Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Bibliographie

Alexander Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992.

Francisco Fernández Segado, La justicia constitucional – una visión de derecho comparado (3 Bände), 2009.

Eduardo Ferrer-MacGregor (Hg.), Derecho procesal constitucional (4 Bände), 2006.

Michel Fromont, La diversité de la justice constitutionnelle en Europe, in: Michele Borgetto (Hg.), Mélanges Philippe Ardant – Droit et politique à la croisée des cultures, 1999, 47-59.

Michel Fromont, Justice constitutionnelle comparée, 2013.

Rainer Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010.

Andrew Harding/Peter Leyland (Hg.), Constitutional courts – a comparative study, 2009.

Ragnhildur Helgadóttir, The Influence of American Theories on Judicial Review in Nordic Constitutional law, 2006.

Marcel Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007.

Maartje de Visser, Constitutional Review in Europe – A Comparative Analysis, 2015.

András Jakab

§ 114 Verfassungsgerichtliche Argumentation im europäischen Rechtsraum

I. Einleitung1 – 3

II. Verfassungsgerichtliche Argumentation im Allgemeinen4 – 18

1. Verfassungs- vs. Gesetzesauslegung10 – 16

2. Struktur der Argumente17, 18

III. Nichtinterpretative Argumente19 – 32

1. Analogien21 – 28

2. Argumente über die Geltung des Verfassungstexts29

3. Argumente über die Anwendung oder Nicht-Anwendung des Verfassungstexts30 – 32

IV. Interpretative Argumente (Auslegungsmethoden)33 – 107

1. Wortlautinterpretation44 – 46

2. Systematische Argumente: Argumente aus dem rechtlichen Kontext47 – 70

a) Harmonisierende Argumente48 – 53

b) Hinweis auf die Verfassung interpretierende Gerichtsentscheidungen54 – 63

c) Verfassungsinterpretation im Lichte ungeschriebener Grundprinzipien oder Grundbegriffe64, 65

d) Auf Stillschweigen gegründete sprachlich-logische Formeln66 – 70

3. Wertende Argumente71 – 90

a) Der Zweck der Norm (objektiv-teleologische Auslegung)72 – 79

b) Die historische Intention des Verfassunggebers (subjektiv-teleologische Argumente)80 – 86

c) Nichtrechtliche (moralische, ökonomische) Argumente87 – 90

4. Inspirative Argumente91 – 97

a) Hinweise auf die Rechtswissenschaft92, 93

b) Rechtsvergleichende Argumente94 – 97

5. Das Verhältnis zwischen den Methoden98 – 107

V. Das spezifische Begriffssystem des jeweiligen Verfassungsrechts als Charakteristikum der verfassungsgerichtlichen Argumentation108 – 113

VI. Allgemeine Popularität einzelner Argumente und globale Tendenzen – die tatsächliche Argumentationspraxis der Verfassungsgerichte114 – 132

1. Allgemeine Popularität einzelner Argumente115 – 117

2. Globale Tendenzen118 – 120

3. Tatsächliche Praxis rechtsvergleichender Argumente an Verfassungsgerichten121 – 132

VII. Nationale Besonderheiten einiger verfassungsgerichtlicher Argumentationsstile133 – 152

1. Österreich und Deutschland: Schwerpunkt Verfassungsdogmatik134 – 141

2. Frankreich und das Vereinigte Königreich: Die begrenzte Verfassungsgerichtsbarkeit bringt eine begrenzte Begriffsverfeinerung142 – 148

3. Ungarn und Spanien: Nach der Diktatur folgt man dem deutschen Vorbild149 – 152

VIII. Gibt es einen europäischen Stil der verfassungsgerichtlichen Argumentation?153 – 158

Bibliographie

Allgemeine Hinweise


Abkürzungen:
AB. Alkotmánybíróság (ungarisches Verfassungsgericht)
ABH Alkotmánybíróság határozatai (Entscheidungen des ungarischen Verfassungsgerichts)
BVerfG Deutsches Bundesverfassungsgericht
BVerfGE Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
EuGH Europäischer Gerichtshof
IAGMR Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte
itZPO italienische Zivilprozessordnung
VfGG Österreichisches Verfassungsgerichtshofgesetz
VfGH Österreichischer Verfassungsgerichtshof
VfSlg Sammlung der Erkenntnisse des österreichischen Verfassungsgerichtshofs
ZPO Zivilprozessordnung

I. Einleitung

„Am Anfang war das Wort“ Dieses Zitat aus der Heiligen Schrift steht auch an der Decke des Tempels unserer Wissenschaft. Die Arbeit der Rechtswissenschaft besteht in der Interpretation, und die Basis aller Interpretationen ist das Wort.[1]

 

1

Dieser Beitrag hat zum Ziel, die verschiedenen Arten (Stil, Methode, Form) verfassungsgerichtlicher Argumentation im europäischen Rechtsraum zu vermessen. Zu diesem Zweck wird ein Begriffsrahmen entwickelt, es werden Beispiele gezeigt, Lehrmeinungen systematisiert und best practices gesammelt.[2] Um Letztere sammeln zu können, werden neben dem Begriffsrahmen und der empirischen Analyse auch gewisse normative Erwägungen zur allgemeinen Natur der juristischen Auslegung einbezogen. Am Ende des Beitrages werden vergleichende Analysen und Trends dargestellt.

2

Eine der grundlegendsten Fragen der verfassungsgerichtlichen Interpretation besteht darin, wie es Verfassungsgerichten gelingt, einem (zumeist) kurzen Text wie einer Verfassung, durch den Gebrauch juristischer Interpretationstechniken (oder -methoden), Bedeutung zuzuweisen.[3] Teilweise mit Hilfe dieser Methoden, teilweise aber auch auf Grund textunabhängiger Vermutungen können Verfassungsgerichte sowie Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler ein Begriffssystem (eine Rechtsdogmatik oder deren spezifisch verfassungsrechtlichen Teil, die Verfassungsdogmatik) entwickeln, das wesentlich differenzierter ist als der Verfassungstext. Diese Verfassungsdogmatik ist somit ein Hilfsmittel für das Lösen zukünftiger Rechtsfälle.[4] Neben den verschiedenen Methoden ist auch diese spezifische Begrifflichkeit für die jeweilige verfassungsgerichtliche Argumentation charakteristisch.

3

Diese Untersuchung konzentriert sich auf die Praxis im europäischen Rechtsraum:[5] auf die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit sowie den EGMR und den EuGH. Nichtsdestotrotz werden nichteuropäische Erscheinungen zum Klassifizieren, Vergleichen und zum Aufzeigen allgemeiner Tendenzen herangezogen. Die Analyse wird zeigen, dass es keine spezifisch europäische verfassungsgerichtliche Argumentation gibt: Die Trends und Charakteristika, die man beobachtet, sind eher global und eine gewisse Diversität der Argumentationsstile bleibt auch innerhalb des europäischen Rechtsraums erhalten.

II. Verfassungsgerichtliche Argumentation im Allgemeinen

4

Unter dem Begriff „Verfassungsgericht“ ist in diesem Beitrag das höchste Gericht einer Rechtsordnung (wie auch immer es genannt wird) zu verstehen, das für die Einhaltung ranghöchster Normen (Verfassung oder völkerrechtlicher Vertrag) verantwortlich ist.[6] Es bedeutet nicht unbedingt, dass dieses Gericht in der jeweiligen Rechtsordnung die rangniedrigere Norm für nichtig erklären oder aufheben kann. Im Vereinigten Königreich kann zum Beispiel der Oberste Gerichtshof (Supreme Court, vorher das House of Lords) Gesetze für mit der EMRK unvereinbar erklären, ohne jedoch diese für nichtig erklären oder aufheben zu können.[7]

5

An Entscheidungen eines Verfassungsgerichts werden im Allgemeinen drei grundlegende Erwartungen herangetragen: Die Streitfrage soll entschieden werden,[8] die Entscheidung muss aus nichtrechtlichen (politischen, sozialen, moralischen oder ökonomischen) Gesichtspunkten akzeptabel sein und letztlich muss sie auch in rechtlicher Hinsicht akzeptabel sein, d.h. sie muss auf der Verfassung basieren. Für unser Thema ist das Verhältnis von nichtrechtlichen und rechtlichen Erwartungen besonders wichtig. Ein späterer Teil (siehe insb. Rn. 87 ff.) dieses Beitrags wird die Frage behandeln, wie innerhalb einer rechtlichen Argumentation auch nichtrechtliche Gesichtspunkte Beachtung finden. Eine politisch, moralisch oder ökonomisch wünschenswerte Entscheidung ist nicht ohne weiteres auch rechtlich überzeugend.[9] Rechtlich gibt es oft mehrere akzeptable Entscheidungen. Allerdings sind einige der rechtlich möglichen Entscheidungen politisch oder moralisch akzeptabler als andere. Das Problem lässt sich auf zwei verschiedene Weisen konzeptualisieren: Entweder sagt man, dass die rechtlich geeignetste Entscheidung zu finden manchmal subjektive Faktoren mit sich bringt, oder man muss sich eingestehen – wenn man mit einem positivistischeren Rechtsbegriff arbeitet, d.h. wenn man Deskription und Präskription hinsichtlich des Gesetzesinhalts strikt auseinanderhält –, dass man wegen nichtrechtlicher Faktoren manchmal die rechtlich zweitbeste Lösung wählt.[10]

6

Eine der Thesen dieses Beitrags ist, dass die soeben erwähnte Schwierigkeit und das Vorhandensein subjektiver Faktoren ein notwendiger Bestandteil der juristischen Argumentation sind.[11] Die Rechtsmethodik ist zwischen vollkommener (objektiver) Sicherheit und vollkommener (subjektiver) Willkür hinsichtlich des Ergebnisses der Auslegung zu verorten. Verfassungsrechtliche Debatten und Meinungsverschiedenheiten unter Verfassungsjuristen hinsichtlich der wichtigsten verfassungsrechtlichen Fragen könnten den Eindruck erwecken, dass der subjektive Faktor eine entscheidende Rolle in der Verfassungsauslegung spielt. Dies übersieht jedoch, dass über die meisten verfassungsrechtlichen Probleme Einigkeit herrscht. Sie werden nur nicht besprochen, denn es wäre ziemlich langweilig, sich ständig zu wiederholen. Die allgemeine, oft nur implizite und stillschweigende Meinung der professional community dient in den meisten Fragen als externer Kontrollmechanismus auch gegenüber Verfassungsgerichten. Das schützt gegen Willkür. Dieser Beitrag spiegelt die Überzeugung wider, dass man tatsächlich Objektivität anstreben kann und dass dies rechtsstaatlich und aus der Perspektive der Rechtssicherheit geboten ist. Vollkommene Objektivität[12] (wie etwa die Achse einer Hyperbel) kann jedoch niemals erreicht werden.

7

Eine bestimmte Grenze für die Interpretation wird jedoch durch die Interpretationsansichten der Gemeinschaft der Verfassungsjuristen im jeweiligen Land gezogen.[13] Diese Grenzen können vorsichtig ausgedehnt, nicht aber völlig außer Acht gelassen werden, wenn man sich nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, eine willkürliche Interpretationsansicht zu vertreten.[14]

8

Rechtsnormen im Allgemeinen und die Verfassung (wegen der Abstraktheit ihres Textes) im Besonderen ermöglichen meistens verschiedene Auslegungen.[15] Wie Neil MacCormick schreibt:[16]

„Kurz gefasst: Normen können in bestimmten Kontexten mehrdeutig sein und nur dann auf die eine oder andere Weise angewendet werden, wenn die Mehrdeutigkeit aufgelöst wurde. Die Auflösung der Mehrdeutigkeit schließt allerdings eine Wahl zwischen rivalisierenden Bedeutungen der Norm ein […] [N]ach dieser Wahl folgt eine einfache deduktive Begründung der Entscheidung im Einzelfall. Eine vollständige Begründung dieser Entscheidung muss dann aber davon abhängen, wie die Wahl zwischen den konkurrierenden Bedeutungen der Norm begründet wird.“

9

Nach europäischen Rechtstraditionen muss jede Wahl zwischen diesen Möglichkeiten gerechtfertigt und die Entscheidung begründet werden.[17] Die Begründung muss einerseits eine (rationale) Rechtfertigung der gewählten Lösung bieten, andererseits aber – und teilweise damit überlappend – muss sie das Publikum rational sowie emotional überzeugen,[18] manchmal hat sie sogar eine didaktische Funktion.[19] Im Fall der verfassungsrechtlichen Argumentation umfasst das Publikum idealerweise die ganze politische Gemeinschaft (also alle Bürgerinnen und Bürger), praktisch ist es aber auf Grund der speziellen Kenntnisse, die man braucht, um solche Argumente verstehen zu können, auf diejenigen begrenzt, die verfassungsrechtlich gebildet sind. Die Begründung ist also im Wesentlichen an diese Gruppe gerichtet: Der Entscheider (das Verfassungsgericht) möchte seinem Publikum (besonders Politik und Verfassungsrechtswissenschaft) zeigen, dass die Entscheidung nicht willkürlich (oder, horribile dictu, parteipolitisch motiviert) war.

1. Verfassungs- vs. Gesetzesauslegung

10

Ob Verfassungsauslegung qualitativ anders ist als Gesetzesauslegung oder eben nur einen Spezialfall der letzteren darstellt, ist Gegenstand einer lang anhaltenden Debatte. In diesem Beitrag wird die Verfassungsauslegung als ein Unterfall der Gesetzesauslegung behandelt. Im Allgemeinen gibt es zwei Arten von Argumenten für eine sehr deutliche Unterscheidung: Zum einen, dass Verfassungsnormen als „politisches Recht“ von anderen, nicht verfassungsrechtlichen Normen zu unterscheiden seien. Zum anderen wird betont, dass Verfassungsnormen abstrakter und/oder wertgeladener als Gesetzesnormen seien.[20]

11

Das erste Argument ist aus rechtsstaatlicher Perspektive problematisch.[21] Der Hinweis auf die „politische“ Natur der Verfassung, um die überkommenen Methoden der Gesetzesauslegung nicht anzuwenden, kann dazu führen, gewisse Formen politischen Handelns gerichtlicher Kontrolle zu entziehen oder eine Interpretation der Verfassung zu begründen, die durch keine herkömmliche Auslegungsmethode gerechtfertigt werden kann. Zudem können auch einfache Gesetze einen „politischen“ Charakter haben.

12

Auch der Hinweis auf die unterschiedliche Natur der Normen überzeugt nicht. Generalklauseln der Zivilgesetzbücher können ähnlich abstrakt und/oder wertgeladen wie die Grundrechtsbestimmungen von Verfassungen sein. Zudem enthalten Verfassungen auch sehr konkrete (z.B. verfahrensrechtliche) Bestimmungen. Verfassungen enthalten ohne Frage einen größeren Anteil abstrakter Bestimmungen, aber das bedeutet nur, dass bestimmte Interpretationsmethoden vor Verfassungsgerichten öfter zur Anwendung kommen als vor ordentlichen Gerichten.

13

Die große Menge an Literatur über die Verfassungsauslegung (mehr als über alle anderen Normen einer Rechtsordnung, wie z.B. die Normen der Zivil- oder Strafgesetzbücher)[22] ist auf die soziale und politische Signifikanz von Verfassungen und nicht auf eine andere Rechtsnatur zurückzuführen. Bei der Verfassungsauslegung steht viel auf dem Spiel. Verfassungsinterpretation beeinflusst die institutionelle Struktur der Gesellschaft und die Verteilung politischer Macht. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber die verfassungsgerichtliche Auslegung nicht so einfach korrigieren wie im Fall einfacher Gesetze.

 

14

Die Betonung einer grundsätzlichen Andersartigkeit der Verfassungsauslegung scheint deshalb problematische Mythenbildungen zu fördern, die die Verfassungsgerichtsbarkeit außerhalb der traditionellen Kontrolle der Verfassungsdogmatik platzieren. Die Betonung der Andersartigkeit kann insbesondere als ein rhetorisches Mittel gesehen werden, um die Verfassungsinterpretation zu mystifizieren und damit die Rolle der Interpreten zu stärken. Es kann auch zu verminderter Kontrolle führen, die es erlaubt, spezifische moralische oder politische Präferenzen als Ergebnis einer speziellen, aufgrund der Natur der Verfassung notwendigen Interpretationsweise darzustellen.

15

Die Methoden der Verfassungsauslegung unterscheiden sich demnach nicht von den Methoden der Gesetzesauslegung. Unterschiede finden sich nur in der Bedeutung der einzelnen Methoden und der Häufigkeit ihrer Nutzung. Solche graduellen Unterschiede erklären sich aus dem Umstand, dass Verfassungen schwerer abzuändern sind und die Gerichte sie deshalb öfter auf eine kreative Weise interpretieren müssen, um sie an neue Herausforderungen anzupassen. Auch die durchschnittliche Abstraktheit einer Verfassungsbestimmung ist höher als die einer Gesetzesvorschrift, was wiederum auf eine größere Wahrscheinlichkeit der kreativen (d.h. nicht wortwörtlichen) Interpretation hinweist. Aber auch dieser Unterschied ist nur graduell.

16

In einigen Rechtsordnungen ist ein klarer Unterschied zwischen den Argumentationsstilen der ordentlichen Gerichte und des Verfassungsgerichts zu erkennen. Die Erklärung ist überwiegend in den verschiedenen positivrechtlichen Regeln über die Formulierung der Entscheidungen zu suchen, z.B. ob abweichende Meinungen gestattet sind oder nicht. Es ist auch üblich, dass der Anteil an Professorinnen und Professoren oder ehemaligen Politikerinnen und Politikern unter den Verfassungsrichtern am höchsten ist. Das beeinflusst die typische Wahl der Argumente, beispielsweise ob Argumente der öffentlichen Moral oder der Rechtswissenschaft gebraucht werden, stark. In einigen Verfassungsgerichten erhöhen die Regeln zur Klagebefugnis, z.B. bei individuellen Grundrechtsverletzungen, die Wahrscheinlichkeit, dass der Anteil an Grundrechtsfällen hoch ist und deshalb die herkömmlichen grundrechtlichen Argumente, wie z.B. die Verhältnismäßigkeit, auch öfter auftreten. Umgekehrt kann eine andere verfahrensrechtliche Ausgestaltung, wie z.B. eine actio popularis, bei der keine eigene Grundrechtsverletzung gerügt werden muss, sondern Anträge auch mit Hilfe von allgemeinen Grundsätzen, wie beispielsweise Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie begründet werden können,[23] diesen Effekt wieder verringern.

2. Struktur der Argumente

17

Es gibt drei Haupttypen von rechtlichen Argumentationsstrukturen: (a) die Anwendung eines ausschlaggebenden Arguments (oder einer Kette von aufeinander folgenden Argumenten); (b) kumulativ-parallele Argumente (mehrere Argumente unterstützen unabhängig voneinander eine bestimmte Interpretation; jedes Argument würde auch alleine reichen, es gibt aber mehrere);[24] (c) die Erwähnung verschiedener relevanter Faktoren, die in sich nicht entscheidend sind, die Gewichtung der einzelnen Faktoren bleibt unklar, aber zusammengenommen ergeben sie eine bestimmte Lösung (diskursiver oder dialogischer Stil; Gebrauch von topoi).[25] Am transparentesten ist (a), am wenigsten transparent (c); es hängt von der jeweiligen nationalen Rechtskultur ab, welche Strukturen bevorzugt werden.[26]

18

Die rechtliche Argumentation hat meistens eine enthymematische Struktur, d.h. nicht alle Schritte werden erläutert, sondern einige nur angedeutet, oder sie basieren auf impliziten Prämissen.[27] In Gerichtsentscheidungen findet man demnach notwendigerweise nur eine Skizze oder Abkürzung aller Argumente: Nur diejenigen Argumente, die umstritten sind, werden analysiert.

III. Nichtinterpretative Argumente

19

An dieser Stelle scheint es angezeigt, das Verhältnis zwischen den Begriffen „Auslegung“ und „Argumentation“ in diesem Beitrag zu klären. „Auslegung“ (im hier verwendeten Sinn) bedeutet die Feststellung des Inhalts eines normativen Textes. Diese Inhaltszuweisung kann mit Hilfe von Argumenten begründet (oder bekämpft) werden. Was man also traditionell eine „Auslegungsmethode“ nennt, ist eigentlich eine Art von Argument, das bei der Auslegung des Textes gebraucht wird.

20

Argumentation ist ein weiterer Begriff: Er beinhaltet auch nichtinterpretative Argumente: Analogien (1.), Argumente über die Geltung des Verfassungstextes (2.) und Argumente darüber, warum der gültige Verfassungstext angewendet oder nicht angewendet werden sollte (3.).