Alvine Hoheloh

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Mit 22 Jahren ehelichte Eduard die gleichaltrige Marie, einziges Kind eines verarmten Winzers. Er zog zu ihrer Familie. Das Weingut befand sich am südwestlichen Ende des Reiches. Binnen kurzer Zeit lehrte man ihn den Weinanbau, seine unternehmerischen Qualitäten kamen der Vermarktung zugute, obgleich dieses Unternehmen nach wie vor nur läppische Gewinne abwarf. Der grüne Daumen verschliss offensichtlich von Generation zu Generation mehr. Somit konzentrierten sich die junge Winzerin und ihr angeheirateter Jungweinbauer darauf, aus der karg geschöpften Maische ein edles Tröpfchen zu kreieren.

Die wenigen Flaschen erfreuten sich bald respektierlicher Beliebtheit unter den Kenner*innen und sicherten dem Weingut ein achtbares Einkommen. Reich wurden sie davon folglich nicht und um das uralte Anwesen regelmäßig zu sanieren und die Rebstöcke anständig zu hätscheln, benötigte es mehr als einmal Finanzspritzen aus der großen Stadt. Doch die Eltern liebten ihren Sohn und auch die heitere Schwiegertochter, sodass sie es wie eine Kleinigkeit behandelten, ihnen unter die Arme zu greifen.

Maries Herz gehörte ihrer Heimat und den Weinbergen, wenngleich sie in all den Jahren nicht herausbekam, wie sie die Rebstöcke zu beschneiden hatte, um höhere Ernten zu erzielen. Und um einen Experten anzustellen, dazu war sie zu stolz. Lieber verzichtete sie auf Schmuck und glänzende Feste, als sich in ihre Arbeit hereinreden zu lassen. Eduard nannte sie liebevoll: mein süßes Trotzköpfchen oder kurz: Süßchen.

Seine Eltern erkannten wohl die charakterliche Ähnlichkeit, die zwischen Dorothea und Marie und vor allem der kleinen Alvine bestand, und sahen geflissentlich über solche Launen hinweg.

Letztlich plante Alfred seinerzeit, Eduard zum Haupterben zu küren. Bis es so weit war, würde sich Marie schon daran gewöhnen, ihren Weinberg eher als Steckenpferd denn als Lebensaufgabe zu betrachten. Und immerhin hatte sie ihren flatterhaften Erstgeborenen gezähmt und von seinen delikaten Geschichten abgebracht, ehe ein Bastard gezeugt oder er in eine Anstalt geschickt werden konnte. Marie und Eduard liebten sich sehr und stritten, ob ihrer hitzigen Gemüter ebenso gern.

Außerdem setzte das Paar erst Zwillinge weiblichen Geschlechts und dann noch einen Jungen in die Welt. Dorothea liebte Kinder und bestellte sie so oft wie möglich in die große Stadt oder fuhr den weiten Weg zu ihnen, um ihren Enkel*innen beim Wachsen zuzusehen.

Nach einer dieser Reisen sagte sie ihrem Gatten so ruhig wie bedeutsam: »Alfred, Marie wird ihren Weinberg niemals hinter sich lassen und Eduard wird bleiben, wo Marie ist. Wir müssen einen anderen Erben finden.«

»Zum Glück hast du mir noch zwei Weitere geschenkt«, entgegnete er. Heimlich hatte er Eduards Ausscheiden aus der Kandidatenliste längst vermutet, spätestens seitdem das dritte Enkelchen geboren war.

Karl hingegen verliebte sich schon als Kind in seine Brieffreundin Rebecca Grün, die eigentlich in derselben Stadt, doch in einer völlig anderen Welt lebte. Zufällig waren die beiden einander auf der Exposition universelle de Paris begegnet, waren eher schreibfaul, ab dann aber nicht füreinander. Nach jahrelangem regen Austausch schüchterner Verse und gegenseitiger Geschenke von den Reisen in der Weltgeschichte bat der achtzehnjährige Karl um ein Treffen.

Missmutig traf sich daher die ganze Sippe in einem Kaffeehaus und machte höfliche Konversation, obgleich die jungen Leute vor Aufregung keinen Ton herausbekamen. Die Eltern amüsierte das beidseitig, begleitete doch Karl andernorts immer ein aberwitziger Redeschwall und besaß die elegante Rebecca sonst ein nicht zu verachtendes dominantes Gemüt. Zum Abschied traute er sich jedoch nicht einmal, ihr die Hand zu küssen und sie fixierte ihre Schuhspitzen.

Danach quälte den armen Buben schmerzhafter Liebeskummer, sodass Dorothea sich gezwungen sah, ihm Feuer unterm Allerwertesten zu machen. Mit seinen Eltern im Rücken rollte Karl ein Großaufgebot auf und machte seiner Angebeteten eifrig den Hof. Sein Werben um Fräulein Grün wurde schließlich erhört. Ihre Eltern erlaubten die Hochzeit mit dem Nichtjuden, vor allem, da er ebenfalls einer Familie aus Seidenhändler*innen entstammte. Zwar lagen die ständigen Reisen in den Orient seit Alvines Geburt brach, denn Hohelohs konzentrierten sich nun auf ihre Schuhwerkstätten. Doch als Karl anbot, mit seiner künftigen Frau auch die alten Kund*innen seiner Eltern zu bereisen, ließen sich Alfred und Dorothea nicht schlagen. Das überzeugte die Familie Grün endgültig von dem Anwärter: die Tochter glücklich zu wissen, nicht mehr reisen müssen und nebenbei über doppelt so viele Kund*innenkontakte verfügen – die Ehe war und blieb ein Geschäft.

Mit Rebecca eröffnete sich für die Hohelohs ebenso der Weg zu vielen, sehr reichen jüdischen Geschäftsfreundschaften und Kund*innen. Schnell merkten Rebeccas Anverwandte auch, dass sie von Alfred und Dorothea gleichwertig behandelt wurden. Beide hatten noch nie ein Problem im Glauben gesehen und hatten auch nie verstanden, warum sie Grenzen im eigenen Land ziehen sollten. Das, da ihr Kreis doch ohnehin über Landesgrenzen hinaus reichte. Diesen Glaubenssatz hatten sie ihren Kindern mitgegeben und so freundete sich vor allem die kleine Alvine flink mit der Heerschar an Cousins und Cousinen ihrer künftigen Schwägerin an.

Um alle Gemeinden gütlich zu stimmen, ließen Rebecca und Karl sich dreimal trauen: standesamtlich, evangelisch und ein letztes Mal mit massigem Pomp in der Traditionssynagoge der Familie Grün.

Seither übernahmen Karl und Rebecca Hoheloh die Reisen in den Orient, um Seidenhandel zu betreiben. Ihre zwei kleinen Söhne verbrachten die meiste Zeit auf dem Weingut von Onkel Eduard und Tante Marie, wo sie zusammen mit dem restlichen hoheloh’schen Nachwuchs von zwei Kinderfrauen betreut wurden.

°°°

Alvines Brüder kamen, seitdem sie in den heiligen Stand getreten waren, nur noch selten auf Friedgolds Hof. Auch Dorothea blieb dieses Jahr länger in der großen Stadt und wollte erst in zwei Wochen gemeinsam mit Alfred dazu stoßen. All das war Alvine sehr recht.

Nach dem Debakel auf dem Ball der Casparis hatte sie so gut wie nie eine ruhige Minute gehabt. Ihre Gesellschafterin Greta hatte sie natürlich begleitet und angenehmerweise davon abgesehen, sie wegen Theodor Fürstenberg zu befragen. Alvine wollte ihn schnell vergessen, dazu war ausreichend Abstand von seinem Umfeld hilfreich.

Die Tage des Sommers waren in dieser Gegend heiß, sodass es ihre morgendliche Angewohnheit wurde, nach dem Aufstehen eine Runde im kühlen See zu schwimmen. Auf diese Weise hielt sich die Erfrischung den ganzen Tag und sie konnte mit Strumpf getrost durch die Wälder jagen oder mit Greta spazieren gehen.

Im Umkleidehaus entledigte sie sich ihres Morgenmantels, mehr trug sie nicht am Leibe und sprang in alter Tradition ins Tiefe. Ihr von der Nacht und wilden Träumen mit Theodor Fürstenberg, dem Narren, erhitzter Körper erstarrte bei dem Temperaturunterschied und für einen Wimpernschlag stand ihr Herz still. Unter Wasser sah sie kaum etwas und blickte gen Oberfläche, die hell erleuchtet einen starken Kontrast zu ihren schwebenden Locken bildete. Dann tauchte sie auf, drehte ein paar Runden und tauchte wieder ab, um durch den unterirdischen Zufluss zu entschlüpfen. Es war ihre Art der Rebellion – eine davon – gegen die groben Ungerechtigkeiten, die für ihresgleichen galten. Wohl wissend, dass sie sich äußerst unschicklich benahm und mit wild pochendem Herzen schwamm sie weit hinaus auf den See und zurück.

Als sie im sichtgeschützten Becken auftauchte, erwartete sie Greta auf dem Steg mit einem Handtuch. Ihre Gesellschafterin und Kammerzofe diente ihr seit einigen Jahren und hatte es aufgegeben, sie wegen ihrer Flausen zu ermahnen.

Am frühen Nachmittag sattelte Alvine, wie immer behost und mit luftiger Bluse gekleidet, ihren Hengst. Strumpf begrüßte es einerseits, gefordert zu werden, aber anderseits war er es nicht gewohnt und daher schnell ermüdet. Dennoch ließen sie es sich nicht nehmen, sogleich am See entlang und schließlich in den Wald hinein zu galoppieren.

Inmitten der reichen Buchen- und Tannenwälder des Friedgolds Forsts lag eine Lichtung mit einem kleinen Gewässer. Fröhliche Frösche quakten, Grillen zirpten und etliche Schmetterlinge und Bienen labten sich an den reichlichen Blumen. Das Gras war von der Sonne ausgetrocknet und fast zwei Ellen hoch. Alvine saß ab und ließ Strumpf vom Wasser saufen. Eine fette Kröte sprang erschrocken mit einem dumpfen Plopp ins warme Nass. Schließlich graste der Hengst nahe einer einzelnen Eiche, die neben dem Weiher mittig der Lichtung wuchs und unter der der Rasen grün und saftig war. Ein paar Eidechsen beobachtend, hatte Alvine sich in den Schatten des Baumes gesetzt und gedöst.

Erst als Theodor schon fast neben ihr stand, kam sie zu sich.

Seiner Pollenallergie trotzend hatte er sich den Weg durch das hohe Gras zu ihr erkämpft. Sogleich schnellte sie hoch und wich drei Schritte von ihm zurück. Er rang sich ein Lächeln ab, das ob seiner leuchtenden Augen durchaus glaubwürdig erschien.

Hinter ihm stand ein Pferd. Sie kannte Asra, den Rappen. Er gehörte dem hiesigen Gastwirt.

Strumpf beschnupperte das Leihpferd neugierig.

»Bevor Sie schimpfen«, begann er, »darf ich etwas sagen?«

Sie schnappte nach Luft. »Bitte«, platzte sie schließlich heraus.

»Mir ist bewusst, dass ich Sie an besagtem Abend schwer verärgert haben muss. Nach Ihrem Abgang hatte ich Zeit, darüber nachzudenken und nun, da ich etwas über ihren bisherigen Lebensweg in Erfahrung bringen konnte, tut sich mir auch auf, wie es um Ihre Einstellung steht. Ich verstehe nun, woher Ihr Ärger rührt.«

 

»Ist das so?«, blaffte sie zurück.

»Fräulein Hoheloh, ich muss gestehen, dass ich noch mit wenigen Frauen wie Ihnen zu tun hatte. Gewiss waren die Damen, die mich bisher mit ihrer Gegenwart beehrten, oftmals ebenso unzufrieden mit ihrer gesellschaftlichen Stellung. Aber es kam mir eher so vor, als hätten diese jedenfalls sich damit arrangiert und würden nicht aktiv dagegen angehen. Dass sie sich unter dem Schutz der Männer, die die volle Verantwortung tragen, wohlfühlten.«

Alvine holte Luft, doch Theodor erhob bittend die Hand, auf dass er weiter reden dürfe.

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Von Kindesbeinen an habe ich mich gefragt, warum die Damen von Stand sich das antun, bis ich zu dem Schluss kam, dass viele offenbar nicht Kraft und Mut aufbringen konnten …«

»Es wird uns regelrecht aberzogen!«, spie sie nun wider, »Sie reden von Verantwortung der Männer. Aber wenn diese nur daher rührt, dass sie die alleinige Macht haben, und Frauen der Weg zu Bildung und Selbstverwirklichung verwehrt bleibt, ist das ein erbärmliches Argument für diese Kompetenz. Sie haben überhaupt keine Vorstellung, Herr Fürstenberg! Also erlauben Sie sich gefälligst auch kein Urteil.«

»Ich will Sie nicht verurteilen«, gab er um Ruhe ringend zurück, »ganz im Gegenteil, ich bewundere die Damen, die sich ihre Rechte einzufordern versuchen. Die um das Anrecht politischer Mitbestimmung und hoher Bildung ringen. Wie meine Genossinnen. Aber Sie … Sie sind die erste reiche Tochter, die die gleichen Ziele wie sie verfolgt.«

Strumpf begann derweil an Asras Ohr zu knabbern, was er nur zu gerne tat. Es war seine Art, die Stuten zu necken, dass er es auch bei Hengsten tat, war jedoch neu. Alvine sah die Szene im Augenwinkel und hätte darüber am liebsten laut gekichert. Sie riss den Blick ruckartig zurück zu Theodor, der da in gebührendem Abstand vor ihr stand.

Er trug dunkelblaue Reiterhosen, schwarze Reitstiefel und oben ein schneeweißes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren. Für eine Sekunde besah sie den winzigen Ausblick auf seine nackte Brust, der sich ihr bot und wieder trat dieses Pochen im Unterbauch auf.

»So ist das, Sie bewundern es? Warum in Gottes Namen gaben Sie sich dann letztens so herabwürdigend?«

»So … haben Sie mich wahrgenommen?«, entgegnete er.

»Wie hätte ich Sie anders wahrnehmen sollen? Sie hatten meine Verärgerung ja nicht einmal bemerkt.«

»Ich muss Ihnen recht geben, doch ich versichere Ihnen, es geschah nicht aus böser Absicht. Zudem möchte ich wiederholen, dass ich bisher nicht mit einer Dame wie Ihnen gesprochen habe und ich nicht die Möglichkeit hatte, es einzuordnen.«

»Einzuordnen? Ein Geburtsrecht, das für jeden Menschen gelten sollte?«

»Ich bin Ihrer Meinung, jedoch, das sagte ich bereits, war ich an jenem Abend überrumpelt. Ich hatte schlichtweg nicht damit gerechnet …«

Wieder unterbrach sie ihn: »Damit gerechnet, dass Frauen durchaus daran Anstoß nehmen, wenn sie als Menschen zweiter Klasse behandelt werden?«

Er schnaubte. Sie schien ihm völlig festgefahren. Wie oft sollte er ihr noch gestehen, dass er diese Meinung nicht teilte? Verlangte sie von ihm, zuzugeben, dass er trunken gewesen war? Sowohl von seinem Glück, sie wieder zu sehen als auch vom Wein?

»Ich kann nicht mehr sagen, als dass es mir leidtut und ich absolut auf Ihrer Seite bin.«

»Wären Sie es doch schon an diesem Abend gewesen!«

»Das war ich, nur gelang es mir nicht, meine Gedanken zu ordnen.«

»Warum nicht?«, höhnte sie nun, »Sie verfügen über einen Kopf, der Ihnen gestattet, das Gesagte zu reflektieren.«

Dieses Weib ist nicht zu fassen, dachte er.

Entweder war sie immer so uneinsichtig oder, was er mittlerweile eher vermutete, hatte sie so lange über dieses Gespräch nachgedacht, dass sie zu tief drinsteckte, als dass sie von ihrem Urteil über ihn lassen konnte. Demnach war er ihr also im Gedächtnis geblieben und kurz fühlte er sich geschmeichelt. Daraufhin wurde ihm allerdings gewahr, was für einen Dickschädel sie haben musste, was ihn einerseits rührte und ihn andererseits aber auch verärgerte. Hätte sie sich an jenem Abend nur eine Minute Zeit genommen, sodass er sich hätte erklären können, wäre ihnen beiden die Odyssee der letzten Woche erspart geblieben.

»Nein, ich habe gar nicht nachgedacht«, gab er zu.

»Wie kann ein Mensch des Denkens nicht fähig sein?«

»Fragen Sie mich nicht, es war so. Ich war überwältigt von allem, sodass ich von diesem evolutionären Vorteil keinen Gebrauch machte.«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!«

Wie vom Donner gerührt sahen sie einander an. Entgegen ihrer Natur hatte sie es zugelassen, ihm im Streit näher und näher zu kommen, sodass ihre Gesichter nun nur eine faustbreit voneinander entfernt waren.

»Es ehrt Sie, dass Sie Ihr Leben lang stets die Kontrolle über sich hatten und Ihnen das nie widerfahren ist.« Er steigerte sich in seinen Redefluss hinein. »Aber Sie scheinen mir ohnehin eine Denkerin zu sein. Ich wette, Sie können gar nicht anders, als tagaus tagein ihr Hirn zu quälen. An der Tiefe der Denkfalte auf Ihrer Stirn wird nur allzu deutlich erkennbar, wie scheußlich Sie selbst darunter leiden!«

»Ich darf doch sehr bitten! Was erdreisten Sie sich mit dieser Unterstellung?«

»Ist es nicht so? Aber wenn Sie an jenem Abend kurz innegehalten und mir eine Gelegenheit gegeben hätten, wären wir im Guten auseinandergegangen.«

Ihre Augen schossen Blitze aufeinander. Alvine wurde für eine Sekunde gewahr, dass sie bei Diskussionen eher dazu neigte, zurückzuweichen, um Anlauf zu nehmen, selbst bei ihrem Vater. Vor Theodor jedoch war sie nicht zurückgewichen, im Gegenteil: So gefährlich nahegekommen war ihr bisher kein Mann.

Ein lautes Wiehern schreckte sie aus ihrer beider Dämmerzustand auf und sie sahen nur, wie Asra davondonnerte, dicht gefolgt von Strumpf, der ihn offenbar noch immer zu ärgern gedachte. Alvine und Theodor standen mit einem Mal allein auf der Lichtung inmitten des Waldes, und auch, dass sie auf zwei Fingern nach ihrem Hengst pfiff, was ihn maßgeblich beeindruckte, brachte die Tiere nicht zurück.

Nach einem Moment des ratlosen Schweigens entschieden sie beide, ihre Wutausbrüche zu verschieben, und stapften eiligst in die Richtung, in die die Pferde entkommen waren.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte Alvine irgendwann.

»Vor ein paar Tagen habe ich bei Ihrer Mutter vorgesprochen, die mir mitteilte, dass Sie hier seien. Und dass sie einverstanden wäre, dass ich Sie besuche, um die Sache zu klären.«

Alvine grummelte: »Das sieht ihr ähnlich. Aber dass sie so einfach meinen Aufenthaltsort preisgibt, das überrascht mich.«

Dorothea war Alvines Veränderung freilich nicht entgangen, aber sie hatte ihre Tochter in Ruhe gelassen und ihr keine Vorwürfe gemacht. Nur ein einziges Mal hatte sie angeregt: »Du solltest besser noch einmal mit ihm reden, sicher war es ein Missverständnis, worum auch immer es ging.«

»Hat sie nicht. Sie gab mir die Aufgabe, es herauszufinden, und glücklicherweise habe ich meine Quellen …«, dass er schon seit drei Jahren wusste, wo ihr traditioneller Urlaubsort sich befand, verschwieg er.

»Sind Sie ernsthaft hergekommen, um mir das mitzuteilen?«

»Gewiss. Mir erschien unser beider Aufeinandertreffen äußerst erfreulich, bis dieses Missverständnis auftrat. Ich hätte es sehr schade gefunden, wenn alles daran scheitern würde.«

Sie gab nicht zu, dass er recht hatte und sie beeindruckt war. Dennoch fiel ihm ihre besänftigte Stimme auf: »Nun denn, das haben Sie ja jetzt. Und wie gedenken Sie, geht es weiter?«

»Als Erstes finden wir die Pferde«, schlug er vor, »und dann, so hoffe ich, setzen wir unser interessantes Gespräch von letztens fort.«

Die Pferde fanden sie tatsächlich erst ein paar Stunden später, in denen sie zuerst über die Landschaft, dann über Gedichte und schließlich über ihre Kindheit philosophiert hatten, dabei aber tunlichst verschwiegen, wie sehr sie in den letzten Tagen, ob der jüngsten Ereignisse gelitten hatten.

Nach dem Ball war Theodor erst genauso wütend gewesen wie Alvine. Erst auf sie, schließlich auf sich selbst. Und der Duft ihrer Haare hatte sich quälend in seiner Nase festgesetzt, wenngleich diese wie jedes Jahr von seiner allergischen Rhinitis juckte. Dann war er Hals über Kopf losgestürmt und hatte zum Glück das einzige Familienmitglied Hoheloh angetroffen, das auf seiner Seite war.

Dorothea saß mit ihrem Dienstmädchen Alma in der offenen Kutsche, um zu einem Termin zu fahren. Sie durchquerte gerade das Haupttor des hoheloh’schen Anwesens, als sie den Hünen auf seiner wunderschönen braunen Stute herannahen sah und sofort sein Gesicht erkannte.

Entschlossen hob sie ihren Arm, sodass er sie bemerkte. Sie stieg aus der Kutsche und lief ein paar Schritte mit ihm. Sie ließ sich leidenschaftslos von ihm rekonstruieren, was geschehen war, und er offenbarte auch, dass Alvine und er einander wenige Tage zuvor bereits getroffen hatten. (Woraufhin sie schlussfolgerte, dass daher die letzte Grübelei ihrer Tochter rührte.)

Sie erzählte ihm sodann etwas über Alvines Lebens- und Bildungsweg, und dass es das Beste sei, wollte er künftig mit ihr Umgang pflegen, diesen Zwist besser heute als morgen aus dem Weg zu räumen. Kaum zehn Minuten hatten sie für all das gebraucht.

Theodor kam diese Erlaubnis nur allzu günstig, da er sich vor Sehnsucht fast verzehrte. Mit dem nächsten Zug kam er angefahren, nahm sich in der Dorfschenke ein Zimmer, begrüßte seine alte Flamme, die Wirtstochter, die mittlerweile dreifache Mutter war, im Vorbeigehen und ritt auf dem Leihpferd Asra zu Friedgolds Hof.

Dort erklärte ihm ein mehr als verwirrter Stallmeister, dass Alvine unterwegs sei, er aber warten könne. Doch das war für Theodor keine Alternative und so stürmte er stundenlang durch den Wald, bis er auf einmal ihren Geruch wahrzunehmen schien.

Wie sie feststellten, lahmte Asra und Strumpf hatte nichts Besseres zu tun, als ihm noch immer an seinem Ohr herumzuknabbern. Nur langsam traten sie den Rückweg an, bei dem sie die Pferde führten und das Gespräch fortsetzten.

Theodor beeindruckte Alvine zusehends, vor allem als er durchblicken ließ, dass er stark mit der aufstrebenden Arbeiter*inpartei sympathisierte und einige Funktionär*innen persönlich kannte.

»Kennen Sie Frau Luxemburg?«

»In natura habe ich sie leider noch nicht getroffen«, musste er zugeben, »doch wie ich hörte, ist auch sie eines Ihrer Vorbilder?«

»Man kann es so vielleicht nicht sagen, ich bewundere sie – gewiss. Aber ich habe die Befürchtung, dass sie in ihren Kämpfen für die Arbeiterklasse die Frauenrechte übersieht.«

»Sie unterteilt die Arbeiterschaft nicht in Frauen und Männer. Sie glaubt an eine gemeinsame Befreiung, sollte diese erst errungen sein. Damit ist sie beileibe nicht die Einzige«, sinnierte Theodor.

»Nur frage ich mich, ob es so einfach ist, wie sie es sich vorstellt.«

»Die Frauenunterdrückung scheint mir jede Klasse zu betreiben«, sagte er traurig, »daran sieht man allerdings auch, wie gleich wir alle sind.«

»Sie scheinen mir ja doch ein kluger Kopf zu sein.«.

»Danke«, lächelte er.

»Wie war es Ihnen an jenem Abend dann nicht möglich, ihn zu benutzen?«, fragte sie erneut, diesmal jedoch weitaus sanfter.

»Ich war überwältigt, Fräulein Hoheloh. Von der Tatsache, dass Sie besagte Tochter waren und davon, was das Leben so für mich bereithielt. Und zudem verstanden wir uns so gut, dass ich mein Glück kaum fassen konnte.«

»Auch ich muss zugeben, dass ich mich amüsiert habe.«

»Das freut mich.«

Als es Alvine bewusst wurde, sprudelte es sodann aus ihr heraus: »Es ist äußerst erfrischend, einmal die Meinung eines einsichtigen Herren zu erfahren, der mir nicht so nahe steht wie meine Brüder oder mein Vater.«

Theodor verbarg die Enttäuschung über das Nicht-nahe-Stehen und fragte stattdessen: »Was halten die denn davon?«

»Ich will es so sagen: Ich habe meine Familie wohl Schritt für Schritt daran gewöhnt. Da es bei uns Sitte ist, alles zu bereden, was wir erlebt und gelernt haben, und da sie wohlwollende Menschen sind, erkannten sie die Missstände schon vor meiner Geburt. Zudem wuchsen meine Brüder mit dem Wissen auf, dass meine Eltern Geschäftspartner sind. Sie billigten ihren Ehefrauen das gleiche Recht zu. Sie hatten die Wahl, ob sie den vollkommenen Schutz ihrer Männer genießen und nur innerhalb des Hauses walten wollten oder ob sie mit ihnen zusammen Geschäftliches und Privates organisieren. Marie und Rebecca wählten das Beispiel, das auch meine Eltern leben: Unser Unternehmen funktioniert, weil meine Mutter gesellschaftet und mein Vater die Aufträge, die sie uns ermöglicht, betreut und abwickelt.«

 

»Uns?«

»Ich sagte Ihnen bereits, dass ich ihm in der Firma zur Hand gehe?«

»Gewiss und das verhält sich wie genau?«

Alvine bat ihn erst um Verschwiegenheit und er schwor bei seiner Mutter, ehe sie ihm verriet, dass sie selbst mehr und mehr die Geschäfte leitete, Aufträge aushandelte und Kaufverträge – wenn auch postalisch – schon ein ums andere Mal unterzeichnet hatte.

»Das ist äußerst faszinierend, Ihr Vater scheint Sie sehr zu lieben.«

»In allererster Linie glaubt er an mich und meine Fähigkeiten«, gab sie stolz zurück.

»Chapeau! Was für beneidenswerte Familienverhältnisse.«

Sie vernahm wohl die Spur Trauer in seiner Stimme und schlussfolgerte: »Ist es bei Ihnen zu Hause anders?«

Nun ließ er sich den Schwur auf ihre Mutter abnehmen, dass sie mit niemandem darüber sprechen würde. Sie lachten, ehe er fortfuhr: »Leider ja. Vor allem mein Vater ist äußerst unzufrieden mit mir. Schon immer. Es war egal, was ich tat oder sagte. Meinen Bruder allerdings mag er.«

»Sie haben einen Bruder?«

»Ja, Fräulein Hoheloh«, lachte er, »wussten Sie nicht, dass er eigentlich derjenige war, der Ihnen an jenem Abend vorgestellt werden sollte?«

»Nun veralbern Sie mich.«

»Mitnichten! So war es. Doch als ich sah, um wen es sich handelte, Sie werden mir verzeihen, entschied ich, lieber dazwischen zu gehen.«

Alvine lachte herzlich: »Ich muss gestehen, niemand hatte mir den Vornamen desjenigen verraten, den ich kennenlernen sollte.«

»Nun, das war mein Glück. Sonst hätten Sie mir geantwortet: Verzeihung, ich soll heute mit Konrad tanzen.«

»Das hätte ich gewiss nicht«, gab sie lächelnd zurück.

Mittlerweile waren sie am Gestüt angekommen und sofort wurde der Tierarzt gerufen, der bei Asra eine Sehnscheidenentzündung im vorderen linken Huf diagnostizierte. Vermutlich war er bei der wilden Jagd in ein Erdloch getreten.

Alvine empfand Mitgefühl für das Tier, schließlich hatte ihr Pferd das zu verantworten – folglich musste sie die Schuld auf sich nehmen. Sie besuchte am Abend den Wirt und versprach, dass Asra die beste Pflege erhalten werde und solange in einem ihrer Ställe versorgt würde.

Ihr Abendbrot genehmigte sie sich im Wirtshaus, zusammen mit Theodor Fürstenberg – worauf eine Welle der Spekulationen in dem kleinen Ort losbrach.

»Werden Sie noch eine Weile hier bleiben oder gedenken Sie, bereits morgen zu fahren?«, fragte sie ihn, als sie sich verabschiedeten.

»Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie morgen gerne zu einem Bootsausflug mitnehmen und erst übermorgen gen Heimat aufbrechen.«

»Oh gewiss, das wäre zauberhaft«, lachte sie.

Er schmunzelte und küsste ihre Hand.

Daraufhin konnte sie nicht anders, als zu lächeln. In ihr regte sich zu ihrer Verwunderung ein Gefühl, das sie bisher nur für Frauen empfunden hatte – zuletzt für ihre Gönnerin. Er lächelte zurück und ihr Herz tat einen Satz.

Entgegen seiner Hoffnung erschien Alvine am nächsten Tag nicht allein, sondern mit einer hageren schwarzen Anstandsdame in einem dunklen, hochmodischen Kleid am vereinbarten Treffpunkt. Sie wurde ihm als die Kammerzofe Greta vorgestellt, konnte zwischen zwanzig und fünfzig Jahren alt sein und war ganz offenkundig nicht einverstanden mit den Plänen der jungen Leute, eine Ruderpartie zu unternehmen.

Aber Alvine wirkte fröhlich, geradezu euphorisch, davon ließ sich Theodor anstecken und ruderte sie bereitwillig den schattigen Fluss entlang.

Verzückt stellte er fest, wie gut ihr das helle Sommerkleid stand, dazu hatte sie einen schneeweißen dünnen Schal über ihr Haar gelegt und trug gänzlich damenhaft einen aufgespannten Sonnenschirm bei sich. Kaum waren sie ein paar Schläge aufs Wasser hinaus gerudert, entledigte Alvine sich ganz nebenbei ihrer zierlichen Stiefelchen, ihrer blauen Strümpfe und tauchte die nackten Füße ins Wasser.

Theodor saß auf der mittleren Bank, Gretas Blick im Nacken und Alvine thronte freudig lachend auf der hinteren. Wieder plauderten sie angeregt über dieses und jenes nur leider, das verstand auch Alvine schnell, konnten sie unter diesen Umständen nicht frei über seine Familie reden. Dabei hätte er ihr so gerne das Herz ausgeschüttet und sie war so neugierig gewesen, wie die Kindheit dieses Menschen verlaufen war.

So redeten sie über Politik, schließlich über Literatur, als sie auf einmal ein leises Röcheln vernahmen. Wie sie nun sahen, erschienen all diese Themen für Greta bei Weitem weniger interessant, denn sie schnarchte zahm vor sich hin.

Die jungen Leute kicherten und so zog auch Theodor seine Stiefel aus, um seine Füße kurz im Wasser abzukühlen. Schließlich stellten sie die Zehen voreinander ab und vergleichen kindlich amüsiert den Größenunterschied und die verschiedenen Hauttöne.

»Greta muss Ihnen vertrauen«, sagte Alvine dann, »sonst wäre sie nicht eingeschlafen.«

»Warum auch nicht? Ich hatte nicht vor, Sie im See zu ertränken«, er zwinkerte ihr zu.

»Ich gehöre nicht zu jenen Menschen, die sich ängstigen jeder Mann würde bei der ersten Gelegenheit über eine Frau herfallen, nur weil sie allein sind. Und wenn doch, gibt es noch immer die gute alte Hutnadel.«

Theodor lächelte überrascht: »Da Sie heute keinen Hut tragen, darf ich wohl sagen: Danke, dass Sie mir vertrauen.«

»Was wäre das für ein Leben, würde ich jeden Vergewaltiger an jeder Ecke fürchten«, gab Alvine müde zurück.

Seine Mundwinkel zuckten merklich.

»Oh Pardon, wenn Ihnen das Thema unangenehm ist«, wiegelte sie daraufhin ab.

»Es gibt gewiss Angenehmere, aber da Sie darüber sprechen wollen: Ich bin selbstbewusst genug für einen Austausch.«

»Ich bitte Sie, ich werde Rücksicht auf Ihren Selbstwert nehmen.«

»Damit hat das nichts zu tun, ich sagte ja, dass mein Selbstvertrauen ausreicht, um mich mit einer intelligenten Frau über Urängste auszutauschen.«

»Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind nicht das Gleiche, Herr Fürstenberg. Ich traue Ihnen durchaus zu, dass Sie allem gewachsen sind, aber bitte biedern Sie sich nicht an.«

»Sie haben eine hohe Meinung von mir.«

»Warum sollte ich nicht? Sind Sie nicht der Ansicht, wertvoll zu sein?«

»Darüber habe ich bisher nie nachgedacht.«

Sie lächelten einander traurig an und es war offensichtlich, dass es zu dieser Angelegenheit noch einige Fragen geben würde.

Dann schreckte Greta aus dem Schlaf auf und ihrer beiden Gesichter stoben auseinander, um sofort das Gespräch über Handelsabkommen und Verkaufsstrategien fortzuführen und schließlich angeregt das Flottenwettrüsten zu diskutieren.

Zum Abendbrot lud sie ihn ein. Das rustikale Esszimmer ihrer Großeltern, verziert mit Geweihen und anderen Jagdtrophäen, wirkte kühl. Der Dielenboden knarrte, wenn Schritte ihn belasteten.

Noch erhitzt vom Tage verzichteten sie darauf, ein Feuer im Kamin entzünden zu lassen. Sie saßen voreinander an einem Ende des zwei Meter langen Esstisches. Als das Personal endlich fort war, befragte sie ihn zu seiner Kindheit.

Er erzählte vom Lungenleiden seiner Mutter, von den strengen, aber wohlwollenden Großeltern und vom jähzornigen Vater. Beim Tod seiner Großeltern war er sieben Jahre alt gewesen und man brachte ihn dauerhaft ins Stadthaus, wo er zuvor nur alle paar Monate für wenige Tage zu Besuch gewesen war. Plötzlich waren all das Grün um ihn herum und die Spielkameraden verschwunden. Auch die Mutter blieb lange verschollen, weil, so verstand er irgendwann, sie sich am Meer auskurierte. Wenn er sie vermisste oder fragte, wann er heimdürfe (Heim hieß zurück in das Haus der Großeltern), dann schrie der Vater ihn an. Und sollte er darauf weinen, brüllte er noch mehr, weil Jungen nicht flennten.

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