Alvine Hoheloh

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Kuppeleien

Elfriede hatte sich, seitdem sie den Familiennamen Fürstenberg trug, eine tägliche Tradition geschaffen: Sie sah auf ihren Besitz, auf ihre Reichtümer, die Kleider, die Einrichtung und dann auf sich in den Spiegel. Dort blickte sie von jeher ein hageres Geschöpf, mit dünnen blonden Haaren, mausgrauen Augen und mittlerweile vielen Sorgenfalten an. Und schließlich schaute sie auf ihren Mann Heinrich, dessen gebeugte Haltung, Hinken und schlohweißen Zotteln seine Griesgrämigkeit nur noch bestätigten.

Sodann atmete sie tief durch und sagte sich: »Ich hätte es schlimmer treffen können.«

Das ist viel mehr, als du verdienst!, flüsterten dann die geheimen Stimmen in ihrem Kopf.

Seit frühester Kindheit litt sie unter ihrer schwachen Lunge und es war für eine mäßig attraktive Dame, deren Bildung wahrscheinlich ausreichend gewesen wäre, um Lehrerin zu werden, nicht aber ihre körperliche Kraft, ein Glücksfall, als ihre Eltern ihr mitteilten, dass ein Heiratsantrag für sie vorläge. Erfreut hörte die Achtzehnjährige, dass der Herr ein großes bürgerliches Haus in der Innenstadt und einige Gerbereien um den Ort herum besaß. Doch ihre Freude mäßigte sich, als man sie wissen ließ, dass er fast 20 Jahre älter als sie wäre und auf einem Bein lahmte.

Er ist vermutlich genauso hässlich wie du, wisperten die Stimmen.

Dennoch sagte sie einem Treffen zu und nach einem halbwegs angenehmen Gespräch bei Tee und trockenem Gebäck, bei dem er ihr zusicherte, für die horrenden Kosten ihrer regelmäßigen Unterbringung in Sanatorien aufzukommen, willigte sie ein. Damit verpuffte ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihren Eltern, die bis dahin keine Gelegenheit ausgelassen hatten, ihr zu verdeutlichen, wie sehr sie ihnen auf der Tasche lag.

Elfriede saß heute, über zwanzig Jahre später, mit ihren erwachsenen Söhnen am Mittagstisch, Heinrich Fürstenberg hatte sich wie so oft bis zum Abendbrot entschuldigen lassen. Das kam ihr allerdings durchaus gelegen, denn dass Dorothea Hoheloh zu Besuch käme, war ein wohlgehütetes Geheimnis zwischen ihr, ihrem ältesten Sohn Konrad, Dorothea selbst und dem gesamten Hauspersonal.

Voller Genugtuung sah sie ihre Söhne an. Der Ausdruck »Ich hätte es schlechter treffen können«, wäre ihnen gegenüber eine glatte Untertreibung gewesen. Natürlich hielt jede liebende Mutter ihre Kinder für die Krone der Schöpfung, doch was ihre Brut anging, so bestätigten ihr auch Außenstehende, dass ihr zwei prächtige Burschen geschenkt worden waren.

Konrad, der Ältere, von jeher pflichtbewusst, bescheiden und voll diplomatischen Geschicks, würde eines Tages die Gerbereien erben. Er war 25, hochgewachsen, schlank, sein Teint von einem vornehmen Blassrosa und er trug sein strohblondes Haar kurz.

Am hervorstechendsten sei wohl sein außergewöhnlich hübsches Gesicht zu nennen, mit dem ihm, wenn er Reden schwang, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden, insbesondere der Damen jeden Alters, sicher war. Auch ihr Gatte hielt mit seiner Überzeugung selten hinter den Berg, dass der Ältere einen würdigen Erben hergab.

Schon seit Jahren regelte er sehr zur Zufriedenheit der Eltern die Bankgeschäfte der Familie, hütete die Korrespondenz mit den Notaren und Buchhaltern und überwachte mit Adleraugen die Produktion. Sein Vater befand sich immerhin bereits in seinen Sechzigern und schien dankbar, sich nicht mehr mit Papierkram herumschlagen zu müssen.

Daneben Theodor, derselbe hellhäutige Typ, noch höher gewachsen mit auffallend breiten Schultern jedoch femininerem Gesicht, was sich aber an Attraktivität gegenüber Konrads nichts nahm.

Nur war Theodor bei Weitem weniger pflichtbewusst und immer schon ein Träumer gewesen. Außerdem ließ er sein Haar nie kürzer schneiden als kinnlang und fixierte es auch nie mit Pomade, sodass es ihm ins Gesicht fiel und er es in einer neckischen Bewegung zurückstreichen musste.

Als er klein war, hatte Elfriede zusammen mit ihm bei ihren Eltern gelebt, weil die Luft der immerzu größer werdenden Stadt ihr lange schlecht bekam.

Nach deren Tod verkauften sie das Haus und von dem Geld konnte sie endlich einen monatewährenden-Aufenthalt in einem Sanatorium bezahlen, wo sie ausreichend gesundete, um es außerhalb der extrem heißen Sommermonate zu Hause auszuhalten. Zu ihrem persönlichen Glück hatte der kleine Theo kaum etwas von seinem fröhlichen Gemüt eingebüßt, obwohl er während ihrer Abwesenheit sicher zunehmend unter der Unzufriedenheit des Vaters mit ihm gelitten hatte. Auch mit den Zukunftsplänen seines Erzeugers war der Junge ganz und gar nicht einverstanden, dabei würde er gewiss einen phänomenalen Anwalt abgeben, der die Interessen des aufstrebenden Unternehmens hätte verteidigen können. Allerdings beschäftigte er sich lieber mit Politik und zog es vor, Nationalökonomie zu studieren, wie er seinen Vater wissen ließ. Seit Wochen stritten die beiden nun um dieses Thema und das Ergebnis war bisher nur Stillstand.

Sobald Theodor alt genug geworden war, kam ein Einberufungsbefehl ins Haus, obgleich für Konrad damals keiner gekommen war. Heinrich tat es mit der Begründung ab, dass der Junge so lange mit ihr auf dem Land gelebt hatte und dass Stadtkinder seltener eingezogen würden. »Und dort wird der Nichtsnutz endlich lernen, wie dankbar er für all das sein kann, was ich ihm biete!«

Als Theo vom Wehrdienst zurückkehrte, schien er wie ausgewechselt und schlussendlich doch seinen frohen Charakter verloren zu haben.

Daran bist allein du schuld! Du bist das Unglück deines Kindes!, wisperten die Stimmen immer wieder.

So sehr die Mutter auch drängte, er war nicht bereit, von dieser Zeit zu erzählen.

Theodor blickte aus dem Fenster des Esszimmers, das Gesicht lustlos in seiner großen Hand abgestützt. Wenige Gemälde dekorierten die geweißten Wände. Der Esstisch, verdeckt durch ein blütenweißes Tischtuch bot bequem Platz für acht Personen, für zwölf, wenn sie sich drängten. Ansonsten befand sich nur noch eine Kommode für die Tischwäsche und Besteck im Raum, das Geschirr wurde im kleinen Nebenzimmer, einem Materialraum des Personals, aufbewahrt.

Elfriede fragte sich, ob ihren jüngeren Sohn auch in diesem Frühsommer eine Allergie quälte, wie es neuerdings genannt wurde.

Theodor indes war zu stolz, um seine Beschwerden blicken zu lassen, also überspielte er die Müdigkeit und ignorierte die juckende Nase von jeher.

Konrad redete gerade über aktuelle Verkaufszahlen, wie erfreut er war, den Vater schlussendlich vom Einsatz enzymatischer Beize überzeugt zu haben und davon, dass er demnächst mit den großen Schuhfabrikanten der Umgebung neue Abkommen aushandeln wolle. Seit jeher vermochte er es, seine Worte gewandt zu wählen und seine Absichten hübsch zu verpacken. Dennoch hatte er ausnehmend lange gebraucht, um Heinrich Fürstenberg von den Vorteilen chemischer Entwicklungen zu überzeugen, wohl auch, weil der Alte sich in seinem Stolz gekränkt sah, nicht selbst darauf gekommen zu sein.

»Wir sind endlich wieder auf dem Weg nach vorn«, erzählte Konrad, »Ich trete derzeit mit allen Lederfabrikanten der Stadt und der weiteren Umgebung in Kontakt. Was Vater einmal bewirkt hatte, wird sich wiederholen: Wir werden dem guten Namen unseres Unternehmens erneut Ehre machen und zu altem Glanz aufsteigen. Mir fehlt nur noch die Zusage eines namhaften Geschäftspartners, dann werden andere folgen.«

»Da du gerade davon sprichst, meine Freundin Dorothea kommt zum Kaffee.«

»Ich weiß, Mutter, und ja, ich werde ihr meine Aufwartung machen.«

»Du weißt, wer sie ist, oder?«, lächelte Elfriede wissend.

»Eine Dame aus dem Frauenverband …«, gab Konrad zurück.

»Nein, wer sie außerhalb dessen ist.«

Ihr Ältester blickte auf und jeder sah, wie die Zahnräder arbeiteten. »Mutter … haben Sie Dorothea Hoheloh zu uns eingeladen?«

Sogar Theodor riss es aus seinen Gedanken und beide sahen sie nun erstaunt an.

Stolz lehnte Elfriede sich zurück und nahm einen Schluck Wasser. »Ich denke, du wirst ihr mehr als gerne deine Aufwartung machen.«

°°°

Bevor es Konrad allerdings erlaubt war, vorzusprechen, gedachte die Mutter mit Frau Hoheloh allein einen Plausch zu halten. Solange lief er unruhig im Zimmer seines Bruders auf und ab. Warum wusste er nicht. Es war schon immer seine Angewohnheit in Theodors Gemächern zu weilen, wenn er nervös war, unabhängig davon, ob dieser zuhause war, geschweige denn, ob er stören könne. Er schritt hin und her über den merklich verbrauchten Teppich des Schlafzimmers und über das ausgeblichene Parkett im Arbeitszimmer. Nur das winzige Bad mied er seit jeher.

Es verschaffte ihm Genugtuung, dass die Räume seines Bruders regelrecht ärmlich ausgestattet waren. Zu seinen im oberen Geschoss zählten ein Badezimmer mit Dusche und Wanne und einem separaten Klosett, ein Aufenthaltsraum, ein Arbeitszimmer mit angrenzender Bibliothek und zu guter Letzt sein weiträumiges Schlafzimmer mit begehbarem Kleiderschrank. All dies war gerade erst renoviert und neu eingerichtet worden und sollte Konrad heiraten, stünden seiner Gattin drei weitere Räume in diesem Haus zur Verfügung, die aber noch eine Sanierung nötig hätten.

»Wie hat sie das geschafft?«

Das fragte er gewiss zehnmal, bis der Jüngere, der auf dem Bett lag und desinteressiert in ein Buch starrte, antwortete: »Wahrscheinlich gar nicht. Ich gehe davon aus, Frau Hoheloh hat unsere Mutter umworben, nicht andersrum.«

»Weshalb?«

»Muss ich dir deine Hausaufgaben erklären? Bis über die Grenzen der Stadt ist ihr kommunikatives Genie berühmt. Sie wird genau wie du an der Wiederauferstehung eines Geschäftsverhältnisses interessiert sein.«

 

»Ja, da sagst du was … aber wie kriegen wir unseren Vater überzeugt?«

»Was fragst du mich das? Wenn du nicht weißt, wie der alte Esel zu überzeugen ist, dann niemand!«

Konrad schnaufte hörbar aus. »Dein Ungehorsam ihm gegenüber wird dir noch mal leidtun.«

»Tut es schon, Bruder. Aber das Einzige, womit er mich noch mehr meiner Existenz wegen strafen könnte als mit dem Wehrdienst, wäre ein Krieg. Jedoch, so hoffe ich, da hören seine Beziehungen auf.«

»Ich bitte dich«, stieß Konrad aus und ließ sich schwer auf das Sofa neben dem Bett plumpsen, »leg diese Überzeugung ab, dass er es dir eingebrockt hat. Er war Küchengehilfe, kein General.«

Theodor schnaubte verächtlich: »Wenn du eine hungrige Kompanie zu leiten hast, funktioniert etliches darüber, wie viele Kartoffeln du dem Einzelnen zuteilst.«

»Lachhaft! Und nun fort mit dieser Bittermiene. Was ist nur aus dir geworden? Ich sage es ja, komm wieder mit ins Bordell und lass dir ordentlich den Schwanz lutschen, dann geht es dir besser.«

Theodor lachte kalt und verkniff sich die Bemerkung, dass er auch gut ohne ihn in der Lage wäre, ein Freudenhaus aufzusuchen: »Wenn Mutter wüsste, wie dreckig dein Mundwerk sein kann, sobald du von den Huren redest, würde sie tot umfallen.«

Konrad wollte antworten, doch in diesem Moment klopfte der Dienstbote, der ihn zu den Damen rufen sollte.

Wie er sich kurz darauf eingestehen musste, war die neue Freundin seiner Mutter eine außerordentlich attraktive Erscheinung. Dunkelblonde Naturlocken umgaben ein herzförmiges Gesicht, das eine romantische Komplementierung zu ihrer feengleichen Statur bot. Sie mochte Mitte fünfzig sein, also gut zehn Jahre älter als Elfriede. Dennoch wirkte sie bei Weitem nicht so abgekämpft, viel mehr verliehen ihr die schemenhaften Falten auf ihrer beigefarbenen Haut Würde und ihre Grübchen waren offenbar von heiteren Lachsalven geformt worden.

Die Damen saßen auf dem unbequemen Polstersofa und Konrad nahm auf dem Sessel vor ihnen Platz. Wie in fast allen Zimmern der Villa Fürstenberg starrten sie weiße Wände mit wenigen Gemälden an und auch sonst wirkte dieser Raum eher spärlich eingerichtet. Eine alte Standuhr, die stets ein paar Minuten nachging, tickte dumpf und die kredenzte Melange schmeckte der Gästin nicht, was sie aber höflich verschwieg.

Dorothea empfand den Mittzwanziger, der sich soeben dazu gesellt hatte, weniger reizvoll, als es ihre Fantasie versprochen hatte. Doch je länger das Gespräch andauerte und er es vermehrt verstand, Schmeicheleien und Wortwitz gekonnt zu vermischen, und zudem unternehmerische Fachkenntnisse bewies, desto mehr glaubte sie, dass er ihr nützlich sein würde.

»Nun, lieber Herr Fürstenberg, da wir gerade davon sprechen, ich gedenke, Ihrem Vater ein Angebot anzutragen, welches die erloschene Zusammenarbeit wieder aufleben lassen soll.«

»Wie ich sehe, fackeln Sie nicht lange. Hat Ihr Gatte Sie geschickt?«

Dorothea blickte ihn amüsiert an. »Um Himmels willen, nein. Herr Hoheloh weiß, um ehrlich zu sein, gar nicht, dass ich Ihre Mutter heute besuche.«

»Ist das so?«, fragte Elfriede verwundert nach.

»Wir haben uns früh darauf geeinigt, dass ich für unseren Bekanntenkreis zuständig bin. Es wäre mir gewiss ein Dorn im Auge, wollte er jeden meiner Schritte überwachen.«

Konrads Mundwinkel zuckten unmerklich. Solche Frauen waren ihm unheimlich. Damen, die sich von ihren Ehemännern nichts vorschreiben ließen – wo käme die Welt hin, wäre das in Mode? Aber ihre Arbeitsteilung, das musste er zugeben, schien zu funktionieren, schrieben die zahlreichen kleinen Schuhfabriken unter Hohelohs Schirmherrschaft doch seit Jahrzehnten erstklassige Zahlen.

»Meine Unterstützung ist Ihnen sicher«, sagte er dann, bemüht, seine Zerknirschung nicht durchblicken zu lassen, »nur leider kann ich meinen Vater schlecht zu einem Bündnis zwingen.«

»Oh, mach dir darüber keine Sorgen«, bekannte Elfriede euphorisch, »Frau Hoheloh hat mir einige Kniffe verraten, mit denen ich gedenke, deinen Vater zu überzeugen.«

Darauf sahen die Damen sich wissend an und kicherten kurz. Konrad spürte, wie ihm das Messer in der Tasche aufging. So hatte sich Elfriede Fürstenberg noch nie verhalten. Ihren Gatten um den Finger wickeln wollte sie? Dennoch zwang er sich zur Ruhe. Sollte sie ihr Glück versuchen. Und wenn es klappte, heiligte zuletzt immer der Zweck die Mittel. Sobald erst die Verträge unterschrieben und die Geschäfte am Laufen waren, wüsste er seine Mutter schon zu beeinflussen, diese … Freundschaft zu beenden.

Zwei Tage später setzten die Verschworenen ihren Plan um und begegneten sich auf einer Abendveranstaltung, ihre unwissenden Ehemänner im Schlepptau. Sie begrüßten sich wie alte Freundinnen. Dann stellten sie ihre Gatten einander vor und jede, die die Szene beobachtete, wusste um dessen Albernheit. Doch so waren die Herren verpflichtet, verbissene Höflichkeitsfloskeln auszutauschen und plötzlich begannen ihre Frauen über Geschäftliches zu plaudern, sodass die Männer sich gezwungen sahen, sich einzumischen. Ein hitziges Wortgefecht entstand, das darin gipfelte, dass man dies bei einem gemeinsamen Abendessen ausdiskutieren wollte.

Das hatten die Damen beabsichtigt und ein paar Tage später traf man sich zu viert in einem Separee des besten Hotels der Stadt. Bei Wein und schmackhaftem Essen weichten die sturen Böcke endlich auf und das Gespräch wurde ein angenehmes, das nächste gar außergewöhnlich erfreulich.

Das Dritte fand im Anwesen der Familie Hoheloh statt, ein prunkvoller Bau mit fünf Stockwerken, weiten Fluren und achtzehn Gäst*inzimmern. Zu viert saßen sie am langen Esstisch im kleinen Saal, aßen ein Sieben-Gänge-Menü und unterhielten sich locker. Dorothea und Elfriede warfen einander zufriedene Blicke zu, als sich ihre Gatten nach dem Essen zum Rauchen ins Kaminzimmer zurückzogen, von dem durch eine Glastür getrennt der Wintergarten mit Dorotheas Orchideenzucht abging. Die Herren nahmen auf den Sofas vor dem leeren Kamin Platz und genossen einige von Alfreds teuersten Zigarren.

Dort erblicke Heinrich das Familienporträt und sagte: »Wie ich sehe, hast du deine kleine Prinzessin bekommen.«

»Das ist richtig. Nur so klein ist sie nicht mehr, das Bild ist bereits zehn Jahre alt.«

Er reichte seinem Gast sodann eine aktuellere Fotografie: Alvine kurz nach ihrem Abschluss im sommerlichen Kleid und aufgesteckter Mähne.

»Wir sollten unserer Kinder einander vorstellen«, rief Heinrich auf einmal mit leuchtenden Augen.

Alfred zuckte zusammen. Seine Alvine an Fürstenbergs Sohn verheiraten? Was, wenn er genau so ein Sturkopf wäre, wie der Vater? Doch was hatte Dorothea gesagt? »Ich mag den Jungen, die Gerüchte um seine Eloquenz und Ausstrahlung werden ihm gerecht.«

Aber wäre das nicht Verschwendung? Alvine war noch keine zwanzig und so eine gute Partie. Locker könnte sie sich einen Adligen schnappen, läge dergleichen in ihrem Interesse. Zudem war es Alfred mittlerweile zuwider, dass ein jeder auf diesen Gedanken zu kommen schien, nachdem ihr passendes Alter bekannt wurde. Sein »Winchen« allerdings hatte ihm schon vor Jahren erklärt, niemals heiraten zu wollen und ihm war es immer noch ganz recht, dass das Kind solche Flausen ausheckte. Nein, er wusste von keinen offiziellen Verehrern. Wie er wohl reagierte, wüsste er, wie viele Heiratsanträge sie bereits bekommen hatte?

»Nun, ich werde das mit Dorothea bereden …«, gab er zur Antwort.

Alfred sehnte den Abmarsch der Besuchenden herbei, auf dass er seine Frau überfallartig in den Wintergarten bitten konnte. Da Dienstbotinnen noch die Sofatischchen und die Möbel säuberten, schloss er panisch die Glastüren hinter sich und setzte seine Gattin auf das schneeweiß lackierte Korbsofa an der einzigen gemauerten Wand des Glasraumes.

»Liebling, was ist nur los mit dir? Seitdem ihr aus dem Kaminzimmer zurück seid, bist du unruhig und machst mich ganz toll. Sag doch, was quält dich?«

»Heinrich will Winchen und Konrad einander vorstellen!«

Dorothea sagte erst gar nichts und schließlich brach sie in eine heitere Lachsalve aus. »Unsere Alvine, unser Trotzkopf, die schwor, sich nie auf einen Mann einzulassen? Sie würde Fürstenberg Junior in der Luft zerreißen.«

»Liebes, ich bitte dich. Sie lehnt die Ehe ab, doch wir beide wissen, dass eines Tages ein Verehrer vor der Tür stehen wird, der sie uns wegnimmt«, gab Alfred zu bedenken.

»Der sie uns wegnimmt. Mann, du solltest dich hören … nun gut, lass mich überlegen.«

Ihr Gatte gab sich Mühe nicht nervös vor dem Fenster auf und ab zu laufen, das hätte seine Frau im Denken gestört. Sie war es, die Konrad bereits erlebt hatte und gleichso der einzige Mensch, dem er ein vertrauensvolles Urteil zu allen Themen zugestand. »Nun«, sagte sie endlich, »der junge Fürstenberg ist ohne Zweifel ein schneidiger Kerl, von Intellekt, aus guten Verhältnissen und seine eloquente Wortwahl wird unserem Bücherwurm gefallen. Zudem wird er die Geschäfte seines Vaters übernehmen, also wären unsere Fabriken auf ewig mit Material versorgt. Und er lebt nicht in Kleinweistenicht, sondern nur im nächsten Bezirk. Das heißt, wir könnten Alvine so oft besuchen, wie wir wollten.«

»So ist das?«, Alfred ließ sich erleichtert auf das Sofa plumpsen, »ist er also kein so ein seltsamer Kauz wie Heinrich?«

»Das gewiss nicht, Liebling«, lachte Dorothea, »aber irgendwas an diesem Jungen bereitet mir Unbehagen. Ich kann nur nicht ausmachen, was genau.«

Sie rutschte näher an ihn heran. »Alfred, alles, was wir über ihn denken, ist zweitrangig. Solange Alvine ihn nicht mag, wird er sie nicht bekommen. Das ist so, oder?«

»Ich bitte dich Dorothea, aber natürlich. Ich habe meinen Söhnen nicht in die Heiratspläne hineingeredet und so halte ich es auch bei meinem Winchen. Nichtsdestotrotz will ich mir diesen Konrad erst selbst anschauen, ehe ich erlaube, dass er sich meinem Schatz vorstellt.«

Seine Frau nickte verträumt. Die vielen Heiratsanträge, die sie für Alvine erhalten und sie Alfred verschwiegen hatte … Doch entweder wurden sie bereits von ihr höflich verneint oder, sollten sie ihren Weg zur Gemeinten persönlich gefunden haben, unsanft abgeschmettert. Es mochte Damen geben, die mit der Anzahl ihrer Anträge prahlten – das launische Fräulein Hoheloh hatte ihre nicht einmal mitgezählt.

Dorothea wusste von 19 Männern, die für Alvine auf die Freite gegangen waren. Ohne Zweifel eine beachtliche Zahl trotzdem es sich um eine der reichsten Töchter der Stadt handelte.

Aber dieser Konrad könnte ihr tatsächlich gefallen, dachte Dorothea. Auch, wenn Alvine von einem Leben als alleinstehende Freiheitskämpferin träumte, so steckte ebenso tiefe Sehnsucht nach Romantik in ihr. Das schloss die Mutter aus den Liebesromanen, die ihre Tochter las. Den Gedichten, die sie manchmal schrieb. Sie mochte sich nicht fest binden wollen, doch sollte sie nicht der Liebe eine Gelegenheit geben?

Vor Alfred waren auch schon Interessenten vorstellig geworden. Blaublütler, Schnösel und Gecken, Söhne oder Neffen seiner Geschäftsfreundschaften.

Stets wusste der Vater sie auszubremsen, indem er sagte: »Sie soll erst einmal die Schule beenden, dann sehen wir weiter.« Und später konnte er behaupten: »Sie möchte studieren gehen und ich erlaube es. Sprechen wir uns danach noch einmal.«

Aus einem Studium war wegen seiner Krankheit nichts geworden, seine Abwesenheit hatte Alvine unabdingbar in der Firma gemacht.

So lernte Alfred einige Tage später den viel gelobten Konrad kennen, der mit seinem Vater zu einer Firmenbesichtigung vorbeigekommen und gänzlich uneingeweiht in die Verlobungspläne der Eltern war.

Der junge Mann wirkte wissbegierig auf die Handhabung der Maschinen, die Abläufe, Handelspartnerschaften, Lieferbedingungen und Buchführung. Ähnliche Neugier kannte Alfred nur von seinem Winchen. Schließlich musste er sich ebenso eingestehen, dass er einen prächtigen Burschen vor sich hatte. So hätte Heinrich mit 20 wohl aus ausgesehen, wäre er nicht so dick und griesgrämig gewesen. Gut genug war Konrad gewiss nicht, aber welcher war das schon?

Als sie sich Stunden später mit vom vielen Reden trockenen Mündern verabschiedeten, sagte er: »Mein Sohn, ich sage Ihnen etwas. Sie sollten unsere Tochter kennenlernen. Wir bringen sie zu dem Ball der Casparis am Samstag mit. Ich hoffe doch, Sie erscheinen?«

 

Für den völlig Überrumpelten antwortete freudig der Vater: »Familie Fürstenberg wird vollständig dort sein.«

°°°

»Eine Unverschämtheit ist das!«, polterte Konrad am Abend, im Zimmer des Bruders auf und ab gehend, »da will ich die Geschäfte unseres Vaters voranbringen und was ist der Dank? Verkuppeln wollen sie mich!«

Theodor saß, die Beine ausgestreckt, auf seinem Bett und lehnte am Bettpfosten. Während er der Schimpftirade des Bruders lauschte, lachte er trocken in sich hinein und fragte sich, ob er sich die Kuhle im Teppich auf dem stets gleichen Weg Konrads nur einbildete. »Beruhige dich, niemand kann dich zu einer Ehe zwingen«, sagte er.

»Du hast gut reden. Wenn ich sie nicht heirate, enterbt er mich höchstwahrscheinlich. Das würde dir doch gefallen.«

Der Jüngere schnaubte verächtlich und entgegnete dann: »Ich bin bei Weitem nicht so eigensüchtig, wie du glaubst.«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach bitte tun?«

»Sieh sie dir erst einmal an. Wenn sie hässlich wie die Nacht ist, und dazu auch noch freigeistig wie die Mutter, wird unser Chauvinist von Vater dich niemals zwingen wollen.«

»Nein, ich meine bis dahin. Wir werden sie nicht vor Samstag beurteilen können.«

»Wir?«

»Was glaubst du denn? Dass du dich wieder vor einem Ball drücken kannst? Vater hat gesagt, wer mit seinem Geld herumhuren will, soll ebenfalls für ihn arbeiten.«

»Ich entlohne die Damen meiner Nächte nicht vom Kapital unseres Erzeugers.«

»Wer es glaubt, wird selig. Aber er weiß, dass wir uns gerne etwas Nettes genehmigen.«

»Also auch von dir?«

»Er würde mich andernfalls wohl kaum für einen vollwertigen Kerl halten.«

»Nun gut, dann lass uns gehen«, rief Theodor gespielt fröhlich, schwang sich aus dem Bett und griff in die kleine Schublade mit den Präservativen.

»Nun willst du doch? Letztens haben dich keine zehn Pferde dorthin gekriegt.«

Der Jüngere hielt inne, dachte erneut an die süße Dame. Schließlich verwarf er den Gedanken wieder. Er würde sie nie mehr sehen, nachdem er es zweimal vermasselt hatte. Da könne es kaum helfen, wenn er sich in seinem Bräutigamsschmerz suhlte. So blieb er seinem Bruder die Antwort schuldig und ließ die Pferde satteln.

Als er fünfzehn war, hatte Konrad ihn das erste Mal mit in ein Bordell genommen. Seine erste Frau war eine reife Dame mit hellbraunem Haar gewesen, die sich Eva nannte. Zärtlich hatte sie ihn in die Welt der Lust und Leidenschaft eingeführt. Von da an konnte er nicht genug davon kriegen. Er verprasste im Laufe der Jahre fast alles der großzügigen Erbschaft seiner Großeltern für sein fleischliches Vergnügen. Doch nur mit Prostituierten gab er sich nicht zufrieden. Er verführte Dienstmädchen, Wirtstöchter, Genossinnen …

Ein seltsames Gefühl der Leere befiel ihn, sobald er alleine im Bett lag. Eine Leere, die ihn zwang, aufzustehen und mit einer Frau zu schlafen.

Als er kurz vor seinem Einzug zum Wehrdienst die geheimnisvolle Reiterin gesehen hatte, hatte sich das Blatt plötzlich gewendet. Er fühlte sich nach wie vor einsam. Jedoch, wenn er an sie dachte, beschlich ihn eine ungewohnte Wärme. Sie war es, die ihn all die Tyrannei des Militärs nahezu stoisch ertragen ließ. Als er nach Hause kam und am selben Abend seinen Stammpuff aufsuchte, bewunderten die Mädchen seine Narben und Abschürfungen. Obgleich sein Phallus schmerzhaft in der Hose drückte, zog er es anfangs vor, nur in ihren Armen zu liegen, ehe er einige Wochen später zu gewohnter Leidenschaft erwachte.

Dann hatte er die Eine wiedergesehen und war darauf tagelang nicht fähig zu essen oder zu schlafen gewesen, geschweige denn seine seither quälende Lust zu beruhigen.

Die Freudenmädchen waren wie immer überaus erfreut, die beiden hübschen und wohlhabenden Brüder zu begrüßen.

Konrad ließ sich wie so oft eine zierliche Blondine kommen und zog sich mit ihr in sein Lieblingszimmer zurück. Theodor setzte sich zigarrerauchend in das schummrige Kaminzimmer, in dem sich die Damen mit ihren potenziellen Freiern tummelten. Zwei Mädchen fingen seinen Blick ein und kamen auf ihn zu. Eine hatte kastanienbraune Locken, die andere war groß und hatte helle Augen. Sie fragten, ob er nicht Lust habe, mit ihnen einen Champagner zu trinken.

Bevor er antwortete, nahm er einen tiefen Zug und blies den Rauch zur Seite. »Champagner, Süßigkeiten und Früchte, was immer ihr wollt. Wenn ihr dafür beide mit mir ins Separee kommt und mich um den Verstand vögelt.«

Die Damen erröteten fast und lachten erfreut. »Das lässt sich einrichten«, sagte die Große.

Auf dem riesigen Bett nahm er sich eine nach der anderen vor, doch entgegen seiner Hoffnung gab sein Körper keine Ruhe. Sobald er an die Reiterin dachte und der blumige Geruch ihres Haars wieder in seine Nase stieg, waren sämtliche Manneskräfte zurück. Wie durch ein Wunder schaffte Theodor es pünktlich zum Frühstück der Familie.

Vater und Bruder rochen und sahen ganz genau, wo er sich so lange rumgetrieben hatte, die Mutter vermutete einen Virusinfekt.

°°°

Anders als Konrad Fürstenberg zog Alvine Hoheloh es vor, ihren Wutausbruch vor dem Menschen zu entladen, auf den er sich bezog. Sie schrie ihren Vater an.

Sie trampelte über den dunklen Teppich, der ihr Schlafzimmer säumte, und zeterte fürchterlich. Sie tigerte vom hellgefliesten Bad durch ihr Arbeitszimmer, zog Bücher aus ihrem Regal und schleuderte sie umher. Sie zottelte an ihren roten Vorhängen, riss fast eine der goldgelben Kordeln ab und kam zurück ins Schlafzimmer, wo Alfred am Fenster auf dem Sessel saß.

Während sie tobte, stampfte und mit Gegenständen warf, hatte ihr Vater sein Leben an sich vorbeiziehen gesehen, so sehr brach es ihm das Herz. Er sah nun sein Winchen bei ihren ersten Schritten, ihr erstes Wort lautete Papa. Er erinnerte sich an die erste Gouvernante, die sie zur Weißglut getrieben und schließlich in die Flucht geschlagen hatte.

Das erste Mal, als er sie mit in die Schuhfabrik genommen und sie sich, ganz wie ihre Mutter, sofort mit allen verstanden hatte, mit den Arbeiter*innen, mit den Buchhalter*innen und den Lieferant*innen. Zudem interessierte sie von Anfang an die Bedienung der Maschinen, sodass sie den Männern in der Schichtleitung Löcher in den Bauch fragte.

Alfred fiel ein, wie Alvines erster Hauslehrer sie unterforderte und sie es vorzog, nur noch alleine zu lernen, sobald sie des Lesens und Schreibens mächtig war. Und wie sie ihm verkündete, dass sie seine komplette Bibliothek leergelesen hatte und neue Bücher verlangte.

Erinnerungen an ihre Reitstunden kamen hoch, die im Fiasko endeten, da sie dem Pony aus Versehen die Sporen gegeben hatte. Hinterher erklärte sie ihm, sie brauchte ein größeres Reittier, schließlich fühle sie sich nur angespornt, sich im Sattel zu halten, wenn sie auch tief fallen könne.

Ihr erster Schultag auf der höheren Töchterschule, wo sie sich sofort mit dem Direktor anlegte und ihn als engstirnigen Kuhtreiber beschimpfte. Dann brachte sie das Zeugnis nach Hause, auf dem man ihr zerknirscht in allen Fächern glatte Einser geben musste, nur im Betragen mit völliger Genugtuung das schlechteste Prädikat reinwürgte. Theaterstücke auf dem Lyzeum, bei denen sie ritterlich den Romeo gab und galant zu fechten verstand. Preise von Reitwettbewerben. Der wilde, junge Hengst Strumpf, der sich anfangs lediglich von ihr zügeln ließ.

Er dachte an den Simplex, den er sich voll Stolz vor drei Jahren angeschafft hatte. Alvine klemmte sich sogleich hinter das Lenkrad und wusste den Sechszylinder binnen Minuten so gut zu bedienen, um darin Unter den Linden entlangzubrausen.

Schließlich entsann er sich an ihre Empfehlung, als eine der wenigen Frauen des Reiches an der städtischen Universität zu studieren: von ihrer Gönnerin, auf die er eifersüchtig war, da Alvine zu ihr aufblickte. Sicher hatte diese Eifersucht ihn krank werden lassen.