Die Tote von der Maiwoche

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Kapitel 5

Als Tobecke abgezogen war, wollte Daniel natürlich gleich wissen, wie das Gespräch mit ihm gelaufen war. Sie fasste es für ihn zusammen.

Er runzelte die Stirn und sah sie intensiv an. »Traust du dir das überhaupt schon zu? Es ist der erste Mordfall, seit …«

»Seit ich bei meinem letzten fast draufgegangen wäre, meinst du.« Mit einem verletzlichen Ausdruck im Gesicht erwiderte sie seinen Blick.

Verlegen fuhr er sich mit der Handkante durch die kurzgeschorenen Seitenpartien. Seit Neuestem trug er einen gestutzten Vollbart. »Wenn du dich nicht in der Lage fühlst, den Fall zu bearbeiten, kann ich das verstehen. Dann übernehmen Carlo und ich. Carlo meint übrigens auch, es würde im Moment völlig reichen, wenn du im Büro bleibst und …«

»… Schreibkram erledigst und Akten von links nach rechts schiebst, nicht wahr?« Sie lachte. »Oh nein, mein Lieber, das hättest du wohl gern. Dafür ist Zeit, wenn ich kurz vor der Rente stehe.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du das Erlebnis genügend verarbeitest hast. Du wolltest keine Therapie, obwohl wir dir alle dazu geraten haben.«

»In der Reha hatte ich so was in der Art. Gesprächskreise und auch Einzelsitzungen. ›Ich bin der Bruno und komme nicht darüber weg, dass mein Vater gestorben ist.‹ Nein. Brauche ich nicht. Immer um mich selbst kreisen ist nicht mein Ding. Ich konnte das nicht wirklich ernst nehmen und war offen gestanden froh, als ich nach Hause durfte. Ich bin eher der aktive Typ, das weißt du ja. Sport hilft mir am besten, wenn es mir nicht gutgeht. Einmal mit dem Fahrrad rund um den Rubbenbruchsee, und der Kopf ist wieder klar.«

»Das musst du wissen. Wie gesagt, wir übernehmen gerne – ein Wort genügt.«

»Das weiß ich, danke. Uns steht nun leider ein unangenehmer Gang bevor. Wir müssen Jessicas Eltern über ihren Tod informieren.«

»Wir beide schaffen das schon.«

Ihr wurde warm ums Herz. Seit Jahren arbeitete sie mit Daniel zusammen. Anfangs hatte sie ihn nicht gemocht. Sie hatte lange gebraucht, um ihn als Kollegen zu respektieren. Für ihren Geschmack war er zu eitel, zu sehr von sich überzeugt. Doch je länger sie ihn kannte, desto besser verstand sie ihn. Mittlerweile schätzte sie ihn genauso wie ihren älteren Kollegen Carlo Oltmann, einen väterlichen Typ. In manchen Momenten genoss sie das Zusammensein mit Daniel richtig. Auch als mittlerweile Enddreißiger wirkte er manchmal noch jungenhaft unbeholfen, er hatte eine positive Ausstrahlung, war aufgeschlossen, begeisterungsfähig, humorvoll und ein guter Gesprächspartner obendrein.

»Dann komm«, sagte sie.

*

»Warum wolltest du dich mit mir ausgerechnet hier treffen?« Katharina Jütting war es manchmal leid, von Max wie eine bildungsferne Analphabetin behandelt zu werden, dabei hatte sie studiert, wenn sie die Uni auch ohne Abschluss verlassen hatte.

Sie standen an der Ecke Lotter Straße/Heger-Tor-Wall vor einem Haus im römischen Baustil. »Kennst du das Akzisehaus?«, fragte er. »Warst du mal drin?«

»Ja, aber ist lange her. Da gab es in den 70er-Jahren ein Spiegelkabinett. Fand ich total interessant. Ich war damals dünn wie eine Bohnenstange, und im Spiegel hatte ich dann richtig schöne Kurven. Heute hätte ich gerne einen Spiegel, der mich schlank macht.«

Er lachte. »Bist du doch. Aber du weißt nicht, was das früher war? Noch früher, meine ich.«

Sie zuckte mit den Schultern. Jetzt würde Max wieder anfangen zu dozieren und den Lehrersohn herauskehren, das kannte sie schon.

»Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein Zollhaus. Verbrauchsgüter wie Bier, Wein, Korn oder Mehl wurden mit Zöllen belegt, die der Stadt als wichtige Einnahmequelle dienten. Später wurde es Teil des kulturgeschichtlichen Museums, das war wohl zu der Zeit, als du im Spiegelkabinett warst, dann Museumsladen mit Kassenhaus für das benachbarte Museum. Inzwischen dient es als Werkstatt des Museums.«

»Aha, wieder ein paar Synapsen mehr im Gehirn. Und was tun wir hier?«

»Du hast neulich gesagt, dass du noch nie im Felix-Nussbaum-Haus warst, und da gehen wir jetzt hin.«

»Weil du es nicht erträgst, dass ich Kulturbanausin es tatsächlich in den 20 Jahren seit der Eröffnung kein einziges Mal geschafft habe?«

»Du hast halt andere Qualitäten.« Max Grewe legte den Arm um ihre Taille und zog sie leicht an sich.

»Nicht in der Öffentlichkeit, Max. Lass uns reingehen.« Nervös blickte sie sich um. Es war niemand da, den sie kannte, aber man wusste nie. Sie spielten ein gefährliches Spiel, das jederzeit auffliegen konnte. Ein Spiel mit dem Feuer. Irgendwann würde es vorbei sein, doch bis dahin wollte sie die gemeinsame Zeit mit Max genießen.

Seit über einem halben Jahr waren sie nun ein Paar – Max, der Psychologiestudent, der sich mit seinen bunttätowierten Armen von seinem gutbürgerlichem Elternhaus absetzen wollte, und sie, die nicht mehr ganz junge Arzthelferin, verheiratet und Mutter einer heranwachsenden Tochter. Sie sah immer noch gut aus, das wusste sie. Sie war relativ klein und es fiel nicht auf, dass ihre einst naturblonden Haare inzwischen dunkel gefärbt waren. Niemand hätte sie auf 53 geschätzt. Max hingegen wirkte mit seiner dunklen Hornbrille und dem rötlichen Vollbart mindestens zehn Jahre älter als er war. Sie hatte sich große Mühe gegeben, ihr Geheimnis für sich zu behalten, und war sich lange sicher gewesen, dass niemand aus der Band bemerkt hatte, was sie für Max empfand. Diese Sicherheit hatte sie nun nicht mehr, oder warum hatte Carsten sie durch eine Jüngere ersetzt? Er sagte, es sei nur ein Versuch mit Jessi, aber sie glaubte ihm nicht. Sie wusste, dass zwischen den beiden etwas lief. Auch sie hatte mal was mit Carsten gehabt, doch das war lange her. Inzwischen verachtete sie ihn, und sie hasste Jessi. Wenn Carsten nicht einen Schlussstrich gezogen hätte, dann hätte sie es getan.

»Sagen dir die Werke von Felix Nussbaum eigentlich was?«, fragte Max, als sie den Kassenbereich passiert hatten. Wie üblich hatte Katharina die Eintrittskarten bezahlt. Es machte ihr nichts aus, denn sie wusste, dass Max als Student Mühe hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sein Vater unterstützte ihn nicht mehr, seit er sich mit ihm überworfen hatte.

»Ich kenne nur das Plakat, das ihn mit Judenpass zeigt«, gab sie zu.

»Er war ein Osnabrücker Jude aus großbürgerlicher, wohlhabender Kaufmannsfamilie. Sie besaßen eine herrschaftliche Villa in Osnabrück und führten ein gutes Leben. Sein Vater war Hobbymaler, der das Talent seines Sohnes erkannt und gefördert hat. Felix Nussbaum hat Anfang der 30er-Jahre noch große Erfolge gefeiert, in Osnabrück und in Berlin. Leider musste er mit Beginn der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 emigrieren, zunächst nach Italien und Frankreich, später nach Belgien, zusammen mit seiner Frau Felka Platek, seiner großen Liebe. Seitdem lebte er in Brüssel in ständiger Angst vor Verfolgung. Im Versteck malte er weiter, und seine Werke veränderten sich. Die dunklen Farben und schroffen Konturen sind Sinnbild seiner zerrissenen, ängstlichen Seele. Er hatte wohl eine düstere Vorhersehung, die sich in seinen Werken zeigt. Das Exil hat aus ihm einen kaputten Mann gemacht.«

Sie erreichten über einen gläsernen Gang das Innere des Nussbaum-Hauses. Im holzverkleideten Haupttrakt fanden sich frühe Werke des Künstlers, die seine Liebe zur Natur und seine positive Lebenseinstellung ausdrückten.

Als sie über die zinkverkleidete Nussbaum-Brücke den »Gang der ungemalten Bilder« erreichten, blieb Max stehen und zog Katharina zur Seite. Sie waren allein, und er nutzte sofort die Chance, um sie zu küssen.

»Ich finde es hier nicht sonderlich romantisch«, sagte sie.

»Warum? Weil es mal nicht rosarot zugeht? Weil es keine Kerzen gibt, keine Blumen und keine Geigen?«

»Sei nicht so zynisch. Mich bedrückt die Atmosphäre. Ich finde sie beklemmend.«

»Ach ja? Ist doch interessant, was der Architekt daraus gemacht hat. Passt gut zu Nussbaums Werken. Selten spiegeln sich die Werke eines Künstlers so deutlich in der Architektur eines Gebäudes wider.«

»Ist Felix Nussbaum umgebracht worden?«

Max nickte. Sie gingen weiter. Kamen an Fenstern vorbei, die gezackt waren wie Blitzeinschläge, an spitzen Winkeln, harten Materialien wie Beton und Zink. Ständige Richtungswechsel über schiefe Ebenen sorgten für Verwirrung und Unbehagen.

Katharina fühlte sich von der bizarren Architektur überfordert.

»Mir wird schwindlig«, stöhnte sie. »Das ist ja dunkel hier wie im Kerker. Einfach gruselig. Und alles ist schief.«

»Das ist beabsichtigt«, erklärte er. »Die dunklen Töne, schroffen Materialien und schiefen Ebenen sollen Nussbaums Gemütszustand versinnbildlichen. Der amerikanische Architekt Daniel Libeskind hat sich etwas dabei gedacht, als er den Komplex aus drei ineinander übergehenden Gebäuden konzipiert hat. Ich finde es grandios. Der Besucher nähert sich so Nussbaums Seelenzustand an, seiner Verzweiflung, seiner inneren Zerrissenheit, seinen Depressionen. Wenn wir ein Gefühl von Schwindel verspüren, können wir nachvollziehen, wie der Künstler in den letzten Jahren seines Wirkens den Halt verloren hat, die Orientierung. So geht es mir auch manchmal. Manchmal verliere ich den Halt, besonders, wenn ich daran denke, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein wird, weil du dich nicht offen zu mir bekennst.« Er hatte einen melancholischen Ausdruck im Gesicht.

»Bitte hör auf!« Sie ließ ihn stehen und ging einfach weiter.

Rasch hatte er sie eingeholt. »Felix Nussbaum hat sich nie sicher gefühlt im Exil; er musste jederzeit damit rechnen, denunziert und verhaftet zu werden«, rief er atemlos. »Ich verstehe seine Unsicherheit, auch wenn ich vielleicht nicht verfolgt und vom Tod bedroht bin. Aber man kann nie wissen.«

 

Sie riss ihre Augen auf. »Wie meinst du das? Was erzählst du für einen Käse? Du hast einfach zu viel Psychozeug gelesen.«

Max fixierte sie mit einem seltsamen Blick. »Es ist kein Käse, Katharina. Manchmal habe ich Angst. Ich bin mit dir hierhergekommen, damit du verstehst, wie ich das meine.«

Sie hatten den dunkelsten Raum erreicht. Darin hingen jene Bilder, die Nussbaum kurz vor seinem Tod im Exil gemalt hatte. Es waren finstere Prophezeiungen, die der Maler auf die Leinwand gebannt hatte.

Max blieb vor einem Gemälde stehen. Es zeigte das bekannte Selbstbildnis des Malers. »Ich muss dir was sagen«, begann er stockend. Er schluckte sichtbar. »Jessi ist tot.«

»Was sagst du da?« Katharina begann zu frösteln. Die düsteren Bilder, die dunklen Betonwände und Betonböden um sie herum nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren und von der Atmosphäre verschluckt zu werden.

»Carsten hat mich angerufen. Sie ist letzte Nacht in ihrer Wohnung gestorben. Jemand hat sie erstochen.«

Fassungslos starrte sie ihn an. »Du lügst.«

»Warum sollte ich?«

»Das erzählst du mir hier? Ausgerechnet hier? Du hast mich in diese unheimlichen Katakomben gelockt, um mir etwas derart Schreckliches mitzuteilen?«

Er nickte ernst. »Du musst mir sagen, was du weißt, Katharina.«

»Was soll ich wissen?«

»Genau das ist die Frage, die mich brennend interessiert.«

Sie lachte hysterisch. »Du glaubst nicht wirklich, dass ich was damit zu tun habe!«

Er zog die Schultern hoch. »Sag du es mir, Katharina. Du hast sie gehasst, das ist kein Geheimnis.«

»Ja und? Das macht mich nicht zur Mörderin! Ich bin doch nicht bescheuert und bringe sie deswegen um!«

»Wo warst du denn gestern? Du hörst dich nicht erkältet an, so schnell wird man nicht gesund. Also, wo warst du?«

»Zu Hause. Ich bin wirklich erkältet, das merkt man, wenn ich länger rede. Das geht voll auf meine Stimme, und manchmal muss ich husten. Unmöglich, so auf der Bühne zu stehen.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Dass ich krank war?«

»Dass du zu Hause warst.«

Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn finster an. »Du redest wie ein Polizist. Verdächtigst du mich etwa? Was bildest du dir ein?«

»Entschuldigung, das war nicht so gemeint. Ich glaube, wir werden alle noch vernommen. Vielleicht ist es gut, wenn du dich darauf vorbereitest!«

Sie senkte den Kopf. »Darauf antworte ich nicht. Ich bin dir keine Antwort schuldig.«

»Ich verdächtige dich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Jessis Tod irgendwie mit dir zusammenhängt. Was ist mit deinem Stalker?«

»Müller? Der ist harmlos, Max. Mit dem werde ich fertig.«

»Könnte er dahinterstecken?«

»Aus welchem Grund?«

Er kraulte seinen Bart. »Um dich zu beschützen? Dass der Mensch nicht richtig tickt, wissen wir. Für mich steckt eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung dahinter, möglicherweise Asperger oder Borderline. Vielleicht auch beides. Seine soziale Interaktion ist erheblich eingeschränkt und er zeigt Stereotypen und zwanghafte Verhaltensweisen. Er bräuchte dringend eine Therapie. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass er sich seiner Krankheit stellt, dass er sie akzeptiert und sich eine Veränderung wünscht. Und das ist gerade bei Asperger-Patienten schwierig. Durch die autistischen Züge fällt es den Betroffenen schwer, eine Störung bei sich zu erkennen und sich einem Therapeuten anzuvertrauen.«

»Vielleicht ist er ja schon in Therapie.«

Max zuckte mit den Schultern. »Wenn du wirklich nichts weißt, dann tippe ich auf ihn. Vielleicht ist seine kranke Denke, du würdest zurückkommen, wenn er deine Konkurrentin erst einmal ausgeschaltet hat.«

»Müller ein Mörder? Niemals! Er ist krank, okay, aber ich habe ihn nie aggressiv erlebt. Außerdem kapiert er, wenn er zu weit gegangen ist. Das hat er bisher jedes Mal eingesehen und sich getrollt. Nein, mit deiner Vermutung liegst du völlig falsch!«

»Wir werden sehen«, sagte Max und rieb sich ein Auge. »Ich werde ihn nicht anzeigen, dazu fehlen mir die Beweise. Es ist nur eine Vermutung, mehr nicht.«

»Was soll ich machen? Warum nimmst du mich so in die Mangel? Bin ich in Gefahr?«

»Versteh mich nicht falsch. Wie gesagt, es könnte sein, dass dich die Polizei ins Visier nimmt. Dann brauchst du eine bessere Ausrede als gerade eben. Ich würde dir dringend raten, morgen zum Konzert zu kommen und mitzusingen. Du musst dich dem Publikum zeigen. Es darf nicht sein, dass nur der geringste Verdacht an dir haften bleibt.«

»Du siehst Gespenster, Max, echt. Und jetzt lass uns von hier abhauen, bevor ich eine Panikattacke bekomme.«

»Wie du meinst«, sagte er und folgte ihr seufzend über die schiefen Ebenen zurück zum Ausgang.

Kapitel 6

Mit dem Auto waren es keine fünf Minuten zum Richard-Strauss-Weg am Westerberg. Die Eltern von Jessica Wagner bewohnten ein stattliches Anwesen unmittelbar am gepflegten Grüngürtel der Stadt. In der ruhigen Sackgasse gab es Bungalows aus den 60er- und 70er-Jahren und wenige Neubauten.

Birthe Schöndorf hatte in Erfahrung gebracht, dass Christian Wagner selbstständiger Bauunternehmer mit einer mittelständischen Firma in Osnabrück war. In der breiten Einfahrt stand eine Mercedes S-Klasse. Eine schwere Eingangstür, vergitterte Fenster und eine gut sichtbare Alarmanlage sollten für ein Höchstmaß an Sicherheit sorgen.

Birthe war etwas flau. Nie war es leicht, Angehörige vom Tod eines Familienmitglieds zu unterrichten. Am schlimmsten war es, Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind gestorben war, völlig unabhängig davon, wie alt das Kind war. Für Eltern war es unbegreiflich, wenn ihr Kind vor ihnen gehen musste, es bedeutete immer einen radikalen Einschnitt in ihrem Leben. In der Regel traten Polizisten diesen schweren Gang zu zweit an. Nach Möglichkeit zogen sie einen Notfallseelsorger hinzu. Birthe hatte bei der Einsatzzentrale nachgefragt, ob ein weiterer Seelsorger zur Verfügung stand, aber leider eine negative Antwort erhalten. Vorsichtshalber hatte sie einen Rettungswagen bestellt, der hinter ihnen herfuhr und sich im Wendehammer in Bereitschaft hielt.

Elke Wagner öffnete die Tür. Sie war Mitte bis Ende 50, sehr schlank und mit einer blau-weißen Hemdbluse und schmal geschnittener Jeans sportlich-elegant gekleidet. Nachdem Birthe und Daniel sich ausgewiesen hatten, schien sie sofort zu ahnen, was auf sie zukommen würde. Erschrocken rief sie nach ihrem Mann. Christian Wagner kam sofort. Auch er war auffallend gut gekleidet, trug keinen bequemen Freizeitlook. Überraschung und Erschrecken spiegelten sich auf seinem Gesicht.

»Dürfen wir bitte hereinkommen?«, fragte Birthe. Sie hasste, was ihr bevorstand, und würde es gerne schnell hinter sich bringen. Doch nun galt es, so behutsam wie möglich vorzugehen.

»Um was geht es?«, fragte Jessicas Vater heiser. Er wirkte deutlich älter als seine Frau.

»Sind Sie die Eltern von Jessica Wagner?«, fragte Birthe. Ihr war bewusst, dass ihre ernste Miene bereits alles sagte. Daniel stand dicht neben ihr, sie konnte ihn fast körperlich spüren.

Der Bauunternehmer nickte. Seine Frau stellte sich hinter ihn, fuhr sich nervös durch den hellgesträhnten Bob und hielt sich an ihm fest.

»Können wir irgendwo in Ruhe reden?«

Christian Wagner starrte sie an, steckte sein weißes Hemd in die Jeans und blieb wie angewurzelt stehen.

Es war seine Frau, die sich ein Herz fasste und die beiden Kommissare in einen großen, elegant eingerichteten Wohnraum bat. Cremeweiße Ledersofas, helle, schimmernde Tapeten, farblich passende Bilder in Goldrahmen an den Wänden, weißes Mobiliar und mehrere Beistelltische aus Edelstahl und Glas. Der Esstisch war mit friesischem Steingutgeschirr gedeckt. In der Mitte stand eine Glasvase mit zartrosa Rosen. Es roch nach Kaffee, Rührei mit Speck und geröstetem Toastbrot. Anscheinend hatten die beiden gerade noch gemütlich zusammengesessen und gefrühstückt. Bis die Katastrophe mitten in ihren Alltag hineingeplatzt war.

»Vielleicht setzen Sie sich lieber«, schlug Daniel mit rauer Stimme vor. Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. Doch Elke und Christian Wagner rührten sich nicht von der Stelle.

»Ihre Tochter Jessica … Es wäre wirklich besser, wenn Sie sich setzen«, startete Birthe einen neuen Versuch.

»Nein!«, rief Elke Wagner aus und steuerte trotzdem mit unsicheren Bewegungen eine Couchgruppe im hinteren Teil des Raumes an. Daniel folgte ihr.

»Was ist passiert? Hatte sie einen Unfall?«, wagte sich Christian Wagner vor. Er war kreidebleich.

»Kommen Sie«, sagte Birthe und berührte ihn zaghaft am Oberarm. »Gehen wir zu Ihrer Frau.«

Sie verteilten sich auf die verschiedenen Sofas. Birthe bemühte sich, den Eheleuten fest in die Augen zu schauen, während sie den Satz sagte, der jedem, der ihn hörte, das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter tot ist. Sie ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.«

Daniel murmelte mit verkniffenem Mund sein Beileid und verschränkte angestrengt seine Hände, bis die Gelenke knackten.

»Nein, oder?«, entfuhr es Elke. »Das kann nicht wahr sein!« Sie schlug sich beide Hände vor den Mund.

»Wer war das?«, fragte ihr Mann mit versteinerter Miene. Sein Adamsapfel bewegte sich auffällig beim Schlucken.

»Wir wissen es noch nicht, aber wir tun unser Bestmögliches, um die Tat rasch aufzuklären.« Birthe bekam vor Aufregung rote Wangen.

Elke und Christian Wagner starrten sie an.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« Birthe wusste, die Frage war unnötig angesichts des reich gedeckten Tisches, aber sie wollte irgendetwas tun.

»Das ist nicht wahr!«, wiederholte Frau Wagner tonlos. »Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!«

»Wann?«, fragte ihr Mann.

»Es muss in der Nacht passiert sein«, sagte Birthe. »Zwischen Mitternacht und 1 Uhr nachts.«

»Wer? Wer hat das getan?«, fragte Christian Wagner erneut mit eisiger Stimme. »Wer hat meine Tochter umgebracht?«

Daniel räusperte sich. »Wir werden es herausfinden, Herr Wagner. Dafür sind wir da! Es wird bereits eine Soko gebildet, die sich ausschließlich damit befasst, rund um die Uhr.«

»Was wissen Sie? Was haben Sie bereits herausgefunden? Sie müssen doch schon erste Spuren gesichert haben!« Er klopfte auf seine goldene Armbanduhr. »Das Ganze ist fast zwölf Stunden her! Mir geht das zu langsam. Wenn Sie sich mehr angestrengt hätten, könnten Sie den Täter vielleicht bereits haben! Ist es ein Asylant?«

»Lassen Sie uns unseren Job machen, Herr Wagner«, bat Birthe ruhig, ohne auf seine voreilige Schlussfolgerung einzugehen, die sie ärgerte. »Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen.«

»Nichts deutet bisher darauf hin, dass es ein Asylbewerber ist«, kam Daniel ihr zu Hilfe.

Birthe atmete tief durch. »Kollegen von uns sind noch vor Ort. Sie machen ihre Arbeit gründlich und präzise und gehen erst, wenn sie alle verwertbaren Spuren gesichert haben.«

Christian Wagner streckte ihr seinen Zeigefinger entgegen. »Finden Sie das heraus! Beeilen Sie sich! Ich zahle eine große Summe für die Ergreifung des Täters. Er muss dafür büßen, was er getan hat, er muss seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Ich will ihn leiden sehen. Er soll begreifen, was er gemacht hat. Wenn Sie nicht schnell genug sind, werde ich Sie verklagen! Ich werde noch heute meinen Anwalt informieren.«

»Seien Sie unbesorgt, Herr Wagner«, sagte Daniel. »Die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten liegt bei fast 100 Prozent.«

»Zahlen interessieren mich nicht. Es geht um meine einzige Tochter. Ich lasse Sie fortan nicht in Ruhe. Ich will wissen, was mit meiner Tochter passiert ist!«

»Wann haben Sie Jessica das letzte Mal gesehen?«, richtete sich Birthe an Frau Wagner.

»Oje, das weiß ich gar nicht genau«, sagte Elke Wagner tonlos. »Wir hatten immer engen Kontakt über das Handy. Gestern Abend haben wir noch miteinander geschrieben, kurz vor dem Konzert. Jessica wollte hinterher gleich berichten, wie es gelaufen ist, doch das hat sie nicht getan. Ich habe lange gewartet, aber es ist nichts gekommen. Ich habe sie in Ruhe gelassen, weil ich dachte, sie sei müde oder vielleicht noch mit ihren Kollegen ausgegangen. Das war unser letzter Kontakt. Ich hatte vor, gleich zu ihr zu fahren und ihr ein paar Brötchen vorbeizubringen.« Mit hilflosem Blick sah sie ihren Mann an.

 

Christian Wagner schüttelte den Kopf, als sei das alles für ihn unbegreiflich, als könne er es nicht fassen. »Vor einer Woche waren wir das letzte Mal bei ihr. Am Sonnabendvormittag. Wir haben ihr was zum Frühstücken vorbeigebracht.«

»Wie wirkte sie da auf Sie?«

Christian Wagner verschränkte seine Arme vor dem Körper. »Völlig normal. Wie immer. Sie hatte es eilig, sie wollte zu einer Probe.«

»Ganz so stimmt das nicht«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Sie hatte schon länger Probleme. Davon habe ich dir doch erzählt.«

»Zeigen Sie mir bitte mal den Chatverlauf von gestern Abend«, wandte sich Birthe an Jessicas Mutter. Die stand auf, um ihr Handy zu holen. Birthe wartete gespannt und las sich dann den Verlauf durch, um das Telefon anschließend an Daniel weiterzureichen. »Sie fühlte sich gemobbt«, sprach sie laut aus. »Von wem? Wissen Sie das?«

»Von allen Bandmitgliedern außer Carsten Tobecke. Fragen Sie mich bitte nicht, warum«, sagte Elke Wagner. »Ich weiß es nicht. Unsere Tochter fühlte sich leicht auf den Schlips getreten. Nicht immer haben wir den Grund erfahren, und wir wollten ihn auch nicht immer so genau wissen. Wir wollten nicht, dass sie sich in etwas hineinsteigert.«

»Sie sprachen eben von Problemen. Was für Probleme waren das?«

Elke Wagner öffnete ratlos ihre Hände. »Meine Tochter war sehr emotional. Sie hat sich alles zu Herzen genommen, jede Kritik, jede Zurückweisung. In der letzten Zeit ging es ihr nicht sonderlich gut. Aber oft hatte ich auch den Eindruck, dass sie übertreibt. Sie dachte immer gleich an Mobbing, wenn jemand nicht superfreundlich zu ihr war. Ich habe ihr gesagt, dass die Leute vielleicht ihre eigenen Probleme haben, aber sie hat alles immer nur auf sich bezogen.«

»Wissen Sie, was Ihre Tochter gestern nach ihrem Auftritt vorhatte? Wollte sie irgendwohin? War sie mit jemandem verabredet?«

Die Eheleute schwiegen. Birthe und Daniel ließen ihnen Zeit zu antworten.

»Wir ermitteln vorrangig in Jessicas persönlichem Umfeld. Vielleicht können Sie uns bei den folgenden Fragen weiterhelfen«, sagte Birthe. »Mit wem hatte Ihre Tochter in der letzten Zeit Kontakt? Ist sie mit jemandem in Streit geraten?«

Elke Wagner zuckte stumm mit den Schultern. »Gestern Abend hatte sie sich über die anderen Musiker geärgert, weil sie sich nicht beachtet gefühlt hat. Das hat Jessica besonders gehasst: wenn man sie ignoriert hat.« Sie faltete ihre Hände und legte sie in den Schoß.

»Ich verstehe«, antwortete Birthe. Kurz dachte sie daran, dass auch ihr Verhältnis zu ihren Eltern längst nicht mehr so innig war wie vor einigen Jahren und dass sie manchmal regelrecht vergaß, sich bei ihnen zu melden. »Eltern wissen nicht alles von ihren Kindern. Aber Sie können ja mal darüber nachdenken. Sie müssen nicht sofort antworten. Sobald Ihnen etwas einfällt, melden Sie sich einfach bei uns.«

»Dazu wird uns nichts einfallen«, sagte Herr Wagner kurz und knapp. »Jessica hat nicht viel mit uns geredet. Über ihr Privatleben wissen wir wenig. Wir vermuten, dass sie in der letzten Zeit eine Beziehung hatte, das ist auch schon alles. Vor etwa einem Vierteljahr war sie noch gut gelaunt, fast euphorisch, und in der letzten Zeit war sie wie ausgewechselt – eher deprimiert und sehr still.«

»Ich hatte schon engen Kontakt mit Jessica«, antwortete Elke Wagner. »Sie hat sich täglich bei mir gemeldet. Wir haben telefoniert oder kurz gechattet. Trotzdem hatte ich den Eindruck, sie wollte mir nicht alles sagen. Ich habe es so hingenommen, wollte nicht in sie dringen. Das mochte sie nämlich nicht. Dann hat sie dichtgemacht und mich nicht mehr an sich herangelassen.«

»Gab es jemanden, vor dem sie Angst hatte?«, fragte Birthe.

»Sie war sehr sensibel«, sagte Christian Wagner. »Ängstlich nicht, aber sensibel. Oder?« Er suchte Bestätigung bei seiner Frau.

»Sie hatte Angst vor Menschen. Vor Menschenmengen«, fügte Elke Wagner hinzu. »Sie brauchte den Applaus, war regelrecht süchtig danach, aber kurz vor einem Auftritt wäre sie jedes Mal fast gestorben vor Angst. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment.« Sie ging aus dem Raum und kam wenig später mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zurück. Während sie die Gläser füllte, entstand eine Redepause.

*

Am Steuer des neuen weißen Mercedes saß Alwin Müller. Vorsichtig rangierte er das Fahrzeug aus der Hofeinfahrt. Angelina ärgerte sich, dass ihr wie gewöhnlich nur der Part der Beifahrerin zukam. Sie schaltete das Radio ein und wechselte den Sender, um nicht während der Fahrt Alwins Musikgeschmack ausgesetzt zu sein.

»Mach’s wenigstens nicht so laut«, brummelte Alwin. »Bin lange kein Automatik-Auto mehr gefahren, muss mich erst wieder umgewöhnen.«

»Ich habe dir angeboten, die Strecke zu übernehmen, kenne mich mit Automatik aus, aber du wolltest ja nicht.«

Er verzog keine Miene, blickte stur geradeaus. »Imposanter Straßenkreuzer, oder?«, sagte er nach einer Weile. »Man sitzt wie in einer Badewanne, nur gemütlicher. Ich fahre den echt gerne.«

»Ich mag die weichen Ledersitze. Man versinkt förmlich darin. In diesem Auto könnte ich bis nach Italien fahren und würde frisch und ausgeruht aussteigen. Hast du schon mal nach oben geschaut?«, fragte Angelina.

Er grinste nur.

»Ein Sternenhimmel im Wagendach, geil, oder? Wie ein Ami-Schlitten. Fehlt nur noch eine Getränkebar im Fond, dann könnte man Party machen.«

Erneut grinste Alwin und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ja, ja, in eurem Alter habt ihr nur Feiern im Kopf.«

Im Radio kam ein Lied, das Angelina mochte. Sie drehte es lauter und sang mit.

Eine Weile ließ er es über sich ergehen, dann reichte es ihm. »Eine Sängerin wird aus dir sicher nicht«, murrte Alwin. »Wenn du mich fragst, triffst du keinen Ton. Jeder Elefant ist musikalischer als du.«

Angelina verstummte und schaltete das Radio ab.

Er drehte sich zu ihr hin. »Weißt du, was mich wundert?« Er musste auf die Bremse treten, weil ein Radfahrer ausscherte. Alwin fluchte leise. Auf der Lotter Straße war wie immer reger Verkehr.

»Sag schon.«

»Du wirkst sehr fröhlich, dabei ist doch gerade erst deine beste Freundin gestorben.«

»Ich zeige das eben nicht so. Hab schon genug geheult. Aber zum Glück kann ich es zwischendurch ein bisschen verdrängen. Muss ja auch sein, sonst könnte ich meine Arbeit nicht machen.«

»Ich sehe das anders. Gerade habe ich mir die Frage gestellt, ob du nicht sogar ein bisschen froh bist über ihren Tod.«

Sie fuhr herum. »Wie meinst du das?«

Er hielt an einer roten Ampel. Fußgänger und Radfahrer kreuzten die Straße. Eine Mutter zog ihr bockiges Kleinkind mit sich. Es wollte aus irgendeinem Grund immer wieder zurück. Alwin trommelte auf dem mit cremefarbenen Leder bezogenen Lenkrad. Es hatte die gleiche Farbe wie die Sitze. »Na ja, seien wir mal ehrlich, du hast dich oft über sie geärgert. Tobecke wollte sie in der Band haben und dich nicht. Sie hatte wohl etwas mehr Glück als du. Vor allem Talent.«

»Ey, sie war meine Freundin, ich habe ihr das gegönnt!«

»Das hat mal anders geklungen. Du warst sauer, du warst wütend, du hast getobt vor Eifersucht. So habe ich dich erlebt, nachdem Tobecke ein ernstes Gespräch mit dir geführt hat. Schon vergessen? Wo bist du eigentlich noch hingegangen am Freitagabend? Ich habe dich am Neumarkt gesehen, nach dem Konzert.«

»Halt bloß die Klappe, Alwin, du übertreibst dermaßen! Ich wollte sowieso nächste Woche zur Polizei und eine Aussage machen.«

»Warum das? Was für eine Aussage?«

Sie schwieg und starrte aus dem Fenster.

»He, was willst du denen erzählen, jetzt sag schon!«

Angelina hob das Kinn und sah ihn an. »Wie geht es eigentlich deiner Mutter?«

Er kniff die Augen zusammen. »Worauf willst du hinaus?« Alwin Müller lief dunkelrot an.