Der Weg frisst das Ziel

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Kapitel 3

Ein Schlachtross aus Stahl

Niederlagen machen einen bekanntlich stärker. Und so müsste er wohl bald saustark sein. Einige Tage nach der ersten verlorenen Schlacht am Präbichl konnte er bereits fast schon wieder schmerzfrei Treppensteigen. Und sobald er seinen Drahtesel wieder selbst aus dem Keller nach oben tragen konnte, saß er auch schon wieder drauf. Die Niederlage sorgte auch dafür, dass sich vorübergehend so etwas Ähnliches wie Vernunft bei ihm einstellte. Mit kurzen regelmäßigen Ausfahrten gewöhnte er seinen ziemlich eingerosteten Körper und vor allem sein breit und schlaff gewordenes Hinterteil wieder ans Rennradfahren. Langsam aber stetig steigerte er die Länge der Ausfahrten und begann, nachdem er sich halbwegs eingerollt hatte, kleine Bergwertungen einzubauen. Und bereits zwei Monate später stand wieder der Präbichl auf dem „Speiseplan“. Von locker-flockig war er beim Gipfelsieg zwar noch weit entfernt, aber er knackte mit seinem alten Stahlross den Schicksalsberg, ohne absteigen zu müssen.

Seine Gattin bemerkte wohlwollend, dass er zunehmend fitter und auch schlanker wurde, was für sie unverständlicher Weise mit einem gleichzeitigen Anstieg seines Nahrungsmittelverbrauches einherging. Obwohl er zu essen begann wie ein Scheunendrescher, radelte er sich bis zum Winter von T-Shirt Größe XXL auf L hinunter. Dafür wollte er sich mit einem neuen Rennrad belohnen. Bei einem kurzen Preis-Check musste er mit Schrecken feststellen, dass sich die Preise für Rennräder in absoluten Zahlen in den letzten 20 Jahren nicht geändert hatten. Geändert hatte sich nur die Währung. Somit kam ein neues Rennrad vorerst nicht in Frage. Also begab er sich im Winter im Internet auf die Jagd nach günstigen, gebrauchten Komponenten, aus denen er sich einen neuen Drahtesel aufbaute. Zwar wieder mit einem klassischen Stahlrahmen, aber um einiges leichter als das alte und vor allem bereits mit modernen Bremsschalthebeln anstatt der Rahmenschaltung und einem neuner Zahnkranz hinten samt bergtauglicher Übersetzung. Die Frage vorne 2-fach- oder 3-fach-Kurbel stellte sich definitiv nicht. Das Rennrad über einen Berg schieben zu müssen ist zwar peinlich, gegen den Einsatz einer Dreifachkurbel auf einem Rennrad aber noch immer eine Heldentat.

Und es musste ein Heimtrainer her, auf dem auch ein wenig trainiert wurde in den Wintermonaten. Wobei das Strampeln am Heimtrainer bzw. auf der Walze bis heute nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt. „Tausche sechs Stunden Radausfahrt im Freien samt Sommergewitter gegen eine Stunde auf der Walze im Keller. Jederzeit und immer gerne.“ Er trat dem örtlichen Rennradverein bei, was ihm kostengünstig neue Radbekleidung und unzählige Fachgespräche mit Gleichgesinnten einbrachte. „Zach heute. Vui zach!“9. Und er begann sich über Trainingsmethoden & Co. zu informieren, vorwiegend im Internet.

Dort stieß er immer wieder auf das ihm bis dato unbekannte Modewort: Grundlagentraining. Im Bummeltempo mit angezogener Handbremse durch die Gegend rollen, sollte der Schlüssel zum Erfolg sein? Er war doch kein Sonntagsradler, kein Pensionist. Aber wo er auch nachlas, überall schworen – von wem auch immer ernannte – Experten auf dieses, schon beim Lesen äußerst langweilig klingende Grundlagentraining. Es musste eine Verschwörung sein, gegen das wirkliche Sportcredo jedes echten Mannes: Es gibt nur ein Gas, Vollgas! Oder die fast schon wissenschaftliche Variante davon: Wer schneller werden will, muss sich auf Schmerzen gefasst machen.

Nachdem auch die neuen Kollegen des Rad-Klubs, ausgefuchste Profis mit Nebenjobs, ständig von GA110 und GA211 sprachen, beschloss er, diesem neumodernen Zeug im kommenden Frühjahr eine Chance zu geben. Und so versuchte er sich von März bis Ende April als Edelroller. Kurbelte auch im Flachen auf der kleinen Scheibe dahin, brauchte schon bei leichten Steigungen hinten das große Rettungsanker-Ritzel. So lebte er im Training in der ständigen Angst, von einem alten Mutterl mit Damenrad samt Einkaufskörberl überholt zu werden. Am liebsten hätte er ein T-Shirt mit: „Ich fahre bereits seit sechs Stunden im Grundlagentempo durch die Gegend“ getragen sowie: „Ich bin nicht langsam, ich bin überlegen!“ Echte Berge mied er wie der Teufel das Weihwasser. Die ersten 1000 Kilometer rollte er brav mit einem Durchschnittspuls von 120 durch die Gegend. Ach ja, das Christkind hatte ihm eine Pulsuhr gebracht, die schnell zu seinem ständigen Begleiter, gar zu seinem neuen Gewissen wurde.

Jedes Jahr am 1. Mai lud der Rad-Klub zu einem gnadenlosen Ausscheidungsrennen. Offiziell getarnt war das erste Kräftemessen nach dem langen Winter als „Anradeln“, das der Geselligkeit im Verein dienen sollte, in der Form einer lockeren Ausfahrt. Die Ausfahrt war auch über weite Strecken locker. Wobei man sich allerdings von Anfang an belauerte. Wer war schon wie gut in Form? Wer hatte noch zu viel Winterspeck auf den Rippen? Wer hatte materialtechnisch aufgerüstet? Lediglich nach circa der Hälfte der sonst topografisch gemütlichen Runde gab es eine nicht besonders lange, aber doch halbwegs giftige Bergwertung. Und bereits bei der moderat steigenden Anfahrt zu dem Berg der Entscheidung verwandelte sich die eben noch gemütliche gemeinsame Ausfahrt, bei der man locker plaudernd neben einander herfuhr, in einen beinharten Kampf: Mensch gegen Maschine. Mann gegen Mann. Vereinskollegen wurden schlagartig zu Erzfeinden, als der Berg nahte.

Natürlich begann schon am gemeinsamen Treffpunkt der Kampf: Maschine gegen Maschine. Denn er war nicht der einzige, der ein neues Rad hatte. Allerdings der einzige mit einem selbst zusammengezimmerten gebrauchten, das gegen die nagelneuen Carbon-Flitzer der Kollegen ziemlich alt und schwer aussah, was es auch war. „Gott sei Dank kommt es im Endeffekt noch immer auf den Motor an“, dachte er bei sich. Er fühlte sich echt gut. Saugut. Hatte allerdings keine Ahnung, ob die unzähligen, lauwarmen Grundlagen-Einheiten irgendetwas gebracht hatten. Vor allem am Berg fürchtete er, dass er ziemlich alt aussehen würde, nachdem er nur durch die Ebene gerollt war.

Wie gesagt, sobald der Berg in weiter Ferne auch nur zu erahnen war, wurde das Tempo in der gesamten Truppe gesteigert. Man fuhr zwar ein Tempo, das noch alle schafften, aber so richtig locker ging das den meisten nicht mehr von der Hand bzw. von den Beinen. Er musste sich, zu seiner eigenen Überraschung, nicht besonders anstrengen, um mitzuhalten. Und die Pulsuhr meldete beruhigend zur Bestätigung: Alles im grünen Bereich!

Langsam begann sich der Berg vor ihnen aufzustellen und noch mal wurde das Tempo der gesamten Truppe erhöht. Er klemmte sich ans Hinterrad des sicher mit Abstand besten Bergfahrers der Gruppe. Einem PbP-Profi, wie er argwöhnisch vermutete, ohne es wirklich zu wissen. Sprich: Profi mit Generationenvertrag. Die PbP-Profis können zwar nicht vom Sport leben, aber sie tun dennoch nichts anderes, als zu trainieren und unbedeutende Rennen zu fahren. Ihren Namen haben die PbP-Profis ihrem Hauptsponsor zu verdanken, obwohl die ehrliche Aufschrift „Powered by Papa“ stets auf ihren Trikots fehlte. Keine Sekunde zu früh hatte er das Hinterrad des PbP-Profis gesucht, denn schon beim ersten Anstieg machte dieser klar, dass Taktik für ihn kein Thema war. Vielmehr genoss er es, seine Überlegenheit offen und ohne Mätzchen zu demonstrieren. Er verzichtete sogar auf einen Antritt. Drückte á la Don Miguel einfach gleichmäßig hart auf die Tube. Aber der Weiße Kenianer in Ausbildung blieb wie eine Klette an seinem Hinterrad. Eine schnaufende Klette. Sein Puls verließ relativ schnell den Wohlfühlbereich, aber die Uhr vermeldete noch keine wirklich beunruhigenden Werte. Die Oberschenkel begannen bereits leicht zu brennen, aber es fühlte sich noch immer gut an. Er hatte mächtig Dampf in den Beinen. Und das ohne eine einzige harte Einheit.

Nach circa zwei Kilometern blickte sich der siegessichere PbP-Profi doch einmal kurz um, um zu kontrollieren wie groß sein Vorsprung schon war. Als er den Weißen Kenianer in Ausbildung wie eine Warze an seinem Hinterrad kleben sah, machte sich Verwunderung in seinem Poker-Face breit. Allerdings nur kurz, sehr kurz. Aber lange genug, um ihn zum moralischen Sieger des Tages zu machen. Es blieb ihm jedoch nur ein kurzer Augenblick des Triumphes, denn der PbP-Profi ging aus dem Sattel und ritt eine Attacke. Eine unwiderstehliche. Er tat es ihm gleich, wuchtete sich im Wiegetritt den Berg hoch, doch ein flüchtiger Blick auf die Pulsuhr verriet ihm, dass es für ihn in einer Herzattacke enden würde, wenn er weiter versuchen würde, dran zu bleiben: 187 Pulsschläge, das lag einiges über seinem am Ergometer ermittelten Maximalpulses und war vor allem ein Wert, den er in freier Wildbahn noch nie erzielt hatte. Also musste er vom Gas gehen und den PbP-Profi wohl oder übel ziehen lassen.

Seine Enttäuschung verflog aber umgehend, als er sich ebenfalls zum ersten Mal seit dem Fuße des Berges umblickte. Da war niemand. Sie waren dem gesamten Feld enteilt und er schaffte locker und entspannt seinen offiziellen zweiten Platz im inoffiziellen Rennen – das ja keines war, obwohl jeder Bescheid wusste – ins Ziel. Auf der Passhöhe, wo alle aufeinander warteten, wurde sein selbst zusammengestoppeltes Stahlross von den Vereinskollegen schon weniger belächelt. War es doch nicht aus Stahl, war es gar aus einer neuwertigen, silber glänzenden Carbonfaser? Er genoss jeden der prüfenden Blicke auf seinem Eigenbau-Stahlschlachtross in vollen Zügen.

O. K. es ist wohl etwas dran, an der modernen Trainingslehre. Und so trainierte er weiter nach Trainingsbüchern und Erkenntnissen, die er sich im www zusammenklaubte. Und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, er kam immer besser in Form. Bezwang seinen Schicksalsberg erstmals unter 30 Minuten ...

 

Genau zwei Monate nach den inoffiziellen Vereinsmeisterschaften standen die offiziellen in der Form eines 16 Kilometer langen Einzelzeitfahrens auf dem Programm. Beim Einzelzeitfahren im Flachen kommt es vorwiegend auf Kraft an, was ihm, der für einen Radfahrer zu groß und vor allem noch immer zu schwer war, liegen sollte. Und die Aerodynamik ist ganz wichtig. Also begab er sich in seinen geheimen Tuningkeller und schraubte den in Ungarn für zehn Euro erstandenen Aufleger auf seinen Rennradlenker.

Den letzten Formfeinschliff holte er sich nicht, denn es standen vier Tage „Umzug“ auf der familiären To-do-Liste, die damals noch Vorrang vor sportlichen Wettkämpfen hatten. Aus heutiger Sicht: Undenkbar! Dafür hing damals der Haussegen noch gerade. Ein schwacher Trost. Vor allem einer, der keine einzige Sekunde Zeitgewinn beim Rennen bringt. Umzugskisten durch die Gegend schleppen macht – wenig überraschend – alles andere als leichte Beine. Und so stand er mit Beton statt Dampf in den Schenkeln am Start, nicht ohne zuvor die Hightech-Zeitfahrmaschinen seiner Vereinskollegen bewundert zu haben. Dabei erfuhr er, dass durchaus Boliden gegen sein Stahlschlachtross antraten, deren Lenker gleich viel kosteten wie sein gesamtes Rad. Neupreis versteht sich, denn der Marktwert seines Rades war eher in einem Museum als in einem Fachgeschäft zu erfahren.

Dennoch ging er zuversichtlich ins Rennen, in dem er erstmals den Schmerz eines Wettkampfes genießen sollte. Die Nervosität vor dem Start, das Kribbeln im Bauch als es endlich losging, den nervigen Harndrang während des Rennens, das wohlig warme Brennen in Lunge und Oberschenkeln, das freudige Japsen nach Luft, das erhebende Schwindelgefühl, den Rausch des Zielsprints und das rasende Herz danach, begleitet von asthmaanfallartiger Atemnot. Und das Adrenalin, pures Andrenalin, verfeinert mit einem Schuss Endorphin. Achtung Suchtgefahr! Zu spät ...

Platz sieben belegte er letztendlich bei seinen ersten Vereinsmeisterschaften, und er ließ somit gut zwei Drittel der alteingesessenen Klubkollegen hinter sich. Kollegen, die den Sport schon viel länger ausübten, und die vor allem mit viel besserem Material am Start gewesen waren. Er war zufrieden. Rundum zufrieden. Er hatte zwar keine Medaille gewonnen, dafür aber etwas viel Wichtigeres: Erstens die Erkenntnis, dass Training im Ausdauersport mit Erfolg gekrönt wird und zweitens Respekt. Den Respekt der Vereinskollegen, denen nun das Lachen über seinen veralteten Stahlesel etwas im Halse stecken blieb. Aber die wichtigste Schlussfolgerung seiner ersten Schlacht war folgende: „Auch für ihn waren die Tage der Stahlzeit gezählt“. Bald würde auch für ihn endlich das glorreiche, federleichte und sauteure Carbonzeitalter anbrechen. Und er würde zurückkehren. Stärker. Schneller. Schöner. Auf einem neuen, glänzenden Schlachtross. Und dann würde er sich nicht mehr mit Platz 7 begnügen. Er wollte mehr. Er hatte Lunte gerochen und Blut geleckt.

9 Hochdeutsch: Zäh heute, sehr zäh!

10 Grundlagenausdauer-Bereich 1 bezeichnet den Pulsbereich, in dem ein Sportler sein Grundlagentraining absolviert. Beim Weißen Kenianer z. B. ist das der Pulsbereich von 125 bis 135 Herzschlägen pro Minute.

11 Grundlagenausdauer-Bereich 2: Beim Weißen Kenianer der Pulsbereich von 135 bis 145 Herzschlägen pro Minute.

Kapitel 4

Trainingslager Armut gegen Elend

Es war der Sommer nach dem Drama am Präbichl, als die Schwiegereltern die glorreiche Idee hatten, dass es doch schön wäre, wenn einmal alle gemeinsam in den Urlaub fahren würden. Sprich die Schwiegereltern, ihr älterer Sohn mit seiner Frau und seinen drei Töchtern, ihre Tochter samt Mann und Sohn sowie ihr jüngster Sohn mit seiner Freundin. Er war übrigens der Mann der Tochter, also der Schwiegersohn, und als Zielort wurde der kleine, weitgehend unbekannte ungarische Thermenort Nagyatad gewählt, wo ein Freund der Familie ein Ferienhaus besaß. Damals wusste er noch nicht, dass auch dieses unscheinbare Nagyatad für ihn und später auch für den Weißen Kenianer zu einem Schicksalsort werden sollte. Aber er genoss in Ungarn bei den Radausfahrten erstmals das gute Gefühl für einen Triathleten gehalten zu werden – auch wenn er noch gar keiner war. Gemeinsam mit seinem gleichaltrigen Schwager war er nicht gerade hoch erfreut, sich eine Woche lang dem Urlaubsdiktat der Schwiegermutter bzw. Mutter zu unterwerfen. Sie ist grundsätzlich eine sehr umgängliche und liebenswerte Person – solange alles nach ihrem Kopf geht. Im gemeinsamen Urlaub hatte sie aber blitzschnell das Ruder der gesamten Expedition an sich gerissen und handelte sich in dieser Woche auch ihren neuen Spitznamen „Feldweibl“, abgeleitet von Feldwebel, ein.

Doch der Schwager, der vor kurzer Zeit auch mit dem Rennradfahren begonnen hatte, schmiedete gemeinsam mit dem Weißen Kenianer in Ausbildung einen Plan, wie man sich auch im Familienurlaub etwas Freiraum rausschinden würde können. So nahmen beide ihre Rennräder mit, absolvierten fast täglich eine rund zweistündige Radtour auf ungarischen Landstraßen und strampelten immer rund 50 Kilometer ab. Dieses Zeitfenster wurde den beiden auch ohne Murren von den Frauen und sogar vom Feldweibl zugestanden, und so wurde der Familienurlaub überraschend schön, erholsam und harmonisch. Solange Frau Mann ein wenig Auslauf lässt, ist er den restlichen Tag zahm wie ein Schoßhündchen. Vor allem wenn sich Mann selbst einreden kann, dass er nicht im Urlaub, sondern im Trainingslager ist. Im örtlichen Radgeschäft erstand er seinen ersten Aufleger12 für nur zehn Euro und genoss zum ersten Mal das Gefühl, auf dem Rennrad-Lenker zu liegen. In dieser Aero-Position13 fühlt man sich automatisch schneller.

In dem örtlichen Radgeschäft wurde ihnen dann auch klar, warum die Einheimischen den beiden bei ihren Ausfahrten stets so ehrfurchtsvoll nachsahen. Nagyatad war der Austragungsort des jährlich stattfindenden eXtremeMan’s, der ungarischen Ausgabe des Ironmans. Und der diesjährige Langdistanz-Triathlon (3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen) fand in wenigen Wochen statt. Daher glaubten die Einheimischen, dass es sich bei dem Schwager und dem Weißen Kenianer in Ausbildung um zwei ausländische Voll-Profis handeln müsste. Die Wahrheit war, dass sie beide schon beim Schwimmen abgesoffen wären und hätten sie doch irgendwie die 180 Kilometer auf dem Rad mit vereinten Kräften geschafft, wäre danach maximal ihre Nase gelaufen – vor Überanstrengung.

Bauteile um zehn Euro hätte der Schwager übrigens nie an seinen schmucken Renner aus der Edelschmiede BMC gelassen. Alleine das Campagnolo14-Schaltwerk hatte deutlich mehr gekostet als das gesamte, museumsreife Rennrad des Kenianers. Der Schwager gehört vom materialtechnischen Ansatz zu einer anderen Liga.

Grundsätzlich sind hier zwei Typen zu unterscheiden: Typ 1, der vor allem in und rund um Wien auf den Donauradwegen und auch sonst österreichweit innerstädtisch sehr verbreitet ist. Der Typ „Style“ mit dem sportlichen Lebensmotto: „Style geht vor Kondition!“ Dieser Typ zeichnet sich dadurch aus, dass er mehr Zeit für die Auswahl, den Einkauf und die Pflege seines High-Tech-Rennrades sowie sämtlicher Ausrüstungsteile verwendet als für das Rennradfahren an sich. Typ „Style“ ist auf den ersten Blick sofort daran zu erkennen, dass vom Rad über das Trikot bis zur Trinkflasche alles farblich optimal abgestimmt ist. Meistens wählt er ein Profi-Team, das die Edel-Rad-Marke seiner Wahl fährt, kauft sich den Renner – natürlich in der aktuellen Teamlackierung – und dazu passend alle Team-Accessoires, vom Teamdress über die Handschuhe, Trinkflaschen und sogar bis zu den kurzen Radsöckchen. Typ „Style“ sieht dann perfekt gestylt wie ein Profi aus, nur das kleine Wohlstandsbäuchlein unter dem etwas zu engen Trikot und die unrasierten Beine verraten ihn, wenn er zum xten Mal an der Eisdiele am Hauptplatz seines Heimatortes vorbeirollt. Natürlich trägt er modische, sauteure Marken-Sport-Sonnenbrillen – vorzugsweise mit eingebautem MP3-Player. Aber auch wenn man farbenblind ist, erkennt man Typ „Style“ spätestens, wenn man ihn mit Damencitybike samt Einkaufskorb überholt. Denn für das Training selbst bleibt bei soviel Posing kaum noch Zeit.

Kommen wir zum Typ „funktionale Zitrone“. Er ist grundsätzlich leicht sauer, dass er sich selbst nicht ein so teures Rad samt stylishem Rundherum leisten kann oder darf. Da er es sich meist auch selbst nicht gönnt, redet er sich ständig ein, dass er den ganzen Firlefanz überhaupt nicht braucht. Er zimmert sich selbst mit gebrauchten, zum Beispiel bei ebay ersteigerten Teilen ein Rennrad zusammen und dabei stehen Funktionalität und Langlebigkeit über allem. Da das Teil eben auch möglichst lange halten soll, verzichtet er auf Gewichtsoptimierung durch Aluminium- oder gar Carbonteile. Stahl ist das Material seiner Wahl, denn er presst sein Rad aus wie eine Zitrone bis zum letzten Tropfen. Gefahren wird das Material bis es auseinanderbricht. Gepflegt wird nur, wenn es schon offensichtliche oder unüberhörbare Mängel gibt. Schmutz am Rennrad wertet er als Trophäe, als Beweis für lange, harte Ausfahrten durch Wind und Wetter. Da er jede Ausfahrt als Rennen sieht und er aus sich selbst stets alles herauspresst bis auch der letzte Muskel sauer ist, ist er dem Typ „Style“ meistens in Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer überlegen. Und es ist auch sein liebster Zeitvertreib, sich mit seinem immer leicht quietschenden Rad möglichst leise und unauffällig kurz ans Hinterrad eines „Stylers“ zu heften. Allerdings nur so lange, bis er sich von seiner wilden Aufholjagd, die er ohne Rücksicht auf Verluste startete, als er den Styler am Horizont erblickte, zu erholen. Schon bald nutzt er die nächste Steigung aus, um den Styler samt seinem 10.000 Euro teuren Equipment locker stehen zu lassen, auch wenn er sich nach der ersten Kurve, die ihn aus dem Blickfeld des Stylers bringt, übergeben muss – das war die Sache allemal wert. Denn schließlich hat er wieder einmal mit unterlegenem Material einen Rad-Snob besiegt. Da es allerdings auch gute Rennradfahrer mit Geschmack und gutem Material gibt, pflegt die Zitrone auch gerne den Satz: „Na ja, mit so einem Top-Rad wäre ich auch viel schneller.“ Der Typ „Styler“ hingegen ärgert sich nur kurz darüber, wenn er von einer Zitrone „herpaniert“15 wird. Schließlich kann der Styler auch nicht den ganzen Tag trainieren, wie diese arbeitslosen „Zitronen“, denn er muss 100 Stunden pro Woche schuften, um sich seine überteuerte Ausrüstung leisten zu können.

Natürlich gibt es zwischen diesen beiden Stereotypen etliche Abstufungen und sogar Überschneidungen. Denn nicht selten juckt es einen Styler plötzlich wirklich, und er beginnt ernsthaft zu trainieren. Und früher oder später schlachtet fast jede „Zitrone“ schweren Herzens das Sparschwein und gönnt sich als Belohnung für sein hundertstes „Styler“-Überholmannöver endlich auch einen neuen, modernen Hightech-Carbon-Esel. Womit er zur stylishen Zitrone – einem der angesprochenen Zwischentypen – wird.

Ein Typ gehört im Sinne des Leser-Service allerdings unbedingt noch angesprochen. Der äußerst ungute und meist in Gruppen auftretende Typ „Vereinsfahrer“. Wie der Name schon sagt, ist dieser Typ an seinem Vereinstrikot zu erkennen, was ihn vor allem in der vereinsununiformierten Gruppe sofort verrät. Der Typ „Vereinsfahrer“ ist meistens schon von Weitem an seiner hohen Trittfrequenz zu erkennen und auch daran, dass er sich immer weiter von einem entfernt, anstatt dass man auf ihn auffährt. Was aber noch immer besser ist, als wenn er einen selbst von hinten „frisst“. Besonders nervig ist, wenn er gemeinsam mit seinen Vereinskollegen in Zweierreihe locker plaudernd an einem sich einsam den Berg hochkämpfenden Hobbyradler vorbeirauscht.

Wobei – manchmal lässt sich der Typ „Vereinsfahrer“ auch auf das Tempo von Normalsterblichen herunter und begleitet sie ein Stück des Weges, aber eigentlich nur, um zu erzählen, dass er bereits seit sechs Uhr Früh auf dem Carbon-Renner sitzt, schon drei Bergpässe und 150 Kilometer in den Beinen hat, und jetzt nur mehr die restlichen 50 Kilometer locker heimradelt. Man nickt anerkennend, während man selbst immerhin schon bei Kilometer 5 angelangt ist, alle Beine voll zu tun hat, um das Plaudertempo dieses unnötigen Halb-Affen – pardon Halb-Profis – halten zu können. Zumindest so lange, bis man sich mit einem freundlichen: „Hat mich sehr gefreut, ich muss aber leider schon abbiegen. Man sieht sich,“ in irgendeine, völlig unbekannte Seitengasse rettet, wo man sich wenig später fluchend bei einem der unzähligen Schlaglöcher der verfluchten Schotterstraße ins Nirgendwo einen Platten einhandelt.

 

Es gibt eigentlich nur ein Rezept gegen den Typ „Vereinsfahrer“ und zwar sich so schnell wie möglich einen Verein zu suchen, um ab sofort mit einem kostengünstigen Vereinsdress bei den gemeinsamen Vereinsausfahrten das System von innen heraus zu bekämpfen, während man locker plaudernd an bemitleidenswerten Einzelkämpfern vorbeiradelt.

Jedenfalls war der Schwager der Prototyp eines „Stylers“ und dabei noch nicht einmal am Gipfel seines Schaffens, denn schon bald sollte er im kompletten Outfit des Teams Astana in leuchtendem Türkis seine Umgebung erfreuen. Und er selbst war eindeutig eine „funktionale Zitrone“, wobei er von der Form, die man braucht, um „Styler“ locker stehen zu lassen, noch weit entfernt war. Allerdings sollte sich seine Form ebenso schnell weiter entwickeln wie sein aufkeimender Wunsch nach Carbon & Co.

Viel bemerkenswerter war, dass sich die zwei Typen aus so unterschiedlichen Radler-Lagern bei ihren gemeinsamen Ausfahrten und auch sonst bestens verstanden. Mit dem Feldweibl hatte man ein gemeinsames Feindbild und über die Frauen konnte man während der Ausfahrten auch wunderbar ablästern: zwei Punkte, die seit Jahrtausenden verfeindete Erzrivalen zusammenschweißen. Nichts verbindet schließlich mehr als gemeinsame Feinde. Jedenfalls machten der Schwager und er täglich die ungarischen Landstraßen unsicher. Das Tolle an Nagyatad und Umgebung ist, egal in welche Himmelsrichtung, es geht immer gleich dahin. Großteils flach, manchmal leicht wellig und weit und breit keine Berge in Sicht, auch wenn ein großmauliger kenianischer Krieger ein paar Jahre später das Gegenteil behaupten würde – aber dazu später, viel später ...

So ging die Urlaubwoche wunderbar dahin, Laune und Grundkondition stiegen, und der Schwager wurde sogar leicht übermütig. Als Ziel des inoffiziellen Trainingslagers wollte er einmal 100 Kilometer am Stück fahren, was er noch nie gemacht hatte. Bei ihm war es auch schon einige Zeit her, aber er war natürlich sofort begeistert von der Idee. Also erbaten sich die beiden Athleten für den vorletzten Urlaubstag ein doppelt so großes Zeitfenster, und da die beiden Herzdamen ohnehin einen Schönheitstag mit Maniküre, Friseur & Co. geplant hatten, willigten sie gnadenhalber ein. Die Schwiegereltern ihrerseits mussten sehen, wie sie mit vier Kindern zu Recht kamen. So hatte jeder für diesen Tag die passende Herausforderung – die individuelle Urlaubs-Challenge jeweils dem Rang, Alter und Geschlecht angepasst.

Also machten sich der Schwager und er für einen Urlaubstag relativ früh morgens auf, um 100 Kilometer runterzustrampeln. Die Rollen für dieses Vorhaben waren klar verteilt. Er – als Rennradälterer und besser trainierter Sportler – hatte die Aufgabe, den Schwager „durchzubringen“, ihm möglichst viel Windschatten zu spenden und ihn moralisch aufzubauen.

Gut gelaunt kurbelten sie einfach drauf los. Die Streckenauswahl war dank fehlendem Navi am Rad und internetfreier Zone im Ferienhaus ziemlich einfallslos. Der Plan lautete, immer geradeaus in eine Richtung zu radeln, bis der Tacho 50 km vermeldete und dann das Gleiche retour. Bei Kaiserwetter ging es dahin. Die 50 km waren schneller und leichter abgespult als erwartet. Exakt bei der Wendemarke stand ein Spar-Markt mit dazugehörigem Café mitten in der Botanik. Ein Stück Heimat inmitten der ungarischen Ödnis – eine perfekte „Auftankstation“ für die beiden. Auch beim Einkauf der „gscheiten Jausen“ zeigte sich, dass der Schwager und er unterschiedliche Zugangsweisen zum Thema Sport und im speziellen zum Thema Sportnahrung hatten. Er kaufte sich zwei Bananen, ein Isogetränk und als „kleine Sünde“ einen Kornspitz mit Käse, der Schwager trippelte auf den Radschuhen mit einem Pizzaeck, Cola und reichlich Red Bull aus dem Supermarkt.

Im Gastgarten des Cafés machten sie Rast. Der Schwager trank zuerst einmal einen großen „Schwarzen“. Danach schluckte er ein Red Bull auf ex. Zwei weitere Dosen füllte er in die Radflasche um. Schon kurz darauf wunderte er sich, warum seine Pulsuhr schon vor dem Losfahren 160 Herzschläge pro Minute anzeigte. 160 Schläge sind übrigens exakt der Pulswert, den Miguel Indurain unter Volllast beim Tour-Einzelzeitfahren über knapp 60 Kilometer mit über 50 Stundenkilometer Durchschnittsgeschwindigkeit fuhr.

Ganz so locker flockig waren die ersten 50 km dann doch nicht gewesen, wie sich beim Wiederaufstieg auf die Räder zeigte. Eine lange Pause bei einer langen Radausfahrt ist alles andere als zu empfehlen und ist deshalb ein ziemliches Eigentor – das wussten sie damals allerdings noch nicht. Wenn man sich dann wieder in den Sattel schwingt, rebelliert zuerst das geschundene Hinterteil, dessen Schmerz-Nervenpunkte während der Pause wieder aus der Bewusstlosigkeit, in die sie nach der jeweils ersten Stunde im Sattel fallen, erwacht waren.

Jeder Rennradfahrer, der in einer Region mit kalten und verschneiten Wintern wohnt, kennt dieses Phänomen im Frühjahr. Die ersten 500 bis 1000 Kilometer braucht es, um die Schmerzempfindlichkeit des im Winter verwöhnten Hinterteils wieder gegen Null zu senken. Und man glaubt gar nicht, wie steif die vorher noch so geschmeidigen Beine während so einer Pause werden können – als würde das Blut nach dem Absteigen sofort „aussulzen“ und dickflüssig werden – und das alles ohne Epo.

Aber noch unbedarft ob der fehlenden Erfahrung stieg man noch frohen Mutes wieder auf und ließ seine beleidigten vier Buchstaben ganz, ganz langsam und sanft wieder auf den beinharten Rennsattel sinken. Gott sei Dank fielen die Gesäßnerven relativ schnell wieder ins Koma und das wohlig warme, taube Gefühl stellte sich wieder ein. Dieses taube Gefühl hatte sich leider auch ihrer für den Antrieb so wichtigen Gliedmaßen bemächtigt, die sie erst wieder wach rütteln und geschmeidig machen mussten – doch auch das klappte nach einigen Kilometern.

Wenn wir schon beim Thema Gliedmaßen sind. Auch wenn es ein heikles und vielleicht nicht ganz jugendfreies Thema ist – ja auch am männlichen Glied geht so eine lange Radausfahrt nicht spurlos vorüber und – aber keine Sorge – Radfahren macht nicht impotent! Also ziemlich sicher nicht. Hoffentlich! Lustfördernd ist es aber auch nicht unbedingt. So manches Glied soll schon versucht haben, sich ins eigene „Schneckenhaus“ zurückzuziehen auf der Flucht vor den permanent auf- und abstampfenden Oberschenkeln, die denkbar knapp an ihm vorbeirauschen. Auch im wohl empfindlichsten männlichen Organ stellt sich bei langen Ausfahrten ein gewisses, taubes Gefühl ein – oder eher gesagt, fühlt man eigentlich gar nichts mehr. Es sei denn, man kommt in den besonderen Genuss, dass der zusammengeschrumpelte Piepmatz einfach leise, still und heimlich entschlummert. Jeder der schon einmal seinen Sattel nicht exakt waagrecht vorne, sondern etwas nach oben gestellt hat, weiß, dass das kein Scherz ist. Der Piepmatz kann tatsächlich einschlafen, wie man es sonst nur von anderen Gliedmaßen kennt. Das Schlafen an sich macht sich freilich – wie bekannt – nicht bemerkbar, dagegen das Aufwachen aus dem Teilzeit-Koma umso mehr. Es beginnt zuerst mit einem leisen Kribbeln, das sich dann zu einer ausgewachsenen Ameiseninvasion auswächst. Alles in allem kein wirklich schönes Gefühl – aber gewisse Opfer muss man für den Sport schon bringen. Wie die Profi-Piepmatze nach einer dreiwöchigen Tour de France aussehen, möchte man sich lieber nicht vorstellen ... Mist – zu spät! Wie bringt man dieses Bild jetzt wieder aus dem Kopf?