Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

bb) Deutschland: das Organstreitverfahren als Instrument des politischen Minderheitenschutzes

54

In Deutschland gehören nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zu den möglichen Parteien eines Organstreits die obersten Bundesorgane und die „sonstigen Beteiligten“, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. § 63 BVerfGG konkretisiert den Begriff des obersten Bundesorgans dahingehend, dass dazu nur der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung zählen, d.h. die obersten politischen Organe. Anders als etwa in Italien und Österreich wird damit den Organen der Rechtsprechung mit dem BVerfGG an der Spitze der Zugang zum verfassungsgerichtlichen Verfahren mit dem Ziel der verbindlichen Klärung ihrer verfassungsmäßigen Rechte generell verwehrt. Es ist allerdings umstritten, ob die in der Einengung des Kreises der beteiligungsfähigen Organe auf die obersten politischen Organe in § 63 BVerfGG liegende Verkürzung der in Art. 93 Abs. 1 gebrauchten Formulierung, die ausdrücklich von „anderen Beteiligten, die durch dieses Grundgesetz […] mit eigenen Rechten ausgestattet sind“ spricht, verfassungskonform ist.[97] In der Praxis sind jedenfalls Organe der rechtsprechenden Gewalt in verfassungsgerichtlichen Organstreitverfahren nie als Partei aufgetreten.

55

Dagegen geht das Grundgesetz insoweit über andere Verfassungen hinaus, als nicht nur die obersten Bundesorgane, sondern auch die im Grundgesetz oder in den Geschäftsorganen der obersten Bundesorgane ausgestatteten Teile dieser Organe Antragsteller und Antragsgegner im Organstreitverfahren sein können. Das BVerfG zählt zu diesen „Organteilen“ in ständiger Rechtsprechung insbesondere die Parlamentsfraktionen.[98] Die einzelnen Abgeordneten sind hingegen „sonstige Beteiligte“, die ihren verfassungskräftig garantierten Abgeordnetenstatus ebenfalls mit der Organklage verteidigen können.[99] Der Anwendungsbereich des Organstreits wird ferner dadurch erweitert, dass den „Organteilen“ nicht nur die Geltendmachung eigener Rechte, sondern darüber hinaus auch die prozessstandschaftliche Geltendmachung der Rechte des Organs, dem sie angehören, zugestanden wird (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Die Oppositionsfraktionen können also Rechte des Parlaments notfalls gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit im Organstreitverfahren gegen Übergriffe der Regierung verteidigen.[100]

56

Im Vergleich zu anderen Ländern mit einer eigenen Regelung des Organstreitverfahrens wie Polen oder Spanien zeichnet sich die Anwendung dieses Verfahrens durch das BVerfG durch eine ausgesprochen „politische“ Lesart des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und der einschlägigen Bestimmungen des BVerfGG aus. Die im Vergleich zu diesen Ländern weite Auslegung des Organbegriffs zwecks Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit ermöglicht auch den Mitgliedern der gewählten Volksvertretung, die aus ihrem Status als Abgeordnete fließenden Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte vor dem Verfassungsgericht zu verteidigen. Ohne Parallele im europäischen Rechtsraum ist die Anerkennung der Prozessstandschaft im Organstreit, die es gerade den Oppositionsfraktionen ermöglicht, Rechte des Parlaments als Ganzes notfalls auch gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit gegenüber der Regierung verfassungsgerichtlich geltend zu machen. Ausdrücklich beruft sich das BVerfG dabei auf die „Wirklichkeit des politischen Kräftespiels“, in der sich Gewaltenteilung nicht so sehr in der klassischen Gegenüberstellung der geschlossenen Gewaltträger, sondern in erster Linie in der Einrichtung von Oppositions- und Minderheitenrechten verwirkliche. Daher müsse der Parlamentsopposition und -minderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Bundestages nicht nur dann möglich sein, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen wolle, sondern auch dann, wenn die Parlamentsminderheit Rechte des Bundestages gegen die die Bundesregierung politisch stützende Parlamentsmehrheit geltend machen wolle.[101]

57

Vor dieser Konsequenz scheuen indes die meisten Verfassungsordnungen zurück, sei es aus Respekt vor der Parlamentsautonomie, sei es aus Sorge vor der mit der Zuweisung hochpolitischer Streitigkeiten verbundenen Belastungsprobe für die Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Ausklammerung der pluralistisch strukturierten Binnenbeziehungen der politischen Kollegialorgane ist indes eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs des verfassungsrechtlichen Organstreits verbunden, zumal gerade in parlamentarischen Regierungssystemen Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit regelmäßig im Wege des politischen Dialogs beigelegt werden. So ist dann auch ein Organstreitverfahren, das auf dem klassischen Gegensatz zwischen Exekutive und Legislative aufbaut, in parlamentarischen Systemen wie Spanien nicht zufällig eine Seltenheit.[102] In Präsidialsystemen und parlamentarisch-präsidentiellen „Mischsystemen“, in denen Exekutive und Legislative nicht lediglich institutionell voneinander getrennt sind, sondern auch jeweils über eine selbstständige demokratische Legitimation verfügen, sind hingegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Staatsorganen über den jeweiligen Umfang der wechselseitigen Befugnisse denkbar, die nicht auf politischem Wege beigelegt werden können und ein sachliches Bedürfnis nach verfassungsgerichtlicher Klärung begründen. So sind in Polen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen zwar rar, kommen jedoch gerade in politisch brisanten Konflikten durchaus vor.[103]

3. Nicht-kontradiktorische Formen der Klärung von Organkompetenzen

58

Wie eingangs (siehe oben Rn. 40 ff.) erwähnt, werden Kompetenzkonflikte zwischen den obersten politischen Staatsorganen häufig nicht in einem eigens für den Zweck der kontradiktorischen Austragung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen konzipierten Verfahren, sondern in einer anderen verfassungsgerichtlichen Verfahrensart ausgetragen. So werden in Ungarn Meinungsverschiedenheiten über den Umfang der verfassungsmäßigen Befugnisse der obersten Staatsorgane, insbesondere des Staatspräsidenten und des Parlaments, meist im Gewande der (präventiven) Normenkontrolle oder im Verfahren der abstrakten Verfassungsauslegung auf Antrag eines der höchsten Staatsorgane – also gerade nicht im kontradiktorischen Verfahren – verhandelt und entschieden.[104]

59

Noch extremer ist die Situation in Frankreich. Die französische Verfassung kennt keine allgemeine Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Entscheidung von Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Staatsorganen über den Umfang und die Wahrnehmung der ihnen nach der Verfassung zustehenden Kompetenzen, obwohl mit Recht festgestellt worden ist, dass es sich bei der Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Staatsorganen um die wichtigste Aufgabe handele, die dem Conseil constitutionnel durch die Verfassung von 1958 übertragen wurde.[105] Diese Aufgabe nimmt der Conseil indes nicht in einem, sondern gleich in mehreren Kontroll- und Beanstandungsverfahren wahr, deren Wichtigstes die – atypisch weit gefasste – präventive Normenkontrolle ist. Wie bereits gezeigt (siehe oben Rn. 19 ff.), ging es bei der präventiven Normenkontrolle ursprünglich vor allem darum, die Einhaltung der dem Parlament durch die Verfassung gezogenen kompetenziellen und prozeduralen Schranken für die Ausübung der Gesetzgebungsfunktion zu überwachen. Die Kontrolle ist nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch, wenn es um die Verabschiedung von Organgesetzen geht. Im Hinblick auf den Zweck der präventiven Normenkontrolle, die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Kompetenzordnung durch die Legislative sicherzustellen, ist dies durchaus folgerichtig, denn bei den Organgesetzen handelt es sich um Gesetze, welche die Einzelheiten der Bildung, Organisation und Arbeitsweise der in der Verfassung vorgesehenen staatlichen Organe regeln. Hier besteht daher ein besonders hohes Risiko, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeiten der staatlichen Organe in einer mit der Verfassung nicht vereinbaren Weise definiert und konkretisiert.

60

Die Einrichtung einer – im internationalen Vergleich ganz unüblichen – obligatorischen Präventivkontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den Conseil constitutionnel verdankt sich ganz ähnlichen Erwägungen: der Befürchtung, dass die Kammern sich andernfalls die ihnen durch die Verfassung bewusst vorenthaltenen Kompetenzen insbesondere auf dem Gebiet der Kontrolle der Regierung durch eine weite Definition ihrer entsprechenden Befugnisse in den Geschäftsordnungen zurückholen würden. Tatsächlich hat der Conseil constitutionnel durch seine Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsverordnungen von Nationalversammlung und Senat erheblich dazu beigetragen, dass die Parlamentspraxis die von der Verfassung vorgezeichneten Bahnen des „rationalisierten Parlamentarismus“ nicht verlässt.[106]

61

Weitere Zuständigkeiten des Conseil constitutionnel, die sich auf den Schutz der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zwischen Regierung und Parlament beziehen, sind im Zusammenhang mit der Regelung der Normsetzungsbefugnisse vorgesehen. Die Verfassung räumt der Regierung nicht nur ausgedehnte Interventionsmöglichkeiten im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess ein, sie billigt ihr darüber hinaus die Befugnis zu eigener, „autonomer“ Rechtsetzung zu. Die Ausübung der parlamentarischen Gesetzgebungsbefugnis ist grundsätzlich auf die in Art. 34 der Verfassung enumerativ aufgezählten Vorbehaltsmaterien beschränkt; die Gegenstände, die nicht zu dem durch diese Bestimmung abgegrenzten Gesetzesbereich (domaine de la loi) gehören, können von der Regierung auf dem Verordnungsweg geregelt werden (Art. 37 Abs. 1 französische Verfassung). Gelangt die Regierung während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zu der Überzeugung, dass ein parlamentarischer Gesetzentwurf oder Änderungsantrag keine der Materien betrifft, die kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anordnung der Gesetzgebungszuständigkeit des Parlaments unterliegen, kann sie der Gesetzesinitiative bzw. dem Änderungsantrag den Einwand der Unzulässigkeit entgegenhalten. Kommt es hierüber zu einer Meinungsverschiedenheit mit dem Präsidenten der betreffenden Kammer, so kann jeder der beiden Beteiligten die Entscheidung des Conseil constitutionnel beantragen (Art. 41 französische Verfassung).[107] Aufgrund seiner kontradiktorischen Natur handelt es sich dabei um dasjenige verfassungsgerichtliche Verfahren, das einem Verfassungsorganstreit im deutschen Sinne am nächsten kommt.

 

62

Die Regierung kann darüber hinaus beim Verfassungsrat die Feststellung beantragen, dass ein bereits verabschiedetes und in Kraft getretenes Gesetz außerhalb des parlamentarischen Vorbehaltsbereichs ergangen ist, also materiellen Verordnungscharakter aufweist. Diese Feststellung („Delegalisierung“) ist Voraussetzung für die Abänderung des Gesetzestextes auf dem Verordnungsweg (Art. 37 Abs. 2 französische Verfassung). Schließlich hat die Verfassungsreform von 2008 die Möglichkeit zur Einschaltung des Verfassungsrats geschaffen, wenn das Präsidium der mit einer Gesetzesvorlage befassten Parlamentskammer der Auffassung ist, dass die Regierung bei der Einbringung der Vorlage ihren mittlerweile durch Organgesetz geregelten Informationspflichten gegenüber dem Parlament nicht ausreichend nachgekommen ist: lässt sich über diesen Punkt zwischen dem Präsidium und der Regierung keine Einigkeit erzielen, kann jede der beiden Seiten den Conseil constitutionnel anrufen.[108]

63

Die vom Conseil constitutionnel ausgeübte Kontrolle über die Kompetenzverteilung zwischen den obersten Staatsorganen ist freilich nicht umfassend. Sie konzentriert sich entsprechend der auf die Einhegung parlamentarischer Allmacht bedachten Grundkonzeption der Verfassung auf mögliche Verletzungen der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung durch Akte und Maßnahmen des Parlaments (Gesetze, Geschäftsordnungen). Demgegenüber unterliegen die möglichen Beeinträchtigungen der Kompetenzen des Parlaments durch Entscheidungen und Maßnahmen von Regierung und Staatspräsident als solche nicht der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel.[109]

4. Gegenstand des Organstreitverfahrens

64

Die praktische Bedeutung des Organ- bzw. Kompetenzstreits hängt davon ab, welche Maßnahmen und Unterlassungen dem Verfassungsgericht im Rahmen dieses Verfahrens zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit unterbreitet werden können. Nicht wenige Verfassungsgerichtsgesetze folgen insoweit einem restriktiven Modell des Kompetenzkonflikts und beschränken das Gericht auf die Klärung der Frage, welchem der am Verfahren beteiligten Organe die streitbefangene Kompetenz zusteht. So setzt die Zulässigkeit des Kompetenzkonflikts zwischen Verfassungsorganen nach spanischem Verfassungsprozessrecht die Behauptung eines der in diesem Verfahren beteiligungsfähigen Organe voraus, dass eines der anderen parteifähigen Organe durch positive Entscheidung Kompetenzen (attribuciones) für sich in Anspruch genommen hat, die nach der Verfassung oder einem verfassungsausführenden Gesetz dem Antragsteller zustehen. Das Verfahren ist damit als vindicatio potestatis konzipiert, die eine bereits erfolgte Kompetenzanmaßung (usurpación de competencias) durch das beklagte Organ voraussetzt.

65

Dagegen genügt es in Spanien nicht, wenn der Antragsgegner durch die unsachgemäße oder exzessive Inanspruchnahme der eigenen Zuständigkeiten die Bedingungen für die effektive Wahrnehmung der dem antragstellenden Organ zustehenden Kompetenzen lediglich beeinträchtigt oder verschlechtert hat. Ebenso wenig stellt eine bloße Kompetenzgefährdung einen ausreichenden Klagegrund dar. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den vertikalen Kompetenzkonflikten, in denen auch Kompetenzbeeinträchtigungen und -gefährdungen eine Verletzung der Kompetenzordnung im Sinne der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Vorschriften darstellen können. Das spanische Verfassungsgericht hat die strengeren Anforderungen im Rahmen des horizontalen Kompetenzkonflikts mit der unterschiedlichen Finalität beider Verfahrensarten gerechtfertigt. Der vertikale Kompetenzkonflikt diene der Verteidigung der jeweiligen Souveränitäts- und Autonomiebereiche der am Streit beteiligten territorialen Einheiten. Dagegen gehe es im horizontalen Kompetenzkonflikt nicht um Autonomieschutz, sondern um die Wahrung der pluralistischen oder komplexen Organstruktur an der Spitze des Staates, die traditionellerweise als Gewaltenteilung bezeichnet werde.[110]

66

Ähnlich begrenzt ist der Anwendungsbereich des Kompetenzkonflikts im russischen Verfassungsprozessrecht, auch wenn die Antragsbefugnis weiter gefasst ist als im spanischen Verfassungsgerichtsgesetz. Ausreichend ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 des russischen VerfGG[111], dass der Antragsteller die Verletzung der in der Verfassung der Russländischen Föderation geregelten Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der staatlichen Gewalt durch den Erlass eines Rechtsakts oder die Vornahme einer rechtserheblichen Handlung bzw. die Ablehnung des Erlasses oder der Vornahme geltend macht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist weder das Vorliegen einer konkreten Kompetenzanmaßung noch ein Eingriff in die eigenen Zuständigkeiten des Antragstellers erforderlich. Die Bestimmung über den Inhalt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung lässt aber erkennen, dass es sich hier nur um einen Kompetenzstreit im engeren Sinne handelt. Danach kann das Verfassungsgericht am Ende des Verfahrens die Zuständigkeit des Antragsgegners zum Erlass des angegriffenen Akts bzw. zur Vornahme der fraglichen Handlung nur bestätigen oder verneinen. Stellt das Verfassungsgericht fest, dass der Erlass des Akts nicht in die Kompetenz des erlassenden Organs fällt, verliert der Akt von dem in der Entscheidung angegebenen Tag an seine Wirksamkeit.[112] Sonstige Feststellungen, etwa des Inhalts, dass der Antragsteller durch die Art und Weise der Kompetenzausübung des Antragsgegners in seinem verfassungsrechtlichen Status oder seinen Befugnissen beeinträchtigt worden ist, kann das Gericht dagegen nicht treffen.

67

Noch restriktiver fallen die Regelungen zum Kompetenzstreit im polnischen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof aus. Danach setzt der Kompetenzstreit voraus, dass zwei zentrale Verfassungsorgane des Staates sich in derselben Angelegenheit für entscheidungsbefugt erklärt oder Rechtsakte erlassen haben (positiver Kompetenzstreit) oder sich umgekehrt die in Betracht kommenden Organe in der fraglichen Angelegenheit für unzuständig erklärt haben (negativer Kompetenzstreit).[113] Diese Regelung ist deutlich beeinflusst von der österreichischen Konzeption eines administrativ-justiziellen Kompetenzkonflikts, wie sie in Art. 138 B-VG Ausdruck gefunden hat. Danach entscheidet der Verfassungsgerichtshof über Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden sowie zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und allen anderen Gerichten. Die Finalität dieses Verfahrens ist jedoch eine andere als diejenige des Verfassungsorganstreits. Beim Kompetenzkonflikt geht es darum, aus Gründen der Gewaltenteilung die Entscheidung über die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Verwaltung und rechtsprechender Gewalt einem besonderen Organ anzuvertrauen, das weder der einen noch der anderen Gewalt angehört – eine Aufgabe, wie sie in den vom französischen Vorbild beeinflussten Rechtssystemen herkömmlicherweise ein sogenanntes Tribunal des conflits übernimmt. Mag das Motiv für die Begründung einer besonderen gerichtlichen Zuständigkeit in solchen Fällen auch verfassungsrechtlicher Natur sein, so gilt dasselbe doch nicht für den Gegenstand des Konflikts. Die Regeln für die Kompetenzabgrenzung werden sich häufig nicht in der Verfassung, sondern im einfachen Gesetz finden.[114] Dagegen geht es beim Verfassungsorganstreit gerade um die Klärung von Inhalt und Tragweite der für das Zusammenwirken der obersten Staatsorgane maßgeblichen Verfassungsnormen: es handelt sich sowohl in subjektiver wie in objektiver Hinsicht um echte verfassungsrechtliche Streitigkeiten. Die Prinzipien und Normen, die das Zusammenspiel der politischen Organe bei der Wahrnehmung ihrer staatsleitenden Funktionen regulieren, unterscheiden sich von den für die Abgrenzung der Kompetenzen von Gerichten und Verwaltungsbehörden geltenden Grundsätzen so deutlich, dass der vom polnischen Gesetzgeber unternommene Versuch, die Grundsätze für die Entscheidung administrativ-justizieller Kompetenzkonflikte auf die verfassungsrechtliche Ebene zu transponieren, als problematisch erscheint.

68

Nicht in allen Verfassungsordnungen ist der Streitgegenstand des Kompetenzstreits hingegen auf die vindicatio potestatis beschränkt. Nach dem alternativen Modell des Kompetenzstreits können nicht nur Kompetenzanmaßungen, sondern Kompetenzbeeinträchtigungen im weitesten Sinne mit Hilfe dieses Verfahrens gerügt werden. Diese Konzeption des Kompetenzkonflikts ist vor allem in der Rechtsprechung des Corte costituzionale systematisch entwickelt worden. Bezeichnenderweise geht das italienische Verfassungsgericht im Unterschied zum spanischen Tribunal constitucional in der Frage des Streitgegenstandes von einer Parallelität zwischen vertikalem und horizontalem Kompetenzkonflikt aus. Es hat daher die zunächst im Rahmen des Staat-Regionen-Konflikts vorgenommene extensive Interpretation der Kompetenzverletzung ohne Bedenken auf den Zuständigkeitsstreit zwischen den Organen der zentralstaatlichen Gewalt übertragen. Der Zweck des Kompetenzstreits erschöpft sich nach dieser Rechtsprechung nicht in der richtigen Zuordnung der streitbefangenen Kompetenz zu dem materiell berechtigten Organ, sondern zielt sehr viel umfassender auf die Gewährleistung einer störungsfreien Kompetenzausübung durch die obersten Staatsorgane. Dies schließt nicht nur die Abgrenzung der Kompetenzsphären der verschiedenen Organe, sondern positiv auch die Konkretisierung der für ihre loyale Zusammenarbeit (leale cooperazione) geltenden Prinzipien mit ein.[115]

69

Zulässiger Streitgegenstand ist danach jeder Akt oder jede Unterlassung eines Organs, durch das die verfassungsgemäße Kompetenzausübung eines anderen Organs beeinträchtigt sein kann. Ein bestimmter normativer Gehalt der angegriffenen Maßnahme ist nicht erforderlich. Gerügt werden können vielmehr auch interne Maßnahmen eines Organs, wie etwa der Erlass einer parlamentarischen Geschäftsordnung, sofern sie sich zumindest mittelbar auch auf die Kompetenzwahrnehmung eines oder mehrerer anderer zentralstaatlicher Organe auswirken können.[116] Die vom Interorgankonflikt erfassten Arten der Kompetenzverletzungen sind in der italienischen Literatur näher systematisiert worden.[117] Neben den traditionellen Fallgruppen der Kompetenzanmaßung (usurpazione di competenza) und des negativen Kompetenzkonflikts steht danach die große Gruppe der Kompetenzbeeinträchtigungen (conflitti da interferenza), die ihrerseits wieder untergliedert werden kann in Kompetenzbeeinträchtigungen durch positive Akte und Kompetenzverletzungen durch Unterlassungen. Eine Beeinträchtigung der Kompetenz der gesetzgebenden Körperschaften durch Unterlassung soll etwa dann vorliegen, wenn der Staatspräsident sich weigert, ein von den Kammern beschlossenes Gesetz auszufertigen, ohne andererseits eine neue Lesung zu verlangen, und damit den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens blockiert. Kompetenzbeeinträchtigungen durch positive Maßnahmen liegen hingegen dort vor, wo das von der Verfassung vorgesehene arbeitsteilige Zusammenwirken mehrerer Staatsorgane durch die illoyale Kompetenzwahrnehmung eines der beteiligten Organe gestört wird (Interferenzkonflikte im engeren Sinne). Schließlich hat der weite Begriff der Kompetenzbeeinträchtigung zur Folge, dass auch konkret bevorstehende, aber noch nicht eingetretene Kompetenzgefährdungen im Kompetenzstreit gerügt werden können; die Grenze ist erst dort erreicht, wo der zur Entscheidung gestellte Konflikt ein hypothetischer, rein abstrakter ist.[118]

 

70

Die Ausweitung des Kompetenzstreits auf Kompetenzbeeinträchtigungen im weitesten Sinne führt andererseits zu einer Diversifizierung der vom Verfassungsgericht anzuwendenden Kontrollmaßstäbe. Während die Frage, welchem Staatsorgan eine bestimmte verfassungsmäßige Kompetenz als Inhaber zusteht, häufig anhand der geschriebenen Verfassungsnormen entschieden werden kann, gilt dies für die Frage nach Inhalt und Umfang der zwischen den Organen bestehenden Kooperations- und Rücksichtsnahmepflichten bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen nur sehr eingeschränkt. Solche Pflichten ergeben sich häufig aus ungeschriebenem Verfassungsrecht, vor allem aus Verfassungsgewohnheitsrecht und Verfassungskonventionalregeln. Zudem ist die Art und Weise, wie eine bestimmte Kompetenz auszuüben ist, häufig nicht in der Verfassung, sondern in der verfassungskonkretisierenden Gesetzgebung näher geregelt. Ob eine Kompetenzbeeinträchtigung im konkreten Fall vorliegt, lässt sich daher ohne Heranziehung der verfassungskonkretisierenden gesetzlichen Regelungen – soweit sie ihrerseits verfassungskonform sind – kaum sinnvoll entscheiden.[119]