Der Weg frisst das Ziel

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Nach einigen wenigen Kilometern hatten sich also die beiden Hinterteile wieder beruhigt, die Beine verrichteten auch wieder halbwegs flüssig ihre Dienste und der Puls des Schwagers hatte sich auf beruhigende 180 eingependelt. Der Rest auf die magische Dreistelligkeit der Tageskilometeranzeige des Radcomputers gestaltete sich relativ unspektakulär. Natürlich nicht ganz ohne Gejammer des Schwagers. Und auch die eigenen Beine, das Gesäß und der Nacken lagen dem Schmerzzentrum im Gehirn mittlerweile schon ständig in den Ohren. Aber nach rund vier Stunden Fahrzeit rollten die beiden Helden der ungarischen Landstraßen unter tosendem Jubel der Familie – also zumindest die Kinder freuten sich, dass ihre Papas wieder da waren – in den idyllischen Ferienhaushaufen ein. Alles andere als elegant kletterten beide vom Rennrad, um breitbeinig Richtung Toilette, Kühlschrank und Dusche zu wanken. Ein romantischer After-Riding-100-Kilometer-Staffellauf der Grundbedürfnisse. An diesem Abend ließen sich beide – bevor sie sanft zwangsweise auf dem Bauch liegend entschlummerten – freudig grinsend von der Schwiegermutter einmal mehr die Welt erklären, und schon ein wenig dümmlich grinsend stopften sie dankbar alles in sich hinein, was ihnen die Dame des Hauses vorsetzte. Diese wiederum hatte ihre wahre Freude daran, wie brav die beiden „Buben“ doch aßen, jetzt – mit 32 Jahren – würden die beiden endlich doch noch groß und stark werden ...

12 Eine am Lenker des Rennrades montierte Vorrichtung mit Stützpolster für die Ellenbogen und Haltegriffen für die Hände, auf die sich der Fahrer „legt“, um dem Fahrwind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Besondere Triathlonräder haben diese Aufleger im Speziallenker integriert, die Schalthebel befinden sich am Ende der Haltegriffe.

13 Aero-Position bezeichnet die Sitzposition am Rad, die dem Fahrtwind möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Viele Profis lassen die beste Position in einem Windkanal austesten.

14 Campagnolo ist ein italienisches Unternehmen mit Hauptsitz in Vicenza, Italien, das vorwiegend hochwertige Fahrradkomponenten und -bekleidung herstellt.

15 steirisch für „geschlagen“.

Kapitel 5

Unterzuckert am Schießstand oder die große Trainingslüge – Teil 1

Wie bereits erwähnt, muss der gemeine Hobby-Sportler schnell feststellen, dass es neben dem lästigen Beruf auch noch die Familie und das Training gibt. Zwei wichtige „Dinge“, für die er aber nur eine Freizeit hat. Also konstruiert er wahnwitzige Termin-Kombinationen, von deren Durchführbarkeit er, und zwar ausschließlich er, felsenfest überzeugt ist. Ehefrauen neigen dazu, diese Trainings-Familien-Kombis mit Recht in Frage zu stellen, denn mit ihnen verhält es sich wie mit den Innovationen vom Wochenmarkt: Beim Marktschreier funktioniert das „Wunderding“ tadellos, in der Praxis aber ...

Jedenfalls war es Wochenende und es prallten das Familien-Interesse in Form des Kirtages16 in Eisenerz und sein Trainings-Interesse in Gestalt einer langen Rad-Ausfahrt aufeinander. Aber die Lösung war einfach! Sehr einfach! Schon frühmorgens würde er sich auf sein Rennrad schwingen und dann von Kapfenberg über die Wildalpen nach Eisenerz strampeln. Nach einer kurzen Dusche bei den Schwiegereltern, die sich schon lange nicht mehr über ihren verrückten Schwiegersohn wunderten („Wenigstens trinkt er nicht!“), würden sie dann gemeinsam und vereint als glückliche Familie den schönen Eisenerzer Kirtag genießen.

Ein toller Plan, ein perfekter Plan. Der Plan hatte keinen Haken, wenn Miguel Indurain diesen aufgestellt hätte, aber auch nur dann und auch nur vollgepumpt wie Lance Armstrong.

Durch den „kleinen“ Umweg über die Wildalpen waren es nämlich gut 135 Kilometer von Kapfenberg nach Eisenerz und mit dem Pogusch17 und dem Seeberg18 warteten auch noch zwei nette Bergwertungen auf ihn. Er rechnete damit, dass sich ein 30er-Schnitt aufgrund der vielen Höhenmeter wohl nicht ganz ausgehen würde, aber in fünf Stunden musste die Strecke zu schaffen sein. Also, wenn er um acht Uhr losradelte, könnten sie wieder als Familie vereint, bereits um 13 Uhr gemeinsam durch die Kirtags-Standln schlendern. Denkste!

Bei der ersten Bergwertung am Pogusch bemerkte er, dass er weder Lance Armstrong in Bestform, noch Marco Pantani und auch nicht Miguel Indurain oder Bernhard Kohl war. Nein, er reichte nicht einmal an Don Miguel mit Keuchhusten, Schwindsucht und in Frühpension heran.

Bergab erholte er sich sogar wieder einigermaßen. Aber schon bald stellte sich vor ihm der Seeberg auf und spätestens auf dessen Passhöhe war er ein Windschatten seiner selbst. Immerhin, die beiden höchsten Berge lagen schon hinter ihm, auch wenn er bisher fast nur Höhenmeter und kaum Kilometer gemacht hatte. Es war noch nicht alles verloren. Jene 100 Kilometer, die vor ihm lagen, waren flach, maximal wellig, also ganz easy zu fahren. Wenn flach in den Wildalpen nicht eine Illusion wäre. Wenn es nicht diese kurzen, aber heftig giftigen, beschissenen Anstiege gäbe!

13 Uhr war aber trotzdem noch locker zu schaffen. Mit einem Auto. Mit einem sehr schnellen Auto. Das hatte er nicht, denn das stand in der Garage. Stattdessen hatte er mittlerweile ein schlechtes Gewissen, eine gute Aussicht auf Ärger mit seiner Familie und einen ausgewachsenen Hunger-Ast19.

Für ein ausgiebiges Frühstück war zu wenig Zeit gewesen und aus „Gewichtsgründen“ nahm er viel zu wenig Sportnahrung in Form von Energieriegeln und Gels mit. Die Tatsache, dass sein Körper ein Kohlehydrat-Schluckspecht mit dem Verbrauch eines Ami-Schlittens war, hatte er erfolgreich verdrängt.

Wenigstens war er so schlau gewesen, Bargeld einzustecken und so flüchtete er, schon etwas wackelig auf den Beinen, in den Gastgarten eines Wirtshauses am Wegrand. Mit einer großen Portion Spaghetti wurde sein Kohlenhydrat-Speicher wieder gründlich aufgefüllt, doch gleichzeitig stürzte sein Zeitkonto noch tiefer in die dunkelroten Zahlen.

Mit vollem Bauch schwang er sich wieder auf seinen Drahtesel und presste das letzte bisschen Dampf aus seinen Oberschenkeln heraus. Die Tatsache, dass ein voller Bauch nicht nur nicht gern studiert, sondern auch nicht besonders gern trainiert, muss nicht zusätzlich erwähnt werden. Jedenfalls war sein Magen nicht sonderlich erfreut, dass vom Körper schon wieder sportliche Höchstleistung eingefordert wurde, während der letzte Bissen noch nicht einmal unten angekommen war, geschweige denn entschieden hatte, welche Richtung er einschlagen würde. Der Bissen hatte denn auch beschlossen, sich wieder Richtung Mund auf den Weg zu machen.

Da hieß es gleich zweifach runterschlucken: Die leckeren Spaghetti und die Tatsache, zugleich noch einmal kräftig auf die Tube zu drücken, denn 13 Uhr war schon lange vorbei. Noch nicht vorbei waren dafür die 50 schweren Kilometer bis Eisenerz und eine verdiente Standpauke seiner Lieben. Beides lag noch vor ihm.

Und wieder einmal passierte er mit seinem Rennrad die Ortstafel Eisenerz, diesmal zwar von der anderen Seite kommend, jedoch mit dem gleichen Ergebnis: Ein Satz mit X – Das war wohl nix!

Nur drei Stunden zu spät, „ritt“ er bei den Schwiegereltern ein, zwar diesmal nicht durchnässt und durchgefroren, dafür mit hochrotem Kopf kurz vor dem Hitzekoller. Als er vom Rad stieg, behielt er zur Sicherheit die nach vorne geneigte Haltung des Oberkörpers bei, um möglichst reumütig zu wirken. Doch auch diesmal trug ihn sein Schwiegervater leider nicht die Treppen in den zweiten Stock hinauf. Auch diesmal musste er sich alleine duschen, bevor er mit gesenktem Haupt und schmerzenden Beinen Richtung Innenstadt zum Kirtag trottete. Geschmeidig wie Alex Murphy als RoboCop, allerdings als RoboCop mit Ganzkörpermuskelkater.

Wenn man schwer angeschlagen in den Seilen hängt, hat man gegen einen ohnehin übermächtigen Gegner wie eine geliebte Ehefrau keine Chance. Aber genau diese „keine Chance“ muss man frei nach Hans Krankl nützen. Aber selbst bestens geheucheltes Interesse am Kirtag hilft dem geschundenen Körper, der nur mehr an Essen und Schlafen denken kann, in solchen Momenten wenig. Kirtag geht einem dann schlicht ergreifend am schmerzenden Arsch vorbei! Der Versuch, sich bei den Kindern ein wenig Liebe zu erschleimen, ist zum Scheitern verurteilt, wenn man sich vom schmollenden Eheweib Geld ausborgen muss, um seine lieben Kleinen mit Zuckerwatte anzufüttern, da man sein eigenes bei der Anfahrt zum Familien-Drama verfressen hat, um doch noch irgendwie ans Ziel zu gelangen, für Zuckerwatte, die man den Kindern dann sowieso gierig wegessen würde.

Versuchen Sie niemals in extrem unterzuckertem Zustand, am ganzen Körper zitternd, für ihre geliebte Gattin eine Rose zu schießen! Die Gefahr, dass der Schießbuden-Mann dies nicht überlebt, ist sehr groß. An diesem Tag war es Gott sei Dank „nur“ ein Streifschuss.

Pluspunkte kann man an einem solchen dunkelgrauen Familien-Sonntag nur bei der Schwiegermutter sammeln, wenn man alles, aber auch wirklich alles, was sie auftischt, in sich hineinschlingt. An diesem Tag sogar gerne! Nach einem ausgewachsenen Hunger-Ast isst man alles, was nicht schnell genug weglaufen kann.

Bei der gemeinsamen Nachhausefahrt im Familien-Auto ist unser Hobby-Sportler wieder ganz der coole Daddy, scherzt mit seinen süßen Kiddies und lässt diesen heroischen Tag noch einmal in aller Ausführlichkeit Revue passieren. Das liebt die ganze Familie! Die Frau am Steuer, die ihre Begeisterung nur deshalb nicht zum Ausdruck bringen kann, weil sie sich „auf den Verkehr konzentrieren muss“, die Kinder, die stolz über den Schilderungen ihres Hel-den-Papi einschlafen, wissend, dass er, wenn es um sein geliebtes Training geht, ein Dampfplauderer ist, dem der Dampf, dort wo er bei seinen Touren von Nöten wäre, leider fehlt – nämlich in seinen Schenkeln. Das bricht einem fast das Sportlerherz, das Vater-Herz ist ohnehin schon längst vor Scham in die Hose gerutscht.

 

Doch urplötzlich verstummt der Hero. Denn Schwiegermuttis Essen verlässt ihn und den Wagen durch das Seitenfenster – und das während der Fahrt.

Gott sei Dank findet er immer wieder die passenden Worte für jede Situation und durchbricht die eisige Stille mit der Frage: „Und sonst – wie geht’s?“ Die Antwort seiner Frau, nämlich keine, bekommt er schon nicht mehr mit. Denn in dieser Sekunde holt ihn gerade rechtzeitig der Schlaf, während sie erstmals über Scheidung nachdenkt. Ein richtig guter Tag ...!

16 Volksfest

17 Der Pogusch ist ein 1.059 Meter hoher Alpenpass in der Obersteiermark.

18 Der Steirische Seeberg (auch Aflenzer Seeberg) ist ein 1.246 Meter hoher Gebirgspass in der Steiermark.

19 Ein chronisches Leiden des Weißen Kenianers, das ihn auch im Alltag ständig begleitet. Beim Training und bei Wettkämpfen hat der Weiße Kenianer den Hunger-Ast (plötzlicher Leistungseinbruch des Körpers infolge eines Mangels an Kohlenhydraten), der manchmal sogar zu ganzen Bäumen mutiert, zur Kunstform erhoben. Mit Fressattacken vor und nach Wettkämpfen versucht er bisher vergebens, diesen Herr zu werden.

Kapitel 6

Zu zweit stirbt man weniger allein

Seit seinem ersten Einzelzeitfahren hat er eine neue Liebe. Den Kampf Mann mit Maschine gegen die Uhr. So musste ihn ein Vereinskollege auch nicht lange bitten, als dieser fragte, ob er Lust habe, mit ihm beim traditionellen Mariazeller Paarzeitfahren an den Start zu gehen. In Zweierteams kämpft man abwechselnd, aber dennoch gemeinsam gegen den größten Feind des Zeitfahrers: den Luftwiderstand.

Dabei gilt es, sich möglichst schnell und ohne Geschwindigkeitsverlust in der Führungsarbeit abzuwechseln. Gemeinsam mit seinem Partner wurde bei der Anfahrt nach Mariazell im Team-Bus die Taktik besprochen. Der Rote Kenianer in Ausbildung war der kleinere und leichtere Adonis der beiden und auf jeden Fall der bessere Bergfahrer. 30 selektive Kilometer galt es auf einer Pendelstrecke zu bewältigen. Die Hetzjagd begann mit einem längeren Bergabstück, das dann später zum Schlussanstieg – der es in sich hatte – wurde. Folgende Marschroute legten sie sich zurecht. Der Weiße Kenianer in Ausbildung würde sich vom Start weg – solange es bergab ging –vorspannen, um die Schwerkraft optimal für das Gespann auszunützen. Dann würden sie in einen schnelleren, gleichbleibenden Rhythmus wechseln, bis sie wieder zum Schlussanstieg kämen. Vor diesem härtesten Teil der Strecke würde er wiederum ein wenig mehr Führungsarbeit übernehmen, sich dann hinter den besseren Bergfahrer zurückfallen lassen und zugleich versuchen, irgendwie an dessen Hinterrad zu bleiben. Gestoppt bzw. gewertet wurde nur die Zeit des Zweiten im Duett. Es brachte also überhaupt nichts, wenn einer dem anderen davon fuhr – im Gegenteil.

So gut der Plan in der Theorie klang, so gut funktionierte er auch in der Praxis. Zumindest zu Beginn. Vernunft und Angst auf „stand by“ geschaltet, stürzte er sich die engen Kehren hinunter und nahm Fahrt auf. Sein Partner kauerte in seinem Windschatten und versuchte möglichst viel Energie zu sparen. Sobald es flach wurde, begannen sie mit der berühmten Belgischen Reihe20 – allerdings nur zu zweit. Sie fanden schnell einen guten Rhythmus und es klappte wie am Schnürchen. Einziger Wermutstropfen: Im Wind dauert eine Minute gefühlte Ewigkeiten, im Windschatten vergeht sie wie im Flug.

Der Rote Kenianer in Ausbildung sollte später seinen Namen zu Recht bekommen, denn am Rötegrad seines Gesichtes ließ sich ganz genau ablesen, wie sehr er schon am Limit fuhr. Von entspanntem Zartrosa war er an der Wende schon ziemlich weit entfernt, aber sein Wettkampf-Rot lag noch im grünen Bereich. Die Schenkel des Kenianers brannten wie Feuer, aber auch das war beim Zeitfahren „part of the game“.

Gute zwei Kilometer vor dem Schlussanstieg setzte sich der Kenianer wie geplant an die Spitze des dynamischen Duos. Er presste noch einmal alles für das Team aus sich heraus. Ganz ehrlich. Viel war es nicht mehr. Und dann kam der gefürchtete Anstieg. Der Rote ging vorbei. Der Kenianer heftete sich an dessen Hinterrad. Fixierte es, versuchte es zu hypnotisieren. Irgendwie musste es ihm gelingen, dran zu bleiben, nicht abzufallen. Er stemmte sich in die Pedale, versuchte ein mentales Seil um die Sattelstütze des Vordermanns zu legen. Jede Faser seines Körpers war bereit, bereit alles zu geben. Bereit für den Schmerz, für das Brennen in den Lungen, die Krämpfe in den Beinen.

Aber irgendwie kam es nicht so, wie er es herbeigesehnt – Trainer-Neudeutsch visualisiert – hatte. Er war alles vor dem Start noch einmal im Kopf durchgegangen. Aber es half nichts, einmal mehr zeigte sich, dass Theorie geduldig ist. Im Wettkampf kommt es oft anders, ganz anders als man denkt. Denn es fiel ihm überhaupt nicht schwer dem Hinterrad des Roten zu folgen. Im Gegenteil. Es ging ihm sogar zu langsam. Wo blieb der unwiderstehliche Antritt der Bergziege?

Also setzte er sich neben seinen Teamkollegen. Sofort sah er, was los war. Dessen Kopf war dunkelrot angelaufen, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, der Mund weit aufgerissen. Er wusste, dass sich der Rote Kenianer in Ausbildung quälen konnte wie kein Zweiter. Ein Sportler, der sich und seinem Körper im Wettkampf nichts schenkte. Der Rote machte keine halben Sachen. Er nahm in der Schlacht weder auf Material noch auf sich selbst Rücksicht. Vollgas bis zum lactat-bitteren Ende. Aber dennoch, irgendwas stimmte nicht. Das Dunkelrot war sogar für seine Verhältnisse zu rot, und vor allem der leichte Grünstich um die Nase verhieß nichts Gutes. „Wenn sich mein Pulsschlag noch um einen einzigen Schlag erhöht, dann fällt mir das Essen aus dem Gesicht“, keuchte er verzweifelt: „Mir stehen die Spaghetti bis zum Hals!” Und da er sich die Spaghetti nicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen wollte, reduzierten sie das Tempo und fuhren nebeneinander, so schnell es die Umstände noch zuließen, den Berg hoch. Da es nur mehr wenige Hundert Meter bis ins Ziel waren, hielt sich der Schaden in Grenzen. Die Endzeit konnte sich trotzdem sehen lassen, und in ihrer Altersklasse reichte es sogar für Platz 2! Der Weiße Kenianer in Ausbildung stand zum ersten Mal auf einem Podest und schnupperte die Höhenluft der Sieger. Selbst wenn es nur Rang 2 in der Altersklasse bei einem doch eher bescheiden besetzten Provinzrennen war, es fühlte sich gut an. Saugut! Und es gab einen Pokal. Er hatte noch nie einen Pokal gewonnen. Auch wenn die Keramik-Plastik, die wohl nie einen Designerpreis gewinnen würde, nur mit Silberfarbe angepinselt war, glänzte sie für ihn wie pures Gold.

Ein Jahr darauf stand das Mariazeller Paarzeitfahren wieder auf dem örtlichen Rennkalender. Und natürlich kehrt man gerne an den Platz seines Triumphes zurück. Doch diesmal hatte der Rote Kenianer in Ausbildung leider keine Zeit. Aber er suchte und fand hochkarätigen Ersatz. Einen zigfachen Ironman, den er aus dem örtlichen Triathlonverein kannte. Als dieser in Mariazell seine Zeitfahrmaschine auslud, war es beim Kenianer Liebe auf den ersten Blick zu solch einem Turbogefährt. Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, es würde nicht bei sehnsüchtigen Blicken bleiben. Aber dazu später. Auch diesmal war die Taktik klar, ohne dass sie viel darüber reden mussten. Vereinfacht gesagt, war es die Schlusstaktik des Vorjahres ausgedehnt auf das ganze Rennen, denn er würde von Anfang an versuchen müssen, irgendwie an dem Hinterrad des „eisernen Kollegen“ dran zu bleiben. Dass dieser stärker war als er, stand außer Frage.

Er musste schon nach einigen Kilometern die Beine in die Hand nehmen und strampeln, was das Zeug hielt. Noch gelang es ihm, auch einen Teil der Führungsarbeit zu übernehmen, aber lange würde das nicht gut gehen. Der Ironman machte ordentlich Dampf. Gnadenlos. Und noch etwas unterschied ihn vom Roten Kenianer in Ausbildung. Nicht nur, dass sich seine Gesichtsfarbe kein bisschen veränderte, Mr. Pokerface verzog auch keine Miene. Während dem Roten Kenianer zu diesem Zeitpunkt schon lange sämtliche Gesichtszüge entglitten gewesen wären, machte der vierfache Teilnehmer der Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii noch immer das entspannte Gesicht vom Start. Doch plötzlich wurde er langsamer. „Irgendwas stimmt mit meinem Vorderreifen nicht. Ich habe einen Platten“, meldete er. Der Kenianer atmete erleichtert durch. Diesen Reifenschaden schickte der Himmel seinen brennenden Oberschenkeln. Gekonnt spielte er den Trauernden. „Na geh – jetzt waren wir so gut drauf. Und ich wollte am Schluss noch mal so richtig andrücken!“, log er, dass seine ohnehin schon übersäuerten Muskeln fast zu verkrampfen begannen. „Dürfte nur ein Schleicher sein,“ hörte er Ironman sagen und traute seinen Ohren nicht. „Wenn wir Vollgas geben, geht es sich bis ins Ziel aus!” Der „Eiserne“ hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, als er seiner Zeitfahrmaschine schon wieder die Sporen gab. Der Kenianer, dessen Systeme schon begonnen hatten, runterzufahren, machte einen Warmstart und fügte sich seinem Schicksal. Willkommen zurück im Tal der Schmerzen, großer Schmerzen!

Während sein Vorderreifen immer weicher wurde, fuhr der „unerbittliche Eiserne“ immer härter. Der Kenianer hing schon lange in den Seilen. Aber er zeigte Nehmerqualitäten und blieb irgendwie am Hinterreifen von Mr. Pokerface, der im Schlussanstieg weder daran dachte Tempo rauszunehmen, noch sich für einen Augenblick so etwas wie Anstrengung anmerken zu lassen. Nicht nur, dass seine Gesichtszüge stoisch ruhig blieben. Er saß auch wie aufgemalt im Sattel, während sich der Kenianer längst wand, als hätte er Juckpulver in der Radhose. Was seine Beine nicht mehr brachten, versuchte er irgendwie mit ganzem Körpereinsatz wett zu machen.

Der eine elegant und wie aus dem Radsport-Katalog, der andere mit weit aufgerissenen Augen – und wie einem Zombie-Film entsprungen –, rasten sie über die Ziellinie. Mit einer schnelleren Endzeit als im Vorjahr. Doch dieses Jahr war der Wettbewerb stärker besetzt. Es reichte aber für Platz 3. Und wieder stand er auf dem Stockerl21. Daran könnte er sich gewöhnen. Die Bronzefarbe des Pokals ging mit ein wenig Fantasie sogar als Gold durch.

Und beide, sowohl Mr. Pokerface als auch dessen Zeitfahrmaschine, sollten für ihn noch zwei ganz wichtige Begleiter auf dem Weg zum Weißen Kenianer werden.

20 Belgische Reihe bezeichnet beim Radsport eine Formation, die einer Gruppe von Radfahrern durch effektives Ausnutzen des Windschattens und Ablösen bei der Führungsarbeit eine energiesparende Fahrweise ermöglicht. Sie besteht aus zwei Einzelreihen, die sich gegeneinander bewegen, d. h. eine Reihe fährt schneller, die andere (abgelöste Fahrer) zirka zwei Stundenkilometer langsamer.

21 steirisch für Siegerpodest.

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