Elijas Lied

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Noa überlegt, wann er heute in die Kantine kommt. Meistens isst er schon um halb zwölf. Damit die beiden sich noch kurz sehen, bevor Noa frei hat. Akim stellt sich dann in die Schlange, umklammert sein Tablett. Noa setzt ein Schälchen mit Salat und ein Hauptgericht darauf. Sie ist jedes Mal überrascht, wie gut diese Mahlzeiten aussehen, wenn sie serviert werden. Wie frisch. Vielleicht wegen der Farbstoffe.

Wann sehen wir uns?, raunt er jedes Mal. Das findet er romantischer, als ihr eine Nachricht zu schreiben.

Noa lächelt nur, sagt nichts, legt ihm in Servietten gerolltes Besteck hin. Lässt ihre Augen kurz aufleuchten. Dann ist sie wieder unauffällig.

Der Salat ist heute besonders hartnäckig, lässt sich nicht zerpflücken, sondern muss geschnitten werden. Mit dem Messer rollt sie über die Blätter, es knackt, und der Sud sammelt sich auf der Schneide.

Sie mag das grüne Blut, sie mag, wie die Blätter austrocknen, dunkler werden und dann nur noch hübsch sind, wenn sie Dressing drübergießt.

Sie wartet auf Akim.

Schon oft hat sie überlegt, die Stelle in der Kantine aufzugeben. Zeitungen auszuliefern oder mit einem Paketauto umherzufahren. Sie hat es nie gemacht. Vielleicht wegen Akim. Vielleicht wegen des Salats.

In der Küche wird der Nebel dichter. Die alte Frau hat angefangen, die Schnitzel in die Pfannen zu werfen. Sie tauen auf und braten gleichzeitig. Das riecht wie auf einem Schlachthof, denkt Noa. Aus den Pfannen steigen dampfende Geister auf.

Vom Salatschneiden wird sie träge. Kurz überlegt sie, ob Akim eine Nachricht geschrieben hat. So was wie: Ich komme heute nicht runter zum Essen. Muss mit einem Kunden ins Restaurant. Sehen wir uns heute Abend?

Noa guckt in die Schwaden. Fragt sich, warum alles so weiß ist und warum das Salatblut die einzig richtige Farbe hier ist. Und warum gut verdienende Menschen so ein Zeug essen. Zeitdruck muss das einzige Argument dafür sein, denkt sie. Atmet die Dämpfe ein. Davon wird sie satt, und ihr wird etwas übel. Noa schnibbelt weiter. Schaut nicht hoch, bis ihr das Messer aus der Hand rutscht, runterfällt, sie hebt es auf, blickt umher. Am Kaffeeautomaten steht Akim, er achtet nicht darauf, wie das Instantpulver mit Wasser in die Tasse läuft. Er sucht den Dunst nach Noa ab.

Sie lächelt, weiß aber nicht, ob er es sieht. Sie will nicht, dass er sie fragt: Was machst du heute Abend? Diese Diskussion soll nicht losgehen.

Akim tritt näher an die Scheibe, hinter denen die Muffins liegen. Er sucht sich einen aus, wartet, bedient zu werden. Eigentlich ist das heute nicht Noas Aufgabe. Sie geht trotzdem zu ihm. Er grinst.

Ich muss mit einem Kunden zu Mittag essen, haucht er. Aber abends habe ich Zeit.

Noa nimmt den Muffin vorsichtig aus der Auslage.

Ich muss arbeiten.

Sie setzt den Muffin auf einen Teller, legt eine gemusterte Serviette dazu und trägt ihn zur Kasse.

Ach, so nennst du das, murrt er, hält seine Karte an das Lesegerät. Es piept, bucht den Betrag ab.

Ja, so nenne ich das, sagt Noa schroff.

Und wen machst du glücklich?

Noa sieht, wie Akim seine Schultern anspannt, wie sein Gesicht hart wird. Wie jedes Mal, wenn sie über Noas richtigen Beruf reden.

Du hättest es am liebsten, wenn ich hier den ganzen Tag Muffins verkaufen würde, faucht sie leise. Sie will nicht, dass die anderen etwas mitbekommen. Sie will sich vorstellen, dass die anderen nicht wissen, was da zwischen ihr und Akim ist. Dass sie nicht denken: Von der Kantine in die Chefetage. Aber das denken sie eh schon.

Nein, lügt Akim. Ich will nur …

Ich will jetzt nicht darüber reden, Akim.

Und ich würde dich gerne heute Abend sehen.

Ich kann zu dir kommen, nachdem ich fertig bin, schlägt Noa vor.

Akim muss nichts sagen, nicht den Kopf schütteln. Er streckt die Hand nach ihr aus. Sie weicht zurück.

Mach’s gut, zischt er, und sie nickt.

Zehn. Sechsundzwanzig

Das Moor erstreckt sich weiter, als die Schwestern gedacht hätten. Loth fährt mit dem Finger den Weg ab, den sie gelaufen sind. Merkt, dass sie einen Umweg gemacht haben, dass es eine Abkürzung gegeben hätte. Die haben sie übersehen. Und jetzt geht es nur noch die Holzplanken entlang. Immer die Holzplanken entlang, mal etwas gerader direkt am kleinen Bach, dann gewundener. Loth geht schneller. Sie will dieses Moor nicht mehr sehen.

Sie trauert dem Moor von früher hinterher. Dem aus der Kindheit. Das war doch ein anderes, oder nicht? Loth hätte gedacht, dass wenigstens die Natur bleibt, wie sie ist. Oder sich nur langsam verändert. Dass mal ein Baum stirbt und ein neuer wächst. Aber nicht, dass sich die Farben so austauschen und die Größenverhältnisse.

In ihrem alten Kinderzimmer hängt ein Bild vom Toten Meer. Zeigt die Schwestern als Kinder, wie sie auf der Wasseroberfläche treiben, mit Zeitungen. Loth weiß, dass das Meer geschrumpft ist und das Moor sich hier ausgebreitet hat. Dass irgendwelche Forscher da wieder einen Zusammenhang sehen. Diese Forscher, die behaupten, dass alles irgendwie aufeinander wirkt. Aber Loth kann das nicht glauben. Dieses Moor steht doch nur für sich allein. Hat nichts mit dem Moor drei Berge weiter zu tun und auch nichts mit dem Toten Meer. Und auch nicht mit dem Moor, in dem Loth eigentlich sein möchte.

Vielleicht ist es auch gar nicht das Moor, durch das sie früher gelaufen sind. Vielleicht haben die Eltern sie angelogen. Dieses Moor hier mit einem anderen verwechselt, den Namen im Fotoalbum verkehrt zugeordnet.

In diesem Moor ist sie zum ersten Mal. So muss es sein. Sie und die Schwestern gehen gar nicht die alte Route, die alte Wanderung, die sie mit den Eltern gemacht haben. Das hier ist ein ganz neuer Pfad. Nur dass Elija und Noa es nicht merken. Elija und Noa denken, sie kommen zurück. Aber das stimmt nicht, denkt Loth und ist sich sicher.

Die Eltern lügen oft, oder nicht? Warum sollten sie dann bei einem Moor ehrlich sein!

Die Eltern, die sich mit Loth auf das Sofa setzen und sich ihren Plan anhören. Den Plan von der Wanderung zu dritt. Den Plan, noch einmal Schwestern zu sein. Den Plan, zu dritt auf den Berg zu steigen. Und die Eltern lächeln und freuen sich, und der Vater tätschelt Loths Hand, durchsucht danach alle Fotoalben nach Hinweisen und den Keller nach den alten Reiseführen. Und die Mutter schaut Loth lange an und sagt dann: Ich finde es gut, dass du das mit Noa und Elija machen möchtest. Ihr seid Geschwister.

Und Loth isst Kuchen und trinkt Kaffee mit Milch und wartet, bis der Vater ihr die Reiseführer in die Hand drückt. Sie blättert sie durch. Die Routen sind mit Klebezetteln markiert. Die Mutter schreibt ihr die Telefonnummern von Elija und von Noa auf und warnt sie vor. Sei nicht enttäuscht, wenn die beiden vielleicht nicht mitkommen möchten.

Die werden schon wollen, sagt Loth und weiß, dass sie überzeugend sein kann.

Jetzt stapft sie durch das Moor. Wütend und jeden Schritt hassend. Der Vater hat sie belogen, glaubt sie. Der hat ihr irgendwelche anderen Karten gegeben. Der hat sie angelogen, der will nicht, dass die drei noch einmal zusammen sind, wie sie das als Kinder waren. Der will, dass es Loth schlecht geht. Loth ist sich sicher, und Loth hasst den grellen Tag, und Loth schreit in sich hinein: Was wollen wir in diesem Moor?

Zehn. Achtunddreißig

Elija findet die Umgebung trüb. Obwohl so schönes Wetter ist, ist es ihr im Moor zu eintönig. Sie sieht Loths Umrisse einige Meter vor ihr. Elija schnauft, versucht, schneller zu sein. In ihren Seiten sticht es. Sie atmet unregelmäßig.

In der Theatergruppe ist sie die mit der meisten Ausdauer.

Elija steht im Probenraum. Dunkler Tanzboden und eine hohe Decke, keine Fenster in den Wänden. Nur die Scheinwerfer beleuchten die Gruppe. In einem Kreis liegen sie auf dem Boden. Elija mag es, den festen Untergrund zu spüren, all ihre Kraft hineinzudrücken. Der Boden gibt einfach nicht nach. Er hält sie.

Elija spiegelt Mio, Mio spiegelt Lena, und Lena spiegelt Nino. Komplett synchron bewegt sich der Kreis über den Boden. Konzentrierte Bewegungen, die Augen weit aufgerissen, keine Regung wird verpasst. Elija schaut nicht auf Mios Körper, nur in seine Augen. Darin kann sie sehen, welchen Körperteil er als nächsten verändern wird. Sein Bein streckt sich, wird höher als sein Kopf, Elija ist gelenkiger, könnte das Bein weiter anheben. Aber sie lässt es. Darum geht es jetzt nicht. Vom Scheinwerferlicht fühlt Elija sich beschützt. Es legt sich um sie und die Gruppe. Als Kreis rollen sie sich zur Seite. Verlieren dabei kurz die Form, kommen wieder zusammen. Mio beginnt mit dem Aufstehen. Erst die Knie durchstrecken, den Oberkörper aufrichten. Dann stehen sie alle, Mio lässt den Kopf hängen, beendet so den Kontakt.

Die Gruppe atmet aus, sie lösen sich voneinander.

Elija schaut zu Kassandra, der Regisseurin. Sie lächelt, kommt zu ihnen in den Kreis. Eine kurze Trinkpause. Dann geht es weiter.

Zehn. Sechsundvierzig

Ein hohes Tor aus Holz. Dahinter beginnt ein Weg. Der Bach biegt ab, schlängelt sich weiter durch das Moor.

Die Schwestern treten von den Planken auf betonierten Boden. Ein leerer Parkplatz. An vielen Stellen ist der Beton aufgeplatzt. Die ersten Birken zwängen sich aus den Spalten. Am Rand des Parkplatzes stehen hohe Bäume. Noa hebt die Arme, streckt sie aus. Versucht, bis an die Wipfel zu kommen, lacht, als sie es nicht schafft.

In ihr ist es ganz ruhig. Sie versucht, sich an die Zeit vor dem Moor zu erinnern. Der Morgen, das Aufwachen. Alles scheint so lange her zu sein. Genau wie Loths Anruf vor einem halben Jahr. Die Frage, ob sie Lust hat auf eine Wanderung, und Noa murmelt: Das muss ich mir erst überlegen. Und nimmt sich zwei Monate Zeit zum Grübeln, bis sie Ja sagt, obwohl sie eigentlich Nein denkt. In Noa ist es still. Ihr Herz pocht gleichmäßig. Sie sieht sich um. Ist plötzlich froh, dass Elija da ist. Und auch Loth. Gerne würde sie sie umarmen. Aber das würde Loth zu sehr durcheinanderbringen. Noa lässt es.

 

VON ELF BIS VIERZEHN

Elf. Sechzehn

Die Brauntöne auf dem Boden sehen aus wie der Herbst. Darüber liegt faulendes Holz. Eine graue Felskante springt hervor, zackig und spitz. Loth lehnt sich dagegen. Die Schwestern sind noch nicht angekommen. Stehen noch auf dem Pfad. Noa hat Angst, die Wege zu verlassen. Loth findet das albern. Was soll schon passieren, außer ein bisschen Über-Wuzeln-Stolpern?

Die Tannen sind kahl am Stamm. Nur oben sind Äste ausgeschlagen.

Mit der Hand fährt Loth über die Rinde. Lange hat sie nichts Raues mehr gespürt.

Im Zug hat sie Sehnsucht nach dem Rauen, nach dem Wind. Sie schaut durch die Fensterscheibe, dahinter lauert die Natur. Rapsfelder bei Weimar, Felsen bei Jena. Und je westlicher man kommt, desto kleiner werden die Felder. Braungepflügtes oder auch hoch stehender Mais. Da will sie hindurchlaufen, die Arme ausgebreitet, den Mais umschlagen, eine Schneise hinterlassen.

Die Natur fliegt vorbei, die Felder verschwimmen. Braun in Grün, und dann nur noch tote Erde. Ein Dorf oder was. Loth lehnt sich zurück.

Minki sitzt ihr gegenüber, streckt seine Beine aus, berührt ihren Fuß versehentlich.

Tschuldigung, murmelt er. Loth nickt, zieht ihre Füße zurück.

Minki schaut sie an, schon eine Weile. Er denkt, sie merke es nicht. Er denkt, er mache es unauffällig. Aber das schafft er nicht. Minkis Gedanken kann jeder lesen.

In Minkis Zimmer in Halle hängt der Kalender, für den Loth gemodelt hat. Sie in dem Defend-Europe-T-Shirt und mit halterlosen Strümpfen. Sie mit erhobenen Mittelfingern und Farbe auf ihren Brüsten. Ein gelbes Symbol, und auf dem Bauch: Still not loving Antifa.

Auf der nächsten Seite: Sie mit dem Baby von Bekannten, und beide in einem Hoodie. Heimatschützer, steht darauf. Eingestickt mit gelbem Garn.

Loth findet die Bilder heiß. Vielleicht noch heißer als die Jungs, glaubt sie manchmal. Wenn Loth einen blassen Tag hat, öffnet sie die Dateien auf ihrem PC. Macht die Bilder groß und schaut sich an. Wie schön sie ist. Wie glatt ihre Haut, wie symmetrisch ihr Gesicht. Wie dünn ihr Körper und wie groß ihre Augen aussehen.

Auf den Bildern trägt sie blaue Kontaktlinsen. Das sieht spannender aus als ihre natürlichen braunen Augen. Das macht sie heller. Ihre Haut und ihr braunes Haar. Die blauen Augen als Kontrast.

Der Zug ist voll, jeder Platz besetzt. Von Anzugträgern und von Hippiefamilien. Auch ein paar Studenten sind dazwischen. Manche, die sich besonders extravagant fühlen. Im Retrostyle herumsitzen und auf ihre MacBooks starren. Loth wird schlecht. Vielleicht, weil sie rückwärtsfährt. Mit dem ICE reist Loth normalerweise nie. Viel zu teuer. Diesmal haben sie es aber nicht geschafft, etwas anderes zu buchen. Sie waren zu spontan. Haben verschlafen, dass es diese Demo in Bonn gibt und dass sie sich als Redner angemeldet haben.

Loth faltet ihr Blatt auseinander. Sie hat die Rede nachts geschrieben. Sie weiß, dass ihre trotzdem die beste sein wird. Die, bei der die Leute am meisten zustimmen, bei der alle ein bisschen gerührt sind. Sie wird wütend gucken, die Stirn in Falten legen, besorgt in die Zukunft schauen. Von ihren potentiellen Kindern anfangen und, so oft sie kann, das Wort Ethnie benutzen. Die blamieren, die sie immer angreifen, die ihr nicht glauben, die, die auf der anderen Seite der Barrieren stehen. Denen wird sie entgegenbrüllen, dass sie sich nichts wegnehmen lassen wird. Nicht von den Brüllern, nicht von den anderen.

Mit dem Bleistift in der Hand überfliegt Loth ihren Text noch einmal, markiert sich die wichtigsten Punkte, zeichnet Atempausen ein.

Im Vierer auf der anderen Seite des Gangs sitzen Hanno, Max, Sina und Richard. Sina lehnt an Richards Schulter. Sie döst, und Richard liest.

Max umklammert sein Tablet, schneidet ein neues Video. Das soll vor der Demo rausgehen. Noch drei Stunden Fahrt. Loth ist skeptisch. Max riecht wieder nach Alkohol, vielen Tagen ohne Dusche, nach Müdigkeit und ein bisschen nach Frust. Max hat Abonnenten verloren. Nicht wenige. Seine Livestreams gehen im Internetgetöse mittlerweile unter. Vor ein paar Monaten war er der Star, wurde auf der Straße angesprochen. Jugendliche wollten Selfies mit ihm machen. Marken wollten nicht mit ihm kooperieren, aber das hat ihn nicht gestört. Durch die Klicks hat er genug eingenommen.

Max lädt jetzt zweimal in der Woche Videos hoch. Er und seine Gedanken, und dann er und seine Freunde. Wie sie um ein Feuer sitzen, die alten Lieder grölen. Manche Videos sind gesperrt worden. Die, die übrig sind, schaut kaum jemand.

Loth?, fragt Max und beugt sich über den Gang.

Ja?

Wie findest du das als Titel?

Max reicht Loth das Tablet. Unter einem Haufen Hashtags steht ein langer Titel. Meinungstod und Sprechverbote. Dunkelziffer. Reconquista. Ein paar Prozentzahlen wüten dazwischen.

Mag ich nicht, sagt Loth und gibt das Tablet zurück.

Warum nicht?

Für deine Art von Video finde ich das unpassend.

Max nickt unbeeindruckt, denkt kurz nach, ändert den Titel nicht und lädt das Video hoch. Er nutzt das WLAN der Bahn.

Loth wendet sich zum Fenster. An ihr hetzt die Landschaft vorbei. Die kleinen Dörfer, die depressiven Städte.

Noch ein Blick zu Max. Das Video wurde erfolgreich veröffentlicht. Ab jetzt warten alle auf Klicks, auf Kommentare. Zufrieden packt Max seine Bäckereitüte aus, beißt in sein Brötchen. Es riecht nach Senf.

In Loth kribbelt es. Die Wut schon wieder, oder was, fragt sie sich. Ihre Hände werden nervös, wenn sie das YouTube-Rot sieht und die kleinen Fenster mit den Anzeigebildern. Die Maus, die über den Screen huscht. Sie denkt an die Kommentare und ihre Videos. An die Klickzahlen. An die Foren, in denen die Videos geteilt wurden. An ihr Gesicht im Anzeigefeld. An ihre Stimme in den Lautsprechern fremder PCs. An ihr Make-up. An die Nachfragen, wann sie wieder etwas hochlädt. Wenn ihre Stimme endlich richtig stark ist, denkt sie. Genauso stark wie ihre Texte. Wenn die Stimme ein weites Spektrum hat, in verschiedenen Farben klingt. Mal sinnlich und gehaucht. Und dann erst wieder hart und fordernd. Jetzt ist ihre Stimme immer gleich. Hart und wild, aber auch etwas dünn. Sie müsste üben, Stimmübungen machen. Sie heftet den Blick an die Landschaft. Doch die bleibt nicht, egal, wie fest sie schaut. Die Hügelketten sind schon vorbei, bevor sie sie richtig gesehen hat. Loth will nicht mehr durch die Natur fahren. Loth will nicht in der Stadt ankommen.

Sie steht auf, geht ins Bordbistro. Dort gibt es schwarzen Kaffee.

Loth hat eine Kolonie Pilze entdeckt. Rote kleine Pickel, findet sie.

Kommt doch mal her, ruft sie den Schwestern zu. Die stehen brav am Weg und trauen sich nicht.

Elija stolpert bestimmt, brüllt Noa zurück. Sie sieht doch die Äste nicht so gut.

Elija übersieht ständig irgendwas, denkt Loth, als Elija schon den Schotterweg verlässt. Auf sie zukommt. Ab und an strauchelt sie. Kann ihr Gleichgewicht nicht gut halten, muss stehen bleiben, die Arme ausstrecken, bis sie sicher ist. Dann geht sie weiter.

Die Pilzgruppe leuchtet grell in den Wald. Unter dem Nadeldach ist es angenehm kühl. Der braune Boden feucht. Elija atmet tief ein. Sie mag es, Feuchtigkeit in den Lungen zu haben. Dann geht alles leichter für sie. Mit den Augen konzentriert sie sich auf Loth. Auf das Gerippe neben den festen Stämmen. Das dunkle Tanktop vor den moosigen Felsen. Elija will schnell bei Loth sein, sie anfassen. Fühlen, ob Loth wirklich echt ist. Ob sie warm ist an der Haut. Für Elija sieht es nicht so aus.

Ihr Bein gerät in eine Senke. Der Eingang zu einem Bau? Schnell zieht sie das Bein hinaus, stabilisiert sich mit dem anderen. Es ist so schwer, zu Loth zu kommen. Sie macht einen letzten Schritt, dann müsste sie es geschafft haben.

Die Pilze!, kreischt Loth, schubst Elija. Sie stößt gegen einen Baum, schaut hinunter. Inmitten der Pilze der Fußabdruck. Gebrochen liegen die Roten da. Leuchten nicht mehr.

Warum hast du das gemacht?, schreit Loth und stellt sich dicht vor Elija.

Elija versucht zu sprechen, bekommt keine Luft, bekommt keine Worte in den Mund. Bei ihr ist es so, dass ab und zu die Worte im Kopf stecken bleiben und nicht wie bei anderen einfach so in den Mund rutschen. Sie muss um jedes Wort kämpfen, das Gehirn bitten, mit viel Konzentration. Und dann hoffen, dass die Lippen mitmachen. Jetzt machen sie nicht mit.

Holpriger Atem kommt aus Elijas Mund. Manchmal ist ein Laut dabei.

Was macht ihr?, ruft Noa vom Weg aus.

Elija zerstört mal wieder alles!

Ich habe euch gesagt, dass ihr auf dem Weg bleiben sollt.

Wir kommen jetzt, schreit Loth. Sie zückt ihr Smartphone und macht ein Foto von den Pilzen.

Das kannst du dir einrahmen, zischt sie Elija zu und zerrt sie vom Baum weg. Und das guckst du dir dann immer an, wenn du wissen willst, was du alles so kannst.

Sie zieht Elija an der Jacke, lässt erst locker, als Noa sie sehen kann.

Elija will weinen, aber sie hat keine Tränen für die Pilze. Sie verschränkt die Arme vor sich, stolpert hinter Loth her. Einmal fällt sie fast, Loth fängt sie auf.

Elf. Achtunddreißig

Schon am Fuß des Berges ist der Weg steil. Er ist mit Schotter ausgelegt. Ab und zu bleibt ein kleiner Stein im Profil von Noas Schuhen hängen. Sie löst den Stein nicht, läuft weiter, bis er entweder so verkeilt ist, dass er nicht mehr stört, oder von selbst herausfällt. Sie spürt, wenn ein Steinchen aus der Sohle springt, die Steigung wieder hinunterrollt, die sie ihn hochgeschleppt hat. Noa will die Zeit am Himmel ablesen, wissen, wie weit der Tag schon gewandert ist. Es müsste bald Mittag sein. Doch hochschauen bringt nichts. Die Bäume stehen dicht.

Noa zählt die Minuten. Alle Salate sind zerpflückt und in Dressing gebadet. Als Letztes muss sie die Oberflächen abwischen. Die Alte und das Mädchen schauen zu Noa herüber. Sie müssen bis zum späten Nachmittag arbeiten. Ihre anderen Jobs gehen erst am Abend los und dauern bis in die Nacht.

Noa versucht, aufmunternd zu lächeln. Das Mädchen schaut schnell weg. Die Alte bemüht sich, zurückzulächeln. Aber so gut wirkt das Antidepressivum nicht.

Schnell konzentriert Noa sich wieder auf den Lappen. Er ist sauber, sie spült ihn dennoch einmal aus und desinfiziert ihn. Sie schiebt ihn über die Fläche. Es darf nichts übrig bleiben vom Salat. Es darf keine Spur geben von ihr. Die metallene Arbeitsfläche wird feucht und wieder trocken. Noa reibt wieder und wieder darüber. Bis sie sich spiegelt. Nicht nur die verschwommenen Umrisse, sondern ganz klar. Die weiße Haube über dem roten Haar, die hellen Augen, die vollen Wangen, die Nase, die Lippen. Alles sieht aus, als gehörte das zu einer anderen. Als wäre das Gesicht in die weiße Arbeitskleidung eingenäht. Augenringe und trübe Kieferknochen gehören einfach dazu. Vielleicht hätte Noa nicht so ordentlich schrubben sollen. Es so machen wie die Alte. Sie lässt ihren Arbeitsplatz nie sauber zurück. Manchmal putzt das Mädchen ihn für sie. Manchmal der alte Mann. Noa eigentlich nie. Sie bleibt nicht lange genug.

Noa legt ihren Zeigefinger auf das Spiegelbild. Er hinterlässt einen Abdruck. Die Fläche ist nicht mehr sauber, denkt Noa und will noch mal wischen. Doch ihre Augen bleiben an dem milchigen Gesicht zurück. Bevor sie in die Kantine gekommen ist, war ihr Spiegelbild anders. Und wenn sie in zwei Stunden wieder geht, wird es wieder wie vorher sein, oder?

Noa bleibt stehen. Elija schnauft, stützt ihre Seiten mit den Händen. Der Himmel kommt ihr weit entfernt vor. Die Steinchen unter den Schuhen wollen sie den Berg runterrollen lassen, sie wieder an das Ende des Moores stellen. Sie tritt bei jedem Schritt fest auf. Das ist anstrengend, aber fühlt sich gut an. Sie muss an die Pilze denken. Wie viele verschüttete Pilze liegen wohl unter dem Weg oder haben dort gelegen? Jetzt sind sie schon lange verwest, und der Boden unter dem Weg denkt nicht mehr daran, Pilze nach oben zu schicken.

Elija lässt Noa überholen, legt ihre Hände um Noas Taille und lässt sich eine Weile ziehen. Das tut gut. Die Füße bewegen sich, ohne dass sie sich anstrengen müssen. Elija spürt, wie Noa sich vorlehnt, mit Kraft die Knie durchdrückt und die Fersen in den Boden stemmt. Elija schließt die Augen. Die Vögel zwitschern leise, es ist Mittag, da halten sie sich zurück. Elija hört den Kuckuck rufen, hört das Murmeln eines Bachs. Der Wald singt, findet sie.

 

Der Probenraum singt auch. Am meisten, wenn niemand drin ist, außer Elija. Wenn Pause ist und die anderen draußen spielen oder am Getränkeautomaten Kakao kaufen.

Elija setzt sich in die Mitte des Raumes, da, wo das Zentrum der Bühne ist. Sie lauscht. Der Boden erinnert an die letzten Szenen. Elija mag die Stimmen, die von draußen kommen. Mag, dass sie alleine hier liegen kann. Ihr ist warm, obwohl der Tanzboden immer kühl ist.

Ohne hinzusehen, merkt sie, dass Kassandra in den Raum gekommen ist. Sie setzt sich an ihren Regietisch, notiert etwas in ihrem Buch. Elija hört das Kratzen des Bleistifts.

Elija rollt etwas näher an Kassandra heran. Kassandra riecht nach zu viel Kaffee, nach zu vielen Zigaretten und zu wenig Schlaf. Die Schultern hängen schlaff nach vorne, die Augen sind tief in den Höhlen versteckt, strahlen aber immer. Mit Kassandras Körper ist irgendwas, weiß Elija. Manchmal steht Kassandra schief da, beobachtet die Spielenden auf der Bühne. Die Arme hinter dem Rücken verrenkt, die Beine eng aneinandergepresst, die Augen aufgerissen, aber nicht sehend. Kassandra ist dann woanders. Niemand weiß, wo.

Jetzt sitzt Kassandra ruhig auf ihrem Stuhl, schreibt wild Worte in das Buch. Ob sie was mit der Probe zu tun haben, weiß Elija nicht.

Sie rollt noch ein Stück näher. Landet mit dem Oberkörper unter dem Tisch. Sie streckt die Hand aus, erreicht Kassandras Knöchel. Streichelt ihn.

Kassandra schreibt weiter. Elija hört, welches Lied der Raum singt. Dann summt sie es mit, leise. So, dass ihre Ohren es kaum hören. Nur Bauch und Mund wissen, dass sie summt. Und Kassandra.

Unter dem Tisch sehen Kassandras Beine massiver aus, als wenn sie steht. Als könnte Kassandra nie umknicken. Wenn sie Regieanweisungen gibt, denkt Elija das auch oft.

Wenn sie Kassandra aber sieht, vor der Vorstellung und vor einem Gespräch mit der Presse, ist sie ganz klapprig. Dann sieht keiner mehr, wie sie sprühen kann, wenn sie probt.

Elija rutscht weiter unter den Tisch. Sie lehnt ihren Kopf an Kassandras Schienbein.

Sie hört, wie es in Kassandra brodelt. Wie die Gedanken nicht nur im Kopf unterwegs sind, sondern durch den ganzen Körper strömen. Bei keinem anderen Menschen hat Elija das jemals gehört. Elija hat auch keinen anderen Menschen getroffen, der so viel arbeitet wie Kassandra.

Manchmal, wenn Elija nicht schlafen kann, nimmt sie ihren Laptop. Es ist vier Uhr morgens oder vielleicht auch schon fünf. Und sie öffnet ihr Mailpostfach, wartet kurz und findet dann immer eine neue Mail von Kassandra. Ein Link zu einem Video, ein Bild, eine Nachricht, die aus zwei Sätzen besteht. Elija weiß, dass Kassandra anderen Menschen längere Nachrichten schreibt.

Rede mit mir wie mit den anderen, murmelt Elija und beginnt mit Kassandras Schnürsenkeln zu spielen. Kassandra unterbricht das Schreiben, wird auf ihrem Stuhl gerade. Elija spürt, wie sie den Stift umklammert, sich alles in ihr anspannt.

Das mache ich doch, sagt sie schnell und muss selbst wissen, dass sie lügt. Sie schweigen. Kassandra schreibt nicht weiter, lauscht, wie Elija atmet und unter dem Tisch die Schnürsenkel Geräusche machen.

Langsam schiebt Kassandra den Stuhl zurück, lässt sich auf den Boden gleiten, rutscht zu Elija unter den Tisch.

Elija schaut an sich herunter. Sie traut sich nicht, Kassandra anzusehen. Manchmal ist sie eingeschüchtert von den stechenden grünen Augen. Diese Augen, die alles sehen, denen nichts entgeht. Augen, die zu allem eine Meinung haben und alles mit irgendwas in Verbindung bringen. Kassandra trägt einen weiten schwarzen Rock, darunter eine goldene Glitzerstrumpfhose. Kassandras Körper ist größer als der der anderen. An ihm kann viel abprallen. Er sieht stark aus. Kassandra wirft fast nichts um. Nur mit Elija auf dem Boden zu sitzen, das macht sie nervös, spürt Elija.

Du sagst mir was nicht, nuschelt Elija, macht die Augen zu. Sie will nicht sehen, wie Kassandra reagiert.

Das stimmt, antwortet Kassandra schnell. Bewegt sich so, dass sie genau vor Elija sitzt, nimmt ihr Gesicht in die Hände, hebt es an. Jetzt muss Elija Kassandra angucken. Die markanten Wangenknochen und die rosageschminkten Lippen. Die Lippen sehen unnatürlich aus und auch nicht so, als würden sie zu Kassandras Gesicht gehören.

Elija kann nicht anders, als ihre Hand auszustrecken und die Lippen zu berühren. Kassandra weicht zurück, sagt: Das möchte ich nicht. Und Elija automatisch: Entschuldigung.

Eine Weile schweigen sie. Kassandra mustert Elijas Gesicht, sucht etwas. Ob sie es findet, fragt Elija sich. Sie versucht zu lächeln, nett auszusehen. Aber ihr Gesicht ist, wie es ist. Sie kann es nicht mit Absicht verstellen, so wie die anderen Erwachsenen das immer machen.

Du, Elija, setzt Kassandra an, ich habe mir eine Sache überlegt, die ich mit dir besprechen muss.

Elija bekommt Angst. Es kam schon manchmal vor, dass jemand aus dem Theater geflogen ist, weil er nicht gut genug mitgemacht hat oder alles zu schwer für ihn war. Elijas Herz trampelt gegen den Brustkorb. Elija wird übel.

Kassandra lässt Elijas Gesicht los, bindet sich die Schuhe wieder zu.

Ich will ein Stück mit dir machen. Nur mit dir und einem Musiker.

Elija lacht. Ihr Herz schlägt normal. Sie klatscht in die Hände.

Ein Stück nur mit mir und einem Musiker?, fragt sie. Das hat sie gelernt. Immer nachfragen. Manches versteht sie falsch. Meistens besser, als es dann am Ende ist.

Aber es wird nicht leicht, beeilt sich Kassandra zu sagen. Und ich bin nicht sicher, ob das alles so eine gute Idee ist.

Beide sind stumm. Elija lehnt sich zurück. Ihr Kopf schlägt gegen das Tischbein. Das macht nichts. Nur ein bisschen Schwindel.

Ich möchte mit dir weiter an dem Hagar-Thema arbeiten. Ich möchte mit dir einen Abend machen, der sich aber auch noch mit einem anderen Thema beschäftigt. Ein Thema, das nicht so leicht für dich ist.

Beide sind stumm. Es braucht keine Worte. Elija weiß, was Kassandra meint. Sie denkt an Hagar, an die Wüste und Ismael in Hagars Bauch. Sie denkt an die Hitze und den Durst und an sich und das Nachthemd. Und an sich und das Stück Papier, das nicht sie unterschrieben hat. Elija darf nicht unterschreiben, und wenn sie es macht, dann zählt es nicht. Sie denkt an die Schüssel aus Metall und ihre gespreizten Beine. An Ismael, oder wie soll sie ihn nennen? Und an sich, wie sie nicht an sich denken will.

Nur, wenn du einverstanden bist. Ich weiß, das wird nicht leicht, wiederholt Kassandra, streckt die Arme aus. Elija krabbelt auf sie zu, legt sich in die Arme hinein. An den robusten Brustkorb mit den harten Rippen. Das spitze Kassandrakinn legt sich vorsichtig auf Elijas Scheitel. So können sie bleiben, findet Elija.

Überleg dir das bitte gut und frag deine Eltern, sagt Kassandra.

Hm, macht Elija und weiß, dass sie natürlich nicht ihre Eltern fragen wird. Und auch nicht Mio oder irgendjemanden sonst. Sie hat das schon entschieden. Sie sieht sich auf der Bühne, allein in einem Hagarkostüm, und sie hört, wie Mio ihr die Kritik in der Zeitung über das Stück vorliest, das gefeiert wird. Und sie sieht sich damit um die halbe Welt reisen. Denn alle müssen von Hagar wissen. Und von ihr. Von Elija.

Wie gesagt. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, raunt Kassandra noch einmal.

Zwölf. Sieben

Elija lässt Noa los. Sie läuft wieder allein. Die ersten Schritte fühlt es sich seltsam an, die eigene Kraft benutzen zu müssen. Aufrecht zu stehen.

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