Handbuch Ius Publicum Europaeum

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1. Analogien

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Analogieschlüsse werden herangezogen, wenn eine Rechtslücke (lacuna) besteht und ein Problem gelöst werden soll, das nicht unmittelbar im Verfassungstext geregelt wird.[28] Es gibt zwei Arten von Rechtslücken, wirkliche und technische.[29] Technische Rechtslücken bestehen dort, wo die Verfassung selbst eine Lücke kreiert (z.B. wenn eine Bestimmung auf eine andere Bestimmung verweist, diese aber nicht zu finden ist).[30] Wirkliche (oder inhaltliche) Rechtslücken entstehen dort, wo eine Norm eine Frage nicht regelt, wo dies aber zu einer offensichtlich untragbaren Lösung führen würde (planwidrige Rechtslücke).[31] Die Schwierigkeit liegt darin, dass man es hier mit einer Evaluationsfrage (was ist „offensichtlich untragbar“) zu tun hat. Wenn man behauptet, dass es irgendwo eine inhaltliche Rechtslücke gibt, muss dieses Argument deshalb mit einem Hinweis auf die objektive ratio legis (siehe unten Rn. 72 ff.) oder die subjektive Intention der Verfassunggeber (siehe unten Rn. 80 ff.) oder nichtrechtliche, etwa moralische Argumente (siehe unten Rn. 87 ff.) unterstützt werden. Das erklärt, warum das Argumentieren mit Analogien (ohne eine besonders starke Begründung) im Falle einer inhaltlichen Verfassungslücke manchmal dem Verdacht der Willkür ausgesetzt ist.[32] Dies kann erklären, warum in manchen Rechtskulturen Analogien nicht akzeptiert werden.[33]

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Die grundlegende Idee der Analogie ist es, eine Rechtsvorschrift zu suchen, die zwar nicht auf den vorliegenden Fall, aber zumindest auf ähnliche Fälle anwendbar ist. Dadurch kann dem Vorwurf der Willkür begegnet werden. Je ähnlicher der Fall in relevanten Punkten ist, desto überzeugender ist die Analogie. Fraglich bleibt, wann ein Fall einem anderen „ähnlich“ ist und welcher von zwei „ähnlichen“ Fällen (die öfters in verschiedenen Aspekten ähnlich sind) der ähnlichere ist. Bei der Beantwortung dieser Fragen können teleologische Argumente von Nutzen sein.

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Eine bekannte Unterscheidung ist jene zwischen analogia legis und analogia iuris.[34] Erstere beschreibt die Anwendung einer spezifischen (aber nicht direkt für den Fall einschlägigen) positiven Rechtsvorschrift. Diese muss nicht einmal Verfassungsrang haben, z.B. werden Unabhängigkeitskriterien für verschiedene Verfassungsorgane nach dem Beispiel der richterlichen Unabhängigkeit konzipiert. Im zweiten Fall wird die anzuwendende Norm von nicht explizit kodifizierten Grundprinzipien abgeleitet, die sich aus der Zusammenschau mehrerer Gesetze ergeben, z.B. nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet (in Bezug auf die Übertragung von Kompetenzen auf die EU).[35]

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Als Beispiel für eine analogia iuris kann eine Entscheidung des tschechischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1997 angeführt werden,[36] in der es um das Veto des Präsidenten gegen Gesetze ging. Gemäß dem Text der Verfassung kann der Präsident innerhalb von 15 Tagen nach Vorlage eines Gesetzes zur Unterzeichnung sein Veto einlegen. Die Verfassung lässt allerdings die Frage offen, was geschieht, wenn der 15. Tag auf ein Wochenende fällt. Das tschechische Verfassungsgericht wies das textbasierte Argument zurück, wonach die Frist im konkreten Fall deshalb verstrichen wäre. Stattdessen wurden allgemeine Rechtsprinzipien, die zum Teil sogar aus dem römischen Recht entstammten, benutzt, um die Lücke zu schließen.

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Die Analogie ist keine Auslegungsmethode, sondern ein Argument über die Anwendung einer Norm (die natürlich auch selbst interpretiert werden muss, um angewendet werden zu können), die eigentlich für den Fall nicht einschlägig ist. Wenn man die Zulässigkeit dieses Arguments juristisch akzeptiert, kann man es wie folgt konzeptualisieren: Es entsteht nach dem Vorbild einer bereits existierenden Norm eine neue Norm. Akzeptiert man die Zulässigkeit hingegen nicht, handelt es sich schlicht um illegitime richterliche Rechtserzeugung.

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Gebraucht man die „analoge“ Rechtsvorschrift nur für die Auslegung einer anzuwendenden Norm, dann ist es eher ein harmonisierendes Argument (in pari materia, siehe unten Rn. 48 ff.).

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Das Gegenteil der Analogie ist die teleologische Reduktion: Die eigentlich einschlägige Norm wird nicht angewendet, denn sie würde einem Grundprinzip, der objektiven ratio legis, oder der subjektiven Intention des Verfassunggebers widersprechen.[37]

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Der Gebrauch der Analogie kann Zweifel hinsichtlich ihrer Legalität erzeugen, denn die angewendete Norm ist bekanntlich nicht für den Fall einschlägig. Gleiches gilt im Fall der teleologischen Reduktion, denn hier wendet man die einschlägige Norm nicht an[38] und kann somit die sich ergebende Auslegung unvorhersehbar machen, was die Rechtssicherheit erschwert. Deshalb werden solche Argumente normalerweise vermieden.[39] Die annehmbarste Situation, in der Analogien gebraucht werden können, ist die der technischen Rechtslücken – vorausgesetzt, dass das Argument so weit wie möglich auf positivem Recht begründet ist (z.B. durch Hinweise auf zahlreiche – übereinstimmende – positive Bestimmungen für ähnliche Fälle).

2. Argumente über die Geltung des Verfassungstexts

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Den gültigen Verfassungstext festzustellen, ist eine Vorbedingung der Auslegung. Problematisch kann dieses Unterfangen in Zeiten von revolutionären Regimewechseln (wenn nicht klar ist, ob die neue oder die alte Verfassung gültig ist), bei Promulgationsproblemen, bei möglicherweise verfassungswidrigen Verfassungsänderungen oder eben bei Verfassungsänderungen nicht-formeller Natur (materielle Derogation, wenn also der später angefügte Verfassungstext dem früheren widerspricht, ohne ihn aber explizit außer Kraft zu setzen) sein.[40]

3. Argumente über die Anwendung oder Nicht-Anwendung des Verfassungstexts

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Bei der dritten Art nichtinterpretativer verfassungsrechtlicher Argumente stellt sich die Frage, ob die gültige Verfassung angewendet werden kann oder nicht. Hier ist also klar, was der gültige Verfassungstext ist und was er besagt. Zu dieser Gruppe gehören die Argumente, die behaupten, dass einige allzu politische Fragen nicht aus einer juristischen Perspektive beurteilt werden können und deshalb die Verfassung nicht angewendet werden sollte,[41] sowie diejenigen Argumente, gemäß derer wegen der extralegalen Natur des Notstands die Anwendung der Verfassung begrifflich unmöglich wäre.[42] Bei diesem Argumentationstyp wird betont, dass die Normativität die Normalität der Umstände voraussetzt.[43]

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Eine neue Art der Argumente über die Unanwendbarkeit einer gültigen Verfassung ist das Abstreiten der Anwendbarkeit verfassungsrechtlicher Bestimmungen auf Grund ihrer Unionsrechtswidrigkeit.[44]

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Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen sind die verfassungsrechtlichen Argumente interpretativer Natur: Es geht dabei um die Auslegung von Normen.

IV. Interpretative Argumente (Auslegungsmethoden)

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Die meisten Argumente in der verfassungsgerichtlichen Argumentation sind interpretative Argumente. Welche interpretativen Argumente benutzt werden können, wird aber auch durch Normen bestimmt: Es handelt sich um Normen, die vorschreiben, wie (andere) Normen ausgelegt werden sollen.[45] Meistens sind sie nicht kodifiziert, sondern sind in der Rechtskultur verankert, in der sie gebraucht und weitergegeben werden.[46] Eine Kodifikation der Auslegungsmethoden findet normalerweise nur statt, wenn der Gesetzgeber (bzw. der Verfassunggeber) die traditionell kultivierten (und oft auch unausgesprochenen) Vorannahmen über die Interpretationsmethoden verändern möchte. Nach dem Zerfall international isolierter nationalistischer Diktaturen gilt es als eine der typischen Antworten seitens des neuen demokratischen Verfassunggebers, explizit auf das Völkerrecht, insbesondere in Menschenrechtsfragen, als Hilfsmittel der Verfassungsauslegung hinzuweisen. So geschah es etwa in Spanien und Portugal.[47]

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Ein anderes Beispiel für die Neuregelung der Verfassungsauslegung durch den Verfassunggeber ist Art. R) des ungarischen Grundgesetzes von 2011:

„(3) Die Bestimmungen des Grundgesetzes sind im Einklang mit deren Zielen, mit dem enthaltenen Nationalen Bekenntnis und mit den Errungenschaften der historischen Verfassung zu interpretieren.“

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Darin findet man drei Methoden: erstens die objektiv-teleologische Methode („im Einklang mit dessen Zielen“). Der Ausdruck „Ziel“ wird in Art. 28 des Grundgesetzes näher spezifiziert:

„[…] Bei der Auslegung des Grundgesetzes und der Rechtsvorschriften soll angenommen werden, dass diese einem dem gesunden Menschenverstand und dem Gemeinwohl entsprechenden moralischen und wirtschaftlichen Ziel dienen.“

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Zweitens die harmonisierende Interpretation im Lichte der Präambel (im ungarischen Grundgesetz „Nationales Bekenntnis“ genannt) sowie drittens die Auslegung im Lichte der „Errungenschaften der historischen Verfassung“ (dies wäre eine Art rechtsvergleichender Argumentation aus der Rechtsgeschichte) .

 

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Allerdings sind diese auslegungsrelevanten Bestimmungen des Grundgesetzes nicht abschließend. Das Wort „ausschließlich“ wird in der Aufzählung der Methoden nicht gebraucht. Es fehlen auch einige naheliegende Methoden, wie z.B. die Wortlautinterpretation. Auch wird keine Rangordnung der aufgezählten Methoden aufgestellt. Auch die Relevanz dieser Bestimmungen ist nicht ohne weiteres klar. Der Verweis auf die Auslegung im Einklang mit dem „Nationales Bekenntnis“ scheint nicht nötig, denn Präambeln werden ohnehin hilfsweise bei der Verfassungsinterpretation beigezogen.[48] Die dritte Interpretationsmethode („die historische Verfassung“) wird entweder als rechtlich bedeutungslos angesehen, da sie nur einer historisierenden politischen Rhetorik dienen kann, oder aber als ein Hinweis auf die Rechtsprechung unter der alten ungarischen Verfassung verstanden, die aber ohnehin als Interpretationshilfe gebraucht wird.[49] Nur der explizite Hinweis auf die objektiv-teleologische Methode scheint wegen der Hinterlassenschaft der anti-teleologischen sozialistischen Auslegungsmethoden (überwiegend an ordentlichen Gerichtshöfen) tatsächlich juristisch relevant zu sein (siehe unten Rn. 149 ff.). Die anderen beiden methodischen Vorgaben sind wohl aus politisch-rhetorischen Gründen in das Grundgesetz aufgenommen worden, ohne dass sie konkrete Auswirkungen auf die Verfassungsauslegung hätten.

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Das ungarische Beispiel zeigt, dass auch in den wenigen Fällen, in denen man explizite Vorschriften über die Verfassungsinterpretation findet, diese wahrscheinlich unvollständig sind. Eine Verfassung kann ihre eigene Auslegung nicht vollständig regeln: Einerseits sind schon aus Platzgründen Verfassungen keine Auslegungsratgeber, andererseits sind auch kodifizierte Auslegungsregeln selbst interpretationsbedürftig.[50] Kodifizierte Auslegungsregeln sind deshalb immer nur als Korrekturen oder Ergänzungen der ungeschriebenen Auslegungsregeln zu verstehen. Eine umfassende Anleitung zur Auslegung kann man nur von der Rechtswissenschaft (und in einem begrenzten Maß von den Gerichten) erwarten. Aber warum braucht es eine solche Anleitung überhaupt? Die Notwendigkeit eines Methodenkanons steht im Zusammenhang mit der Verantwortlichkeit der Richterinnen und Richter. Ein methodischer Standard ist eine Möglichkeit, richterliche Macht auf eine „sanfte“ Weise (d.h. ohne die richterliche Unabhängigkeit zu verletzen) zu kontrollieren, indem ein methodischer Maßstab gesetzt wird und die Gleichmäßigkeit der Argumentation über die Einzelfälle hinweg („Methodengleichheit“) von der professional community erwartet wird. Wissenschaftliche Methodenkritik kann bei denjenigen Richterinnen und Richtern besonders wirksam sein, die selbst aus der Rechtswissenschaft kommen. Außer der wissenschaftlichen Kritik ist die Mindermeinung der anderen Richter desselben Gerichts eine andere Möglichkeit, die richterliche Macht (von innen) zu kontrollieren.

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Interpretation beinhaltet auch subjektive Faktoren (oder, um es vorsichtiger zu formulieren, Fragen, die mit dogmatischen Mitteln nicht objektiv entschieden werden können, da diese nicht eindeutig zu beantworten sind). Wäre dies nicht der Fall, könnte die Rechtsinterpretation wie ein mathematisches oder logisches Problem berechnet werden, wobei es nur eine richtige Interpretation für jeden Fall geben würde.[51] Sehr oft gibt es aber keine „einzig richtige Lösung“, nur bessere oder schlechtere Lösungen.[52] Deshalb sind Sondervoten an zahlreichen Gerichtshöfen der Welt (auch an Verfassungsgerichten) zugelassen. Ein Sondervotum bedeutet nicht (oder zumindest nicht notwendigerweise), dass eine Richterin oder ein Richter einen Fehler gemacht hat, handwerkliche Schwächen oder eine „falsche“ Interpretation gewählt hat (obwohl dies auch geschehen kann). Eine Mehrheitsmeinung bedeutet meistens nur, dass die Mehrheit am Gericht eine andere Interpretation für überzeugender hielt.

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Die Einführung von Sondervoten in Verfassungsgerichten ist eine institutionelle Bestätigung der Tatsache, dass Auslegungsfragen oft nicht eindeutig und die (Verfassungs-)Richter nicht einfach „la bouche de la Constitution“ sind.[53] Ferner fördert diese Institution die Qualität der Argumentation. Denn diejenigen, die eine parallele oder abweichende Meinung verfassen, müssen erklären, warum sie nicht mit der Mehrheit einverstanden sind. Diejenigen wiederum, die die Mehrheitsmeinung unterzeichnen, finden sich in der manchmal sicherlich unangenehmen Situation, dass ihre Argumente in aller Öffentlichkeit kritisiert werden. Natürlich gibt es Beispiele, in denen die Mehrheitsmeinung keine Irritation zeigt, allerdings ist es unzweifelhaft, dass Sondervoten einen stimulierenden Einfluss auf die Qualität der verfassungsrechtlichen Argumentation haben.[54]

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Die unvermeidlichen subjektiven Faktoren müssen so weit wie möglich minimiert werden. Eine völlige Elimination ist jedoch unmöglich und wegen der Unvorhersehbarkeit der künftigen Problemkonstellationen möglicherweise sogar unerwünscht.[55] Demnach muss der Text (durch Interpretationsmethoden) „massiert“ werden, damit sich die Lösung des zu entscheidenden Falls daraus ergibt. Zwar ist eine vollständige Eliminierung der subjektiven Faktoren nicht möglich,[56] die Entscheidung muss aber letztendlich auf den Text zurückgeführt und mit Argumenten unterstützt werden können.

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Der Grund dafür ist die stärkere Legitimität des Textes, wenigstens in den Kulturen, die die Rechtsstaatlichkeit anerkennen, als die richterliche Legitimität. Ein Schritt zur Minimierung der subjektiven Faktoren ist die Aufklärung über die Methoden (oder eher den Kanon) der Rechts- (Gesetzes- oder Verfassungs-)Interpretation.[57] Im Folgenden wird versucht, solch eine Übersicht zu geben, jedoch versehen mit der Bemerkung, dass die Anerkennung spezifischer Methoden von Rechtssystem zu Rechtssystem unterschiedlich ist.[58] Das Problem der Landesspezifizität wird in den späteren Teilen dieses Beitrags besprochen.

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Zunächst wird ein Schema der einzelnen Auslegungsmethoden vorgestellt. Es gilt als ein allgemeiner Begriffsrahmen, der einerseits beim Verstehen der Probleme der Verfassungsauslegung durch Beispiele hilft und allgemeine theoretische Charakterzüge zeigt, andererseits aber auch bei der Beschreibung der verschiedenen Argumentationsstilarten in den späteren Teilen dieses Beitrags gebraucht werden kann.[59]

1. Wortlautinterpretation

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Diese Methode konzentriert sich einerseits entweder auf die alltägliche Bedeutung (sens courant) des Textes[60] oder auf das technisch-juristische Verständnis, andererseits auf grammatikalische (oder orthographische) Regeln.[61] Der diese Methode bevorzugende Ansatz wird in der angelsächsischen Literatur als textualist bezeichnet.[62] So wird die Wortlautinterpretation oft gebraucht, wenn ein Verfassungsgericht eine Frage entscheiden möchte, ohne weitere Methoden heranzuziehen.[63] Im Vereinigten Königreich heißt die Regel, die diese Methode vorschreibt, literal rule, in den Vereinigten Staaten plain meaning rule. Eine Spezialform dieser Methode ist es, wenn Normtexte nicht auf Basis der (gegenwärtigen) alltäglichen Bedeutung interpretiert werden, sondern auf Basis der im Zeitpunkt ihrer Erlassung gängigen Bedeutung, als die einschlägigen Worte in die Verfassung eingefügt worden sind.[64] Im amerikanischen Verfassungsrecht bezeichnet man das als original meaning.[65]

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Die Wortlautinterpretation setzt voraus, dass die Normen (in unserem Fall: die Verfassungsbestimmungen) ohne Fehler, in voller Kenntnis aller grammatischen Regeln und Bedeutungen der Wörter, präzise und verständlich formuliert wurden.[66] Aber selbst wenn diese Voraussetzungen vorliegen – was nicht immer der Fall ist –, führt die Wortlautinterpretation nicht immer zu einem eindeutigen Ergebnis.[67] Dies liegt an der Unbestimmtheit der natürlichen Sprachen, aber auch daran, dass bestimmte Fragen bewusst offen gehalten werden[68] oder dass neue Probleme auftreten, die der Verfassunggeber nicht vorhersehen konnte – etwa technische Entwicklungen.

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Ein besonderes Problem entsteht dort, wo der Verfassungstext in mehreren Amtssprachen veröffentlicht wird. Eine naheliegende Lösung solcher Situationen ist es, einer der Sprachen den Vorrang vor der oder den anderen Amtssprachen zu geben. In Art. 25 Abs. 4 Z. 6 der irischen Verfassung heißt es etwa: Im Fall eines Konflikts zwischen der englischen und der irischen Version eines Gesetzes, einschließlich der Gesetze, die die Verfassung ändern, soll die irische Version den Vorrang haben. Die andere Lösung ist die der EU, wo alle Sprachfassungen der Gründungsverträge sowie weiterer Rechtsakte als gleichrangig betrachtet werden – obwohl es in der Praxis schwierig sein kann, diese Regel einzuhalten.[69]

2. Systematische Argumente: Argumente aus dem rechtlichen Kontext

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Diese Argumente konzentrieren sich nicht auf den Text einer Rechtsbestimmung an sich, sondern weisen auf andere Bestimmungen desselben Rechtsaktes, andere Rechtsakte, richterliche Entscheidungen, Prinzipien und allgemeine Rechtsbegriffe hin, um die Bedeutung eines Textes zu bestimmen. Eine bestimmte Lösung kann auch gerade mit Hinweis auf den Mangel einer expliziten Norm (mit Hilfe von sprachlich-logischen Formeln) begründet werden. Gemeinsam haben diese Argumente ihre Verankerung im rechtlichen Kontext. Diese Argumente setzen auf den systematischen (widerspruchslosen und flächendeckenden) Charakter des Rechts.

a) Harmonisierende Argumente

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Harmonisierende Argumente streiten für eine bestimmte Interpretation mit Hinweis auf andere Rechtsvorschriften.[70] Solche Rechtsvorschriften können demselben Rechtsakt entstammen (etwa der Verfassung, z.B. einer Legaldefinition in einer anderen Verfassungsbestimmung oder der Präambel)[71] oder einem anderen Rechtsakt mit Verfassungsrang (vgl. das amerikanische Prinzip in pari materia).[72] Harmonisierende Argumente können sich auch auf eine verfassungsrechtliche Norm höheren Ranges beziehen (z.B. die Interpretation von Verfassungsbestimmungen im Lichte einer Ewigkeitsklausel oder eines grundlegenden Verfassungsprinzips, das sich schwieriger ändern lässt als einfaches Verfassungsrecht).[73] Auch Normen einer anderen Rechtsordnung, die Pflichten für die eigene Rechtsordnung festlegen, wie z.B. die Interpretation einer nationalen Verfassungsbestimmung im Lichte des EU-Rechts oder des Völkerrechts[74], können eine harmonisierende Auslegung tragen.

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Bei Aufzählungen gebraucht man in englischsprachigen Ländern Grundsätze wie noscitur a sociis („das unbekannte [Wort] erkennt man an den Gesellen“) und eiusdem generis („desselben Genus“). Ein übliches Beispiel für die genannten zwei Auslegungsprinzipien ist folgendes: Wenn ein Gesetzestext „Lastkraftwagen, Personenkraftwagen, Motorräder und andere Verkehrsmittel“ erwähnt, dann sind z.B. Fahrräder nicht als Verkehrsmittel zu verstehen, da diese keinen Motor haben. Die zwei Auslegungsmaximen sind ähnlich, die zweite ist ein Untertyp der ersten, in dem das in Frage stehende Wort allgemeiner ist als die anderen in der Liste. Dazu gehört noch das Prinzip exceptio est strictissimae interpretationis,[75] also die strikte Interpretation der Ausnahmen.[76]

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Besondere harmonisierende Argumente des deutschen Verfassungsrechts sind das Prinzip der Einheit der Verfassung (Einzelbestimmungen sollen in Übereinstimmung mit den anderen Bestimmungen der Verfassung interpretiert werden)[77] und das Prinzip der praktischen Konkordanz (Konflikte auf der Ebene von Rechtsprinzipien sollen durch Ausgleich und nicht durch den absoluten Vorrang eines Prinzips gelöst werden).[78] Derselbe Gedanke erscheint auch in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts in der Entscheidung 1/2013:[79]

„Die Verfassung ist auf Prinzipien gegründet, die eng miteinander verbunden sind und die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Verfassungsgerichtliche Kontrolle muss also unter Berücksichtigung des gesamten Verfassungssystems und nicht nur unter Berücksichtigung isolierter Bestimmungen erfolgen. Eine isolierte Interpretation von Rechtsvorschriften – seien es Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen – läuft Gefahr, zu Paradoxien zu führen, die letztlich dem eigentlichen Ziel der Vorschriften, die Verfassung zu schützen, widersprechen würden.“

 

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In der amerikanischen Rechtswissenschaft gebrauchen die Befürworter der holistic interpretation eine Version dieses Arguments, indem sie davon ausgehen, dass bei der Interpretation der Verfassung die späteren Änderungen ein größeres Gewicht haben als die früheren, denn ältere Teile sollen im Lichte der neueren interpretiert werden und nicht vice versa.[80]

52

Eine historische Version eines harmonisierenden Arguments ist die Versteinerungstheorie im österreichischen Verfassungsrecht. Nach dieser Theorie sollen die Worte, die die bundesstaatliche Kompetenzverteilung regeln, in dem Sinn interpretiert werden, den sie in der Zeit hatten (in den damals geltenden einfachen Gesetzen), als sie in den Verfassungstext aufgenommen worden sind.[81] Spätere Änderungen der Gesetzesdefinitionen (oder anderer rangniedrigerer Normen) sind nicht relevant für die Auslegung.[82] Eine Besonderheit dieses Arguments ist, dass hier niederrangige Normen (in ihrer damaligen Fassung) zur Interpretation höherrangiger Normen benutzt werden – in diesem Sinne handelt es sich um eine umgekehrte Version der verfassungskonformen Auslegung niederrangiger Normen.

53

Ein Spezialfall eines harmonisierenden Arguments bezieht sich auf die systematische Stellung einer Norm in der Verfassung.[83] So kann zum Beispiel einer Bestimmung, die einem Grundrecht ähnelt, der Grundrechtscharakter abgesprochen werden, da sie nicht im Grundrechtskapitel der Verfassung enthalten ist.