch waren die rein zufälligen Töne, die Gore zu Beginn der Konzerte mit dem ansonsten sinnlosen »Sample and Hold«-Effekt seines Yahama CS-5 in den Raum warf. Teenager, die in Bands spielen, gab es auch in dieser Zeit in Großbritannien zu Tausenden: Jungs, die tagsüber die Stunden in öden Berufen zählten und schon auf der Rückfahrt mit der Bahn in die Suburbs zu träumen begannen. Doch Compositon Of Sound hatten den anderen Hobbybands etwas voraus: Sie hatten ein Konzept. Man wagte einen Schritt nach vorne, verzichtete auf Gitarren, setzte auf Synthesizer. Damit unterschied man sich von den vielen anderen Teenagern, die sich an Fender-Gitarren die Finger blutig spielten und in ihre Setlists möglichst viele Gassenhauer einbauten, damit das Publikum in den Pubs nicht übellaunig wurde. Gore war nicht mehr der Gitarrist von Norman & The Worms, die den albernen Siebzigerjahre-Hit Mouldy Old Dough von der Scherzkeks-Band Lieutenant Pigeon nachspielten. Er war nun Vordenker einer ganz neuen Musikrichtung.

Die Rolle, die Gore in den ersten Wochen bei Compositon Of Sound spielte, war jedoch eher klein. Das Sagen hatte Clarke, der mittlerweile auch einen Synthesizer besaß. Er schrieb die meisten Lieder und zeigte das meiste Engagement, wenn es darum ging, erste Gigs an Land zu ziehen. Gore hatte tagsüber anderes zu tun: Jeden Morgen mit dem Zug hinein in die City Of London, eine Fahrt von knapp einer Dreiviertelstunde in mit Pendlern vollgepackten Vorstadtzügen. Ausstieg im Bahnhof Fenchurch Street, dann noch ein kurzer Fußweg im Strom der unzähligen Krawattenträger und Kostümträgerinnen bis in die Filiale der NatWest-Bank, einer britischen Finanzinstitution, in deren Business-Alltag Popstar-Träume sehr schnell von grauer Routine verdrängt wurde. Fletcher arbeitete nur ein paar Häuser von Gores Arbeitsplatz entfernt bei einer großen Versicherung, sodass Clarke in der frühen Phase an den Werktagen alleine in Basildon blieb und versuchte, die Karriere der Band in Schwung zu bringen.

Zu Beginn war Clarke auch Sänger, doch wohl war ihm dabei nicht. Sein Traum damals: Erfolg haben, ohne berühmt zu sein. Drei Konzerte spielten Composition Of Sound mit Clarke als Leadvokalist und Gore als Stimme im Hintergrund – Gigs, bei denen sich viele Teenager neugierig vor der Bühne positionierten, um die kaum älteren jungen Männer beim Bedienen ihrer Synthies zu beobachten. Nicht die Songs oder die Musiker waren die Stars, sondern die Maschinen mit ihren Knöpfen und Tasten. Gore hatte damit kein Problem; er fühlte sich vielmehr wohl hinter einem Instrument, das für die Jugend aus Essex so faszinierend war, weil es nach Zukunft klang und aussah. Beim dritten Gig der Band stand ein Modestudent aus dem ein paar Kilometer östlich von Basildon liegenden Seestädtchen Southend im Publikum. Kurze Zeit später tauchte der Typ auch bei einer Probe von Composition Of Sound auf, nahm sich das Mikro und sang Heroes von David Bowie. Das war der Sänger, den Clarke gesucht hatte. Das war Dave Gahan.

Der neue Mann am Mikro zeigte von Beginn an viel Enthusiasmus und brachte zwei wertvolle Dinge in die Band ein: eine Gruppe von rund 30 Kumpels, die fortan bei jedem Gig dabei waren, und schließlich auch einen neuen Bandnamen: Depeche Mode, der Name eines französischen Modemagazins, den Gahan aufgeschnappt hatte. Keine Frage, der Sänger war 1980 ein Kind des Zeitgeistes. Ein Postpunk, der auf Gary Numan stand und glaubte, passende Antworten auf alle Stilfragen zu kennen. Gore war diese Welt fremd. An den Abenden ging er nicht in die angesagten Clubs, wo die sogenannten New Romantics ihre neuen Garderoben vorzeigten und zu futuristischen Klängen tanzten. Sein Platz waren weiterhin die üblichen Bars, in denen abends Männer mit langen Haaren Songs zur Akustikgitarre spielten. Gore war kein Typ, der Lust hatte, sich einer Szene anzuschließen. Dafür war er viel zu schüchtern. Aber als Depeche Mode im Herbst 1980 regelmäßige Gigs in Basildon und Umgebung spielten und immer mehr aufgestylte New Romantics im Publikum standen, merkte auch Gore, dass er sich in optischer Hinsicht etwas einfallen lassen musste.

Das Ergebnis: weiße Schminke – auf einer Gesichtshälfte. Im Vergleich zu seinen ebenfalls von Dave Gahans Modeaffinität infizierten Depeche-Mode-Kollegen war dieser frühe Make-up-Versuch aber noch harmlos: Während Clarke mit Tarnfarben, schwarz gefärbten Haaren und Stirnband wie ein Vietnam-Veteran aussah, versuchte es Fletcher an den Beinen mit einer Kombination aus Fußballstutzen und Pantoffeln. Als Entschuldigung für diese modischen Verwirrungen darf gelten, dass zumindest Gore und Fletcher direkt aus dem Zug zurück aus der Londoner City in die Konzert-Venues hasteten. Da blieb kaum Zeit, den Business-Anzug auszuziehen – und die paar Biere, die sich vor allem Gore vor jedem Konzert gönnte, um entspannter auf der Bühne zu stehen, mussten ja auch noch getrunken werden. Doch selbst die lokale Presse kannte bei einem frühen Porträt der großen Hoffnung der Stadt keine Gnade: »Die könnten groß rauskommen, wenn ihnen jemand bloß den Weg zu einem anständigen Schneider weist«, urteilte das Evening Echo aus Basildon.

 

Von zeitloser Klasse war hingegen, was die gerade ein paar Monate alte Band musikalisch zu bieten hatte. Die drei Synthie-Spieler hatten schnell eine Aufgabenverteilung gefunden, die sicherstellte, dass die Musik von Depeche Mode weder leblos klang noch im Chaos unterging. Gore war in den meisten Fällen verantwortlich für die Melodien; Clarke spürte schnell, dass Gores Ideen seine Songs deutlich besser machten. Teil der Setlist war schon damals Clarkes frühes Meisterstück Photographic, bei dem Gore die zweite Stimme sang und in der Strophe eine Melodie spielte, die das düstere Stück zu einem Popsong machten. Und auch eine Gore-Komposition wurde eingebaut: Big Muff, ein Instrumentalstück mit kurvenreicher Melodie zwischen Science-Fiction-Soundtrack und futuristischer Fanfare. Interessant ist der Titel des Stücks, denn Big Muff war der Name eines Gerätes, von dem sich Gore und Depeche Mode in ihren frühen Tagen abwendeten: ein Verzerrer, den in den Siebzigerjahren Pink Floyd oder Carlos Santana zum Standardeffekt für ambitionierte Rockgitarristen gemacht hatten.

Ansonsten verfolgte Gore Ende 1980 die nächsten und ungemein wichtigen Schritte der Band eher passiv. Clarke und Gahan stiefelten in die Büros diverser Plattenfirmen, um dort das erste Depeche-Mode-Demotape anzupreisen, zunächst ohne Erfolg. Auch ein junger Labelbesitzer namens Daniel Miller zeigte sich beim ersten Treffen unbeeindruckt. Das änderte sich erst, als der Chef der jungen Plattenfirma Mute Records Depeche Mode im Vorprogramm seines Künstlers Fad Gadget sah. Das Konzert fand im November im Bridgehouse in Canning Town im Osten von London statt – und Depeche Mode müssen sehr gut gewesen sein, denn nach dem Gig gab es gleich zwei Interessenten, die der Band vom Fleck weg einen Plattenvertrag anboten: einmal Stevo Pearce, ein gerade 18 Jahre alter Enthusiast, der sich vorgenommen hatte, auf seinem Label Some Bizzare die Speerspitze der von ihm »Futurists« genannten Elektro-Pop-Welle unter Vertrag zu nehmen – und eben jener Daniel Miller, der Depeche Mode beim ersten Treffen noch keine Chance gab, dies später mit seiner üblen Laune an jenem Tag entschuldigte und nun doch großes Interesse zeigte.

Der Marktwert von Depeche Mode war innerhalb weniger Wochen enorm gestiegen. In einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut aus dem Jahr 2001 erinnerte sich Gore an »unglaubliche Summen, die man uns anbieten wollte«. Auch der Pop-Headhunter Mark Dean war hinter Depeche Mode her. Gore: »Er zog dann weiter und nahm Wham! unter Vertrag – damit begann das Fiasko. Ich bin sicher, hätten wir auf einem dieser Major Labels unterschrieben, würde es uns heute nicht mehr geben. Wir wären nach dem zweiten oder dritten Album rausgeflogen.« Statt auf das schnelle Geld zu hoffen oder – so das Angebot von Stevo Pearce und seinem Some-Bizzare-Label – der großen Verlockung zu erliegen, einen Deal über gleich mehrere Alben abzuschließen, entschieden sich Depeche Mode für Daniel Miller und Mute. Und das, obwohl zunächst einmal nur eine einzige Single geplant war. »Wir waren große Mute-Fans zu dieser Zeit«, erinnerte sich Gore Jahre später, »daher war es für uns schon eine große Sache, für Fad Gadget im Vorprogramm spielen zu dürfen. Dass wir dann noch Daniel trafen und vor Ort einen Single-Deal angeboten bekamen, war einfach fantastisch.«

Aber auch der Enthusiast Stevo Pearce ging nicht leer aus. Weil neben Gore auch die anderen Mitglieder der Band nicht besonders gut darin waren, ein klares Nein zu äußern, sagten sie zu, zu Pearces geplante Compilation Some Bizzare Album ein Stück beizusteuern. Man entschied sich für das von Clarke geschriebene, im Arrangement aber schon deutlich von Gores Melodik geprägte Photographic – in der Some-Bizzare-Version das erste Studiostück von Depeche Mode überhaupt. Kurz danach nahm die Band Dreaming Of Me auf, die geplante Single für Mute. Auch hier passte die Formel: Der Song von Clarke und Gahans Leadvocals waren solide, die melodischen Verzierungen sowie die zweite Stimme von Gore (das britische Magazin Sounds nannte seine Background-Vocals bei diesen frühen Stücken in Anlehnung an traditionelle amerikanische Gesangsgruppen »quasi Barbershop«) machten ihn im Februar 1981 zum ersten kleinen Hit der Band. Die Single verkaufte sich erst schleppend, dann immer besser und erreichte nach einigen Wochen schließlich Platz 57 in den britischen Charts. Das war nicht nur ein beachtlicher Erfolg für eine Independent-Produktion – es bedeutete für Depeche Mode den Eintritt ins Pop-Universum.

Gore, noch immer an den Werktagen Bankangestellter, kam dort plötzlich mit Dingen in Kontakt, die ihn irritierten. Zum Beispiel mit Drogen. Clarke berichtete später von regelmäßigem Konsum von Speed, einer Droge, die »alles, was wir erlebten, noch aufregender machte«. Doch Gore hielt Abstand von diesem und anderen illegalen Rauschmitteln: »Ich wusste von den Drogen, aber war ihnen gegenüber ziemlich anti eingestellt. Wenn ich jemanden um mich hatte, der Drogen nahm, ging ich weg. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Es war für mich damals eine moralische Frage. Vielleicht war es auch Angst.« Gores Vorsicht machte sich auch bei den ersten größeren Interviews bemerkbar, die Depeche Mode nun zu geben hatten. Das häufigste Adjektiv bei den Beschreibungen seiner Person war »still«; in einer großen Geschichte für das Magazin Sounds im Juni 1981 fiel Fletcher mitten im Interview auf, dass Gore noch nichts gesagt hatte. Dessen Reaktion: »Ich spare mir das für später auf, ich warte noch auf die richtige Frage.«

Richtig wohl fühlte sich Gore als Teil dieser Popwelt noch nicht. Es fehlte ihm in diesem Kosmos an Sicherheit. Eine Platzierung in den britischen Charts war eine schöne Sache, sicher. Doch wirkliche Sicherheit bedeutete für ihn der regelmäßige Gehaltsscheck von NatWest – zumal er für die Chartplatzierung der Single Dreaming Of Me nicht plötzlichen Reichtum erlangte. Clarke als Songwriter bekam immerhin die Tantiemen, durch Gore und die beiden anderen blieben 100 Pfund – und die gingen schnell für ein paar Biere über den Tresen. Auch als Depeche Mode im Mai 1981 erneut ins Studio gingen, um neue Songs für eine zweite Single aufzunehmen, fehlte es Gore ein wenig an Antrieb. Viel mehr als die neuen Lieder interessierten ihn Videospiele; er bezeichnete sich später als »Abhängiger« und »siebtbester Spieler der Welt«. Labelchef Miller erinnerte sich, dass Gore und Fletcher abends direkt von ihren Jobs und mit einer Tüte Take-away-Essen ins Studio kamen: »Martin fragte uns: ›Muss ich heute wieder was spielen? Okay, dann los.‹ Er kam für fünf Minuten rein und hauchte den Stücken mit seinem Spiel Leben ein. Es war offensichtlich, dass er sehr musikalisch war. Ich erinnere mich, wie er da mit chinesischem Fastfood in der einen Hand an seinem Synthesizer stand und mit der anderen eine Melodie spielte. Alles, was er im Grunde wollte, war, in Ruhe zu essen.«

Für eine junge Band, die gerade im Begriff ist, erste Songs aufzunehmen, kümmerten sich Depeche Mode erstaunlich wenig um das Wesentliche: die Songs. Gore gestand rückblickend, nicht ansatzweise gewusst zu haben, was die Texte von Vince Clarke zu bedeuten haben: »Oft war schon die Grammatik ein Mysterium, ganz zu schweigen von der Bedeutung.« Und Gore wäre der Letzte gewesen, der in dieser Hinsicht nachgefragt hätte. Aber immerhin schrieb er in dieser Zeit selbst einen Song, Tora! Tora! Tora!, benannt nach dem Ausruf japanischer Kampfflieger kurz vor dem Angriff auf den amerikanischen Navy-Stützpunkt Pearl Harbor. Die Stimmung des Songs ist ein wenig gespenstisch, der Text durchaus eindringlich: »I had a nightmare only yesterday/ You played a skeleton/ You took my love then died that day/ I played an American.« Man könnte denken, Gore habe versucht, dem federleichten Synthie-Pop Clarkes eine andere Klangfarbe entgegenzusetzen. Doch der Autor selbst sah die Sache anders: »Ich betrachtete meine Songs in dieser Phase gar nicht als meine eigenen«, sagte Gore 2001 in einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut. »Was ich versuchte, war, mich als Songwriter dem anzupassen, was Vince zu dieser Zeit machte.«

Gores beachtliche Teilnahmslosigkeit angesichts des Aufstiegs von Depeche Mode neigte sich erst dem Ende zu, als die Band Mitte Juni 1981 die zweite Single New Life veröffentlichte. Das Stück kletterte in den britischen Charts bis auf Platz 11 – und so langsam dämmerte es auch Gore, dass dies mehr war als ein Hobby. Daryl Bamonte, Freund der Band und Tourmanager, erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Gore und Miller, kurz nachdem New Life nur knapp die heilige Top Ten verpasst hatte: »Martin fragte Daniel: ›Müssen wir jetzt tatsächlich unseren Beruf aufgeben?‹ Und Daniel sagte: ›Ja, ich denke, für euch wird ab jetzt gesorgt sein.‹« Gore kündigte, Fletcher tat es ihm gleich – und im Juli 1981 durfte das Teenie-Musikmagazin Smash Hits in einer Titelgeschichte verkünden: »In den letzten Monaten haben sie alles aufgegeben, was sie davon abhält, zu jeder Zeit Depeche Mode zu sein.« Interessanterweise begann Gore zeitgleich damit, auf der Bühne Anzug und Krawatte zu tragen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Der ehemalige Banker musste seine Business-Suits nicht einmotten – und sah dazu allemal besser aus als bei seinen ersten Versuchen, sich einen individuellen Stil anzueignen.

Im selben Monat war die Band zudem erstmals bei Top Of The Pops zu Gast, der bekanntesten Musik-TV-Sendung Großbritanniens. Die Show war damals kein Kinderzirkus, sondern eine große Sache. Hier hatten sie alle gespielt: die Beatles, David Bowie, Roxy Music. Und nun stand Gore an seinem Synthesizer und war furchtbar nervös. »Ich weiß noch, dass ich in der Nacht vor der Aufzeichnung nicht schlafen konnte«, sagte er später. »Heute wirkt das vielleicht ein wenig lächerlich, aber wir waren damals sehr jung – und das war die Hit-Show, mit der wir aufgewachsen waren.« Generell hatten Depeche Mode damals so ihre Probleme mit der Bühnenperformance. Während Gahan als Sänger aus heutiger Sicht seltsame, damals aber durchaus angesagte Tänze aufführte, wusste Gore nicht so recht, was er hinter seinem Synthesizer tun sollte. Dem New Musical Express erzählte er im Sommer 1981 von einer interessanten Idee aus den Anfangstagen: »Wir wollten Schienen auf der Bühne verlegen und uns auf Plattformen stellen, sodass wir uns nach vorne und hinten bewegen könnten, ohne uns tatsächlich zu bewegen.«

Nach zwei Singles wurde es Zeit für das erste Album. Depeche Mode begannen im Juni 1981 mit der Arbeit, wobei es nie in Frage stand, dass auch Gores Songs Big Muff und Tora! Tora! Tora! ihren Platz auf der Platte finden würden. Die Band hatte sie seit mehr als einem Jahr bei Konzerten gespielt, und auch Clarke wehrte sich nicht dagegen. Zudem kam es auf der LP zur Premiere des Leadsängers Gore: Sehr spät entschied sich die Band, das eigentlich als Instrumental geplante Any Second Now als Gesangsstück zu arrangieren – und Gore übernahm den Job. Als im September 1981 die dritte Single Just Can’t Get Enough als Vorbote für die LP herauskam, spürte die Band zum ersten Mal Gegenwind. Einigen Kritikern erschien dieses hüpfende Poplied zu banal, zu kindisch. Es kam auch zu ersten Vorbehalten gegen den reinen Synthie-Pop von Depeche Mode; die Rock’n’Roll-Autoren in den Redaktionen schienen dann doch die Gitarren zu vermissen. Grund genug für Gore, in einem Gespräch mit dem Magazin Sounds im November 1981 eindeutig Stellung zu beziehen: »Rockmusiker sagen, man könne sich mit einem Synthesizer nicht ausdrücken. ›Seelenlos‹ ist der Begriff dafür. Aber was bringt es, immer weiter auf Gitarren einzuprügeln? Auch Heavy-Metal-Riffs sind fast alle gleich.«

Als das Album im Herbst 1981 fertig war und den Titel Speak & Spell bekam (benannt nach einem elektronischen Buchstabier-Spielzeug), hatte die Band zum ersten Mal groß angelegte Promotion-Arbeit zu leisten: eine kurze Tour in Europa, ungezählte Interviews und Fotosessions. Depeche Mode wurden herumgereicht, und oft drehten sich die Fragen nicht um die Musik und die Songs, sondern um Aspekte der Mode und des Zeitgeistes. Das Image der Band wandelte sich: Depeche Mode waren nicht mehr die innovativen Synthie-Pop-Pioniere, sondern elektronische Bubblegum-Popper für Teenies. Just Can’t Get Enough hatte Photographic als Kernstück abgelöst. Und plötzlich drehte sich das Bandgefüge: Während sich Gore mehr und mehr mit der Situation arrangierte, nun Popmusiker zu sein, isolierte sich Clarke. Der eindeutige Antreiber der ersten Monate wurde zum Fremdkörper. Es gefiel ihm nicht, dass die Band von der Presse so sehr personalisiert wurde. Er spürte, dass Erfolg und Anonymität nicht zusammengehen. Und es stört ihn, dass sich die anderen mehr oder weniger willenlos dem Strom der Ereignisse ergaben: Gahan genoss die Aufmerksamkeit, und Gore und Fletcher waren eben keine Typen für Rebellionen.

 

So kam es, dass Clarke schon kurz vor der Veröffentlichung des ersten Albums den Entschluss fasste, die Band zu verlassen, und seinen Ausstieg nur so lange verzögerte, bis sich die Gruppe nach Speak & Spell neuen Aufnahmen zu widmen hatte. Plötzlich standen Depeche Mode ohne ihren Songwriter da. Ohne die treibende Kraft der ersten Monate. Ohne den Mann, der überhaupt dafür gesorgt hatte, dass die Band Konzerte spielen und einen Plattenvertrag unterzeichnen konnte. Für 99 Prozent aller Bands der Rock- und Popgeschichte wäre ein solcher Verlust das Ende gewesen. Aber Depeche Mode machten weiter. Und alle – Gahan und Fletcher, aber auch Mute-Boss Miller – setzten ihre Hoffnung auf den Mann, der vor ein paar Wochen noch parallel zum Einspielen seiner Melodien chinesisches Essen verputzt hatte. Und Gore selbst? Reagierte, wie man es gewohnt war: er machte mit. Denn Nein zu sagen war einfach nicht sein Ding.