Ferne Frau

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z. Z. Nordhausen, 24 .8. 1935

Liebe Ferne!

Erwartet nahm ich Ihren Brief gestern in Empfang. Erfreut, als ich ihn gelesen hatte. Ich kam gerade aus Berlin zurück, wo ich verhandelt habe. Ich sprach dort mit dem Leiter der Manuskriptabteilung Krell. Es besteht eine Möglichkeit ihm etwas von Ihnen nahezubringen (der Direktor der Ullstein AG Dr. Jödicke[31] ist meines verstorbenen Vaters Regimentskamerad, d.h. hier so viel als in England College Boys seien oder zusammen in Oxford gewesen zu sein). Am Sonntag den 1. September fahre ich wieder nach Berlin, wollen Sie mir bis dahin einen Stoß Manuskripte, hauptsächlich Reise, Märchen, kleine Skizzen hersenden? Adresse Frank van Halen, Forsthaus Marienthal, ich sehe dann, was ich unterbringen kann. Wenn Sie es hinsenden, geht es bei Ullstein ungelesen wieder zurück. (…) Also, wenn Ihnen daran liegt, senden Sie mir gleich die Sachen zu. Ihre Wünsche, die Sie für mich haben, arme Leidfähige, scheinen noch nicht in Erfüllung zu gehen. Da es äußerlich klappt, läßt Innerliches zu wünschen übrig.

Innerlich verlebte ich gerade im Verlauf der letzten Woche unsinnig schwere Tage – ich, der ich ein Mann bin, bezweifle nicht, daß, wenn mir nochmal die Möglichkeit gegeben würde in einem anderen Menschen mich für zwei Wochen ganz zu verlieren und diesem alles, was in mir ist, zu geben, ich Schlußstrich ziehen könnte unter dies Dasein. Nahe genug war ich dieser Konsequenz und einzig der Gedanke Unerlöstes und Gestautes mit hinüberzunehmen, hindert mich noch. Das will mit anderen Worten sagen: Ich scheue mich zu gehen, ohne noch einmal den Versuch gemacht zu haben, dem Leben doch etwas – innerlich gedacht – abzuringen. Im Übrigen wünsche ich mir dies: nochmals betont, daß ich im Übrigen stark bin … zwei Wochen in Bayern verträumen, vor sich die Kuppen, unter sich den See, Sommerweben und tiefstes Erdgefühl und dann heiter und froh eines gewißen und ersehnten Schicksals, eines Tages zum Gipfel zu gehen, ohne den Gedanken an die Rückkehr ins Tal. Sie finden eine Aufnahme, hier war ich und hier geht meine stillste Zeit am 1. September zu Ende. Weltfern und traumhaft schön liegt auf dem Berg, Blick weit über Land, mitten im Wald. Senden Sie es mir, bitte, mit den Manuskripten wieder zu. Schreiben Sie unter meinen Namen: Mitglied des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller und quer darüber: Verlagsmanuskripte, sonst bleibt es unnütz lang zur Prüfung an der Grenze liegen.

In aufrichtiger Freundschaft

Ihr Frank van Halen

Aus irgendeinem Gefühl heraus, das ich mir damals nicht zu deuten vermochte, erlag ich nicht der Versuchung, die Manuskripte einzusenden, und es dauerte Jahre, ehe ich imstande war, Frank van Halen das kleine Bildchen zurückzugeben, auf dem ich nicht ihn, sondern nur seine Freunde versammelt zu sehen wähnte. Mit diesem Brief aus Nordhausen ging ein Kapitel zu Ende.

Der Schatten des Todes drohte herauf …

VERSCHWUNDEN

Das Jahr 1935 war auch für mich ein sehr schweres. Mehr und mehr zeigten sich die Gegensätze zwischen den neuen Ideen des Drittes Reiches und meiner eigenen Weltanschauung. Ich starb langsam dem Markt ab. Mehr und mehr meiner früheren Verleger gingen in Konkurs, und für meine Werke, die eben um diese Zeit begannen stärker ins Seelisch-Geistige zu gehen, fand ich keinen Verleger. Der zweite Weihnachtsmarkt drohte ohne eine Neuerscheinung aus meiner Feder zu verstreichen und dieser Umstand war sehr rückwirkend auf mein Gesamtbefinden – seelisch, körperlich und auch geldlich. Sollten fünfundzwanzig Jahre rastlosen Aufbaus an diesem Ersticker jedes Individualismus zerbrechen?

In dieser bekümmerten Stimmung fuhren meine Freundin und ich auf Schloß Pischätz,[32] das in märchenhafter Stille und Einsamkeit gelegen war. Inmitten dieses wachsenden Heraufgoldens des Herbstes vergaß ich ein wenig meine Sorgen, als mir plötzlich ein Telegramm ausgehändigt wurde, das aus Innsbruck geschickt, mich aufforderte, Frank van Halen sofort Geld zur Weiterfahrt zu schicken. Er sei auf dem Weg zu mir.

Selbst in jenen Tagen war es sehr schwer und nur nach langen Gesuchen möglich, Geld über die Grenze zu schicken. Ich telegrafierte daher an einen Bekannten in Celje, eine Fahrkarte von Innsbruck nach Celje im Reisebüro zu erstehen und express an die genannte Adresse aufzugeben, dann sagte ich trauernden Herzens dem Orte des Friedens Lebewohl, im Innern fest überzeugt, daß ich nie wieder durch diese wunderbaren, einsamkeitsgesegneten Wälder wandern würde, ein Vorahnen, das sich tatsächlich erfüllt hat. Als meine Freundin, Thea Schreiber-Gammelin,[33] die seit mehreren Jahren bei mir lebt und all meine Werke illustriert, und ich heimkehrten, fand ich folgenden Brief vor:

Innsbruck, 13. 9. 1935

Ferne Freundin!

Gerade sandte ich das Telegramm ab, hoffend, daß ich noch heute Abend nach Klagenfurt abfahren kann, um abermals über die Berge zu Ihnen zu kommen. Mit genauer Not entging ich der „gelben Brücke“ und todmatt, hungrig und erschöpft langte ich hier an. Mein Zigarettenetui wanderte ins Leihhaus und deckte gerade die Telegrammkosten. Nach dort ist von Brüssel eine Geldsendung unterwegs, so daß ich bei der Ankunft schon etwas Geld vorfinde. Bis morgen, Freitagabend, warte ich hier auf eine Sendung von Ihnen, kommt bis dahin nichts, beginne ich meine Fußwanderung zu Ihnen. Sie erreichen mich dann stets noch unter Bonsack, postlagernd, nacheinander in Wörgl, Schwarzach, St. Veit und in Villach. Wie lang ich dazu brauche, kann ich allerdings nicht sagen. In Wörgl will ich Samstagabend sein. Es ist ganz ausgeschlossen, hierher irgendwelches Geld (wenn nicht von Ihnen) zu erhalten.

Ich liege auf einer Wiese, todmüde und ab. Hinter mir liegt ein rechter Zusammenbruch. Zeit wird nötig sein, um Alpträume zu bannen und mich wieder herzustellen. Die Briefmarke für diesen Brief hier ist mein letztes Geld. Daß ich es nicht zum Essen verwende, sondern um Ihnen meine Lage zu schildern, spricht Bände. Wenn es Ihnen heute nicht möglich war, vielleicht können Sie mir nach Wörgl am Samstag telefonieren, denn wovon leben, wenn man auch noch dazu Strapazen aushalten muß?

Zu müde um weiterzuschreiben.

Ihr Frank

Mein Telegramm, das ihm die Ankunft der Fahrkarte meldete, mußte ihn erreicht haben. Nun blieb nichts übrig als abzuwarten …

Ich schrieb auch an jede der genannten Stationen, hieß ihn willkommen, gab ihm die Adressen verschiedener Freunde und hoffte, daß es ihm gelingen würde, die Grenze ohne Paß zu kreuzen. Wie es dann werden sollte, wußte ich nicht. Eine seltsame Bedrücktheit bemächtigte sich meiner. Es schien mir, als fiele mit dem Kommen Frank van Halens plötzlich ein Schatten auf mein ohnedies schattenreiches Leben. Um jene Zeit hatten wir – Thea und ich – die erste Vision, die mit dem noch Unbekannten zusammenhing: Wir sahen ihn neben einem alten würdigen Rabbiner durch einen Tempel schreiten, ganz in Weiß, kaum im ersten Jünglingsalter. Dahinter zogen sich bräunliche Berge. Sand lag zwischen spärlichen Weideplätzen. Ich war anscheinend mit beiden befreundet, doch trug ich andere Gewänder, war lichthäutiger, kam wohl aus einem anderen Land. Das – und nicht mehr! Durch Jahre hindurch erfuhr ich nur wenig hinzu …

Die Seele des Jünglings aber trug in diesem Sein den Namen: Frank van Halen. War es ein Freund, der heimkehrte, oder ein Feind? Nach den Briefen vermutete ich einen Freund, doch meine wissende Seele raunte wohl eine leise Warnung, denn eine unerklärliche Besorgnis umdüsterte mich.

Jeden Tag, ehe wir nachmittags ausgingen, stellten wir ein Glas Wein und einen kleinen Imbiß für den Nahenden bereit und befahlen der Bedienerin aufzupassen, den Gast sofort in sein Zimmer zu führen und alles für ihn zu tun, was getan werden konnte, und jedes Mal, wenn wir heimkehrten, war unsere Frage:

„Ist der Herr gekommen?“

Aber niemand kam … weder ein Brief noch sonst eine Mitteilung und am allerwenigsten der unglückliche Flüchtling aus dem Reich des Zwangs.

Als ein Monat verstrichen war, fragte ich in Innsbruck an und erfuhr, daß mein Brief und das Telegramm abgeholt worden waren. Das bewies mir, daß die Karte verloren war, nicht aber, wer sie abgeholt hatte, doch nahm ich sofort an, daß es Leute von der Gestapo gewesen sein mußten.

So hatte man ihn gefangen, zurückgeschleppt, getötet? Vorsichtig stellte ich Nachforschungen durch allerlei Bekannte, aber alle hüllten sich in Schweigen, behaupteten nichts zu wissen oder wußten in der Tat nichts. Wir stellten keine Erfrischung mehr bereit, denn wir durften niemand mehr erwarten. Dennoch verstrichen Monate, ehe ich es ganz aufgab, eines Tages einen alten müden Mann auf meiner Treppe zusammenbrechen zu sehen.

Noch später kam ein anonymer Brief aus München, der weder Anrede noch Schluß enthielt und mir nur vorschlug, die Fahrkarte zurückzugeben, ehe sie verfiel. Ein schöner Rat, denn sie war schon verfallen! Über den Mann, dem sie zugedacht war, kein Wort! Undurchdringliches Dunkel senkte sich auf den Fall Frank van Halens. Nie mehr kam ein Brief von ihm. Er war und blieb verschwunden …

Obschon ich immer geneigter war, ihn als tot zu beklagen, dachte ich oft an ihn, besonders als im Jahre 1936 Isolanthis herauskam, das Werk von der Stadt der fließenden Wasser, das ihn so sehr interessiert hatte, und mehrere andere Arbeiten von mir, die von der Partei[34] in ihren Büchereien zwar nicht gelitten, aber auf dem Markt geduldet wurden. Mit meinem Pech gingen gleich im ersten Jahr schon zwei Verleger in Konkurs und ich hatte nichts als das Wissen, daß meine Bücher wenigstens den Lesern zugänglich waren.

 

Selbst das war ein Trost.

Eines Abends, es war der 4. November,[35] saß meine Freundin am Harmonium und spielte, wie so oft, unsere eigenen Tempellieder aus verschiedenen Zeiten der Geschichte dieser Erde. Östlicher Weihrauch durchzog den kleinen Raum und ich ließ meine Seele die Schwingen breiten. In diesem Zustand innerer Wachsamkeit vernahm ich ganz deutlich den Ruf „Ferne Frau!“. Ein Stich ging mir durchs Herz. Ich legte die Hand auf den Arm der Spielenden und sagte bewegt:

„Frank van Halen ist tot.“

An diesem Tag – das erfuhr ich erst viel später – sprang der Unglückliche vom zweiten Stocke eines Gefangenhauses[36] herunter auf die Pflasterstein, gewillt durch den Tod die ersehnte Freiheit zu finden, und seltsamerweise rief er in der Stunde seiner höchsten Not nicht seine um ihn bangende Mutter, sondern mich – die ferne Frau!

VISIONEN

Ich möchte um der vielen Skeptiker willen gerne ausschalten, was mit dem Übersinnlichen zusammenhängt, aber es geht nicht, denn es spielt immer wieder sehr bedeutungsvoll hinein, bestimmte in vielen Fragen mein Handeln, ließ mich manches wissen, was noch tief im Schoße der Zeiten lag, und lieferte mir überdies den klarsten Beweis, daß sich Fäden aus urferner Seelenvergangenheit in die flüchtige Gegenwart ziehen und unaufhaltsam in die Zukunft gleitend, sich da glättend, dort verwirrend oder knotend, fortbewegen. Die Saat unserer Taten wird zur Frucht …

Nie in meinem Leben erfüllten sich Visionen so unbedingt wie eben im Falle Frank van Halens. Die volle Bedeutung mancher von ihnen wurde mir jedoch erst im Laufe der Jahre klar.

Im Juli 1936 hatte ich eine, die mir zeigte, daß ich sterben oder durch das Tor des Todes gehen würde, wenn ich im Baum des Erfolgs säße. Messer und Schnitt deuteten – meiner damaligen Ansicht nach – eine Operation an. Ich war nicht allzu sehr beeindruckt, weil ich mir traurigen Herzens sagte, daß mein „Baum des Erfolgs“ keineswegs groß und grün wie in der Vision, sondern noch klein und vorwiegend kahl war.

Eigentümlicherweise wiederholte sie sich um die Februarwende von 1937. Diesmal jedoch wußte ich, daß es sich um einen „hoffnungslosen Fall“ handelte und viel Kummer damit verbunden sein würde, und am 6. Februar, also ganz wenige Tage später, traf ein Brief aus Straßburg vom Pfarrer Jean Klein ein, ein Schreiben, das mir später entwendet wurde, dessen Inhalt mir indessen aus guten Gründen unvergeßlich blieb, denn der gute alte Herr stellte sich als Betreuer der Seelen im Zuchthaus vor und er schilderte mir das weitere Schicksal Frank van Halens. Dieser war anscheinend über den Rhein geflohen, von den französischen Behörden ohne Papiere aufgegriffen, unter dem Verdacht, ein Spion zu sein, eingeliefert worden und in der Verzweiflung – eine lange Gefangenschaft nach einigen Verhören fürchtend – hatte er sich aus dem zweiten Stock, während er wieder einmal zum Richter geführt worden war, herabgestürzt. Er war indessen nicht, wie erwartet, gestorben, sondern hatte sich auf den Pflastersteinen nur beide Füße entsetzlich gebrochen und lag nun, ein armes, freudloses Wrack, im Zuchthauslazarett in Straßburg.

Der Pfarrer schrieb mir nun, weil Frank van Halen oder Joachim Bonsack, wie er sich bei seinem wahren Namen nun dauernd nannte, da sein anderer Name nur ein nom de plume, doch ebenfalls früher in seinem Paß regelrecht eingetragen gewesen war, ihn darum gebeten und ihm immer wieder versichert hatte, daß ich der einzige Mensch auf Erden sei, zu dem er gehen und der ihn auch aufnehmen würde. Dieses oft wiederholte unbedingte Vertrauen, die Überzeugung, daß ich ihm das Reisegeld schicken und ein Asyl gewähren würde, war so groß, daß der Pfarrer (obschon selbst anscheinend weit von überzeugt) zuletzt einwilligte mir zu schreiben und anzufragen, ob ich den körperlich und seelisch vollkommen gebrochenen heimatlosen Mann für einige Zeit zu mir nehmen wolle.

Ich war in einer sehr schweren Lage. Bisher war ich dem Naziregime nur innerlich ablehnend gegenübergestanden. Im Augenblick, in dem ich einen Emigranten bei mir aufnahm, trat ich in offene Gegnerschaft, und nicht nur das: Ich lief große Gefahr durch diese Tat einen Markt zu verlieren, den ich viele Jahre hindurch mit großer Geduld und vielen Mühen langsam und zäh aufgebaut hatte. Wenn ich auch gelegentlich für englische und für schweizer Blätter schrieb, so lebten die für mich maßgeblichen Verleger doch in Deutschland und der größte Leserkreis war da.[37] Meine Einnahmen hingen zum Großteil von diesem Markt ab. Sollte ich all das um eines Unbekannten willen gefährden, mit dem ich, wie mit unzähligen anderen Lesern meiner Bücher, einige Briefe gewechselt hatte? Wenn ich zusagte, würde ich nicht nur jede sommerliche Erholung aufgeben, sondern samt meiner Freundin auf die geplante Fahrt nach Dalmatien verzichten müssen und darüber hinaus würde ich mit viel persönlichem Verzichten sofort beginnen müssen, denn die Fahrt von Straßburg bis zu mir war weit und teuer. Außerdem mußte der Entlassene etwas Bargeld in der Hand haben.

Herzing – die Mutter meiner Freundin, die in jenem Winter bei uns verweilte – war entsetzt.

„Einen Zuchthäusler?!“, rief sie ein um das andermal und warnte mich ebenfalls sehr eindringlich vor den Folgen für meine Bücher. Meine Freundin riet mir weder ab noch zu. Gleich mir war sie vom tragischen Schicksal des Unbekannten überwältigt, doch sah auch sie allen kommenden Möglichkeiten klar ins Auge.

Zwei Punkte waren endlich für mich ausschlaggebend. Pfarrer Klein hatte geschrieben: Für den Unglücklichen gibt es zwei Aussichten: Entweder wird er, sobald er von den hiesigen Behörden über die Rheinbrücke geschoben wurde, von den deutschen Behörden verurteilt und getötet, oder – wenn es dem Einfluß seiner Angehörigen gelingt ihn davor zu bewahren, als irrsinnig erklärt, kastriert und in einer Anstalt untergebracht. Über diese Möglichkeit schien der alte Herr noch mehr entsetzt als über den Tod selbst. Ich wußte daher: Nahm ich Frank van Halen nicht zu mir, so mußte er sterben oder lebendig-tot hinter den Mauern einer Irrenanstalt verkommen. Das war unzulässig. Zweitens wurde mir da gesagt, wo es keine Stimmen gibt, daß dieses mein Opfer das letzte, das allerletzte sein würde, das in diesem Sein von mir gefordert wurde. Es war der „hoffnungslose“ Fall. Das bestimmte mich mehr als alles andere.

Dennoch bat ich den guten alten Pfarrer, mir den Heimatlosen nur zu schicken, wenn es in der Tat keine Seele gab, zu der er flüchten konnte, und ich verhehlte ihm auch die Folgen für meine Schriftstellerlaufbahn nicht.

„Du wirst ihn kommen lassen?“ erkundigte sich Herzing entsetzt.

„Ich darf ihn nicht sterben lassen“, erwiderte ich. „Er kann nur zwischen Tod und mir wählen – der fernen Frau.“ Und ich stellte mir vor, wie es mir wäre, befände ich mich in ähnlicher Lage …

„Vielleicht stirbt er im Zuchtlazarett und der Kelch geht an uns vorüber“, bemerkte meine Freundin, doch meine Seele wusste: Er würde kommen …

Das Sparen begann.

VORBEREITUNGEN

Ich hörte so lange nichts aus Straßburg, daß ich anzunehmen begann, es müsse der Kranke seinen schweren Verletzungen erlegen sein. Überdies war es denkbar, daß er ein besseres Asyl gefunden hatte, denn ich hatte geschrieben, daß mein Haus tatsächlich nur Übergang bleiben müsse, da meine Mittel sehr begrenzt waren. Da Pfarrer Klein den Gefangenen als sehr überreizt und übernervös geschildert und viel vom Irrenhaus geschrieben hatte, war ich kopfscheu geworden und hatte ihn gebeten, mir den Entlassenen nur zuzuschicken, wenn keine Gefahr geistiger Umnachtung vorlag. Es wäre mir unmöglich jemanden aufzunehmen, der das seelische Gleichgewicht ganz verloren hatte.

Mitte Mai traf dann, sehr überraschend für meine Hausgenossen, folgendes Schreiben ein.

Straßburg, den 5. Mai 1937

Sehr geehrte gnädige Frau!

Nach langem Schweigen auf Ihren Brief vom 6. II. d. J. kann ich Ihnen endlich außer meinem Schützling und meinem eigenen herzlichen Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen auch sachliche Mitteilungen betreffend Herrn Hans Joachim Bonsack zukommen lassen. Was zunächst Ihre Befürchtungen aufregender Szenen betrifft, die Herr Bonsack verursachen könnte, so halte ich solche für ganz ausgeschlossen. Er ist wohl zuweilen etwas deprimiert, aber soweit ich ihn nun in langen Wochen bei meinen Besuchen kennengelernt habe, nicht stärker niedergeschlagen als jeder normale Mensch in seiner Lage. (…) Bei jedem Lichtstrahl, nicht ohne Sicherheit den deutschen Behörden ausgeliefert zu werden, aber sonst irgendwie wieder einigermaßen Boden zu bekommen, lebt er sichtlich auf. Seine Verzweiflung nach seiner Verhaftung hier in Straßburg war nun zu begreiflich. Seine Schicksale nach meinen ersten Mitteilungen von seiner Verfolgung hier, verliefen so:

Es wurde mit der Gerichtsverhandlung abgewartet, bis H. Bonsack nach seinen Beinbrüchen wenigstens auf Krücken vor Gericht erscheinen konnte. Vielleicht wäre er, ohne sein sogenanntes „Geständnis“, das er bei seiner Ankunft hier machte, überhaupt freigesprochen worden. Man hatte wohl eingesehen, daß es sich nicht um einen gefährlichen „Spion“ handle. Man hat ihn wegen „Spionageversuch“ dann zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Es war eher ein Akt der Barmherzigkeit – natürlich nicht eingestandenermaßen, aber tatsächlich. Man rechnete ihm auf die Strafe die Untersuchungshaft zu, sodaß ihm beim Entlassungstermin immerhin noch Zeit bleiben konnte, seine Beine wieder ordentlich zu brauchen, und er auf diese Weise einerseits nicht lange inhaftiert sein, noch auch andrerseits sofort und ganz hilflos auf die Straße gesetzt würde. Es soll nun am 28. Mai zur Entlassung kommen.

Wir haben uns nun in der Zwischenzeit beiderseits bemüht, ihm Papiere zu verschaffen, mit denen er sich irgendwohin begeben könnte, ohne gegen seinen Willen an Deutschland ausgeliefert oder an eine andere Grenze gebracht und von Land zu Land und schließlich von Grenze zu Grenze doch wieder nach Deutschland abgeschoben zu werden. Unsere Versuche blieben lange erfolgslos. Die deutschen Behörden beantworteten seine Gesuche um Ausbürgerung oder Bescheid der Weigerung überhaupt nicht, und ohne Ausbürgerung konnte er den sogenannten Nansenpaß, Paß für Staatenlose,[38] auch nicht erhalten. Noch vor acht Tagen erhielt er einen Schrecken, als er eine Eröffnung seines Advokaten dahin verstand, es werde von Deutschland seine Auslieferung verlangt. Es war aber ein Irrtum. Es handelte sich vielmehr doch endlich um eine Reaktion seiner Ausbürgerungsgesuche. Nun ist die Zeit zur Ausfertigung eines Nansenpasses bis zur Entlassung am 28. Mai freilich äußerst kurz. Aber nach meiner heutigen Aussprache mit seinem Verteidiger besteht begründete Aussicht, daß er entweder den Paß oder aber einen Aufschub für seine Abschiebung erhalten wird und jedenfalls nicht einfach an die nächste deutsche Grenze gebracht werden wird. Er würde vielmehr nach Marseille reisen und von dort nicht durch Schweiz-Italien, sondern auf dem Seewege nach Jugoslawien fahren. Dabei würde er denn Ihre gütige Hilfe dadurch in Anspruch nehmen, daß er um Zusendung des Billets von Marseille ab bitten würde, um dann sein erstes Asyl bei Ihnen zu finden. Auch ich wäre Ihnen um des unglücklichen, aber sympathischen jungen Mannes willen für solche Güte sehr dankbar. Sobald ich über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Ausführung dieser Absichten Genaueres weiß, werde ich Ihnen, mit Ihrer gütigen Zustimmung, Bescheid geben.

In vorzüglicher Hochachtung

Ihr sehr ergebener

 

J. Klein, Pfarrer

„Fraui, er sagt junger Mann!“ rief meine Freundin entsetzt.

„Was ein sehr bejahrter Mann eben jung nennt“, verbesserte ich. „Meiner achtzigjährigen Tante war ich allzeit „das Kind“ geblieben. Es wird in diesem Fall wohl so ähnlich sein.“

Herzing seufzte nur tief auf. Sie hatte – obschon sonst herzensgut und hilfsbereit – eine starke Abneigung gegen den „Zuchthäusler“. Scherzweise sprachen wir daher in dieser unserer Wartezeit von ihm als dem „Züt“, bis ich vor seinem Kommen davor warnte. Trotzdem blieb ihm insgeheim der Name …

Ich besorgte sofort das sehr kostspielige Billet über Griechenland und schickte es ihm gleichzeitig mit etwas Bargeld nach Straßburg ab, als ich erfuhr, daß alles erledigt ist und er eine Art Paß erhalten hatte. Was mir zum Leben blieb, war ein sehr geringer Betrag und obschon ich mehrere Sachen dahin und dorthin geschickt hatte, konnte ich keine großen Beträge erwarten.

„Wie soll das werden!“ klagte Herzing.

„Ich weiß nur eins nicht: es war verhältnismäßig leicht ihn kommen zu machen“, ich hatte mich mit der Bitte um ein Visum auch an den jugoslawischen Konsul in Metz gewendet, „aber ich habe keine Ahnung, wie er ja wieder von uns wegkommen soll …“

„Ich auch nicht!“ erwiderte Herzing und bearbeitete mit großem Kraftaufwand all unsere Türklinken, sodaß sie weithin leuchteten …

Sehr bald traf der letzte Brief Pfarrer Kleins ein.

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