Escape oder schreib um dein Leben

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Donnerstag, 20. April

Gedankenverloren schlenderte Sophia am Donnerstagnachmittag an der Kirche vorbei Richtung Ortsende und erreichte einen Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wurde. Hier wohnte Oma Rosie, die Mutter ihres Vaters.

Eigentlich hieß sie Helene. Doch mit ihrem richtigen Vornamen konnte sie sich nicht anfreunden. Sie fand, Rosie war eine nette Abkürzung ihres Nachnamens, der viel besser zu ihr passte. »Ich bin schließlich nicht die fromme Helene von Wilhelm Busch«, antwortete sie, wenn sie mit ihrem offiziellen Vornamen angesprochen wurde. Wenn Sophia sie damit aufzog, dass ›Rosie‹ auch nicht eben für eine coole Frau stand, die »einer gewissen Intellektualität« nicht abgeneigt war – wie ihre Großmutter sich gern ausdrückte – verteidigte sie sich: »Rosenhaag – den Namen liebe ich – und alles, was daran erinnert!«

Die Haustür stand offen und Sophia hörte von draußen die Küchenmaschine laufen, mit der Oma Getreide mahlte. Sie selbst war nicht zu sehen.

»Hallo?«, rief Sophia ins Treppenhaus, »Oma!«

Sie wurde aber nur von Kater Slipper begrüßt. Ihre Oma liebte den Kater wegen seiner Gewohnheit, sich wie ein runder Pantoffel um ihre kalten Füße zu legen, wenn sie sich mal wieder wegen ihres Rheumas kaum bewegen konnte. Slipper schnurrte Sophia um die Beine und maunzte seltsam erbärmlich. Sophia kraulte sein flauschiges Fell hinter den Ohren.

Ihre Großmutter war durch das Küchenfenster auf der Terrasse zu sehen, wo sie gerade eine Tai Ji-Übung abschloss.

Danach kam sie zur Hintertür herein und erklärte ohne Begrüßung: »Ich habe koreanisch gekocht und Slipper hat von der Sauce etwas aufgeschleckt. Ziemlich scharfes Zeug. Rumort jetzt in seinem Inneren herum.« Sie öffnete ihren Kühlschrank, den sie regelmäßig mit einem kräftigen Schlag auf den Thermostat dazu animieren musste, weiter zu kühlen. »Ein paar Brocken Weißbrot in Milch könnten vielleicht helfen. Dir vielleicht auch! Wie geht’s den Bronchien?«, wandte sie sich an ihre Enkelin.

Sophia erblasste. »Du weißt es schon? Steht es auch in der Zeitung?«, fragte sie mit sarkastischem Unterton.

»Meine liebe Fee, wir leben hier in einem Dorf. Da müsstest du doch wissen, dass die Buschtrommel schneller ist als das Licht! Ich soll dir von Johannes gute Besserung wünschen. Sieht übrigens gut aus, der Junge. Und dein Bier habe ich bezahlt, – zusammen mit ’nem bisschen Trinkgeld.«

Sophia schoss die Röte ins Gesicht. Sie hatte gestern ganz vergessen, ihr Getränk zu bezahlen. Aber … »Bier?«

»Keine Sorge, ich petze nicht!« Mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck stellte Oma die Küchenmaschine ab.

Ich soll dir von Johannes gute Besserung wünschen, echote es in Sophias Kopf.

»Magst du Knubbelkuchen?« Das war typisch Oma. Themenwechsel in atemberaubender Geschwindigkeit. Man kam ihren Gedankensprüngen nur schwer hinterher. Und für viele Dinge hatte sie ihre eigenen Bezeichnungen. Das Wort »Muffin« mochte sie nicht. Also hatte sie einfach ein anderes dafür erfunden.

Vorsichtig erkundigte sich Sophia: »Scharf?«

Oma lachte und schüttelte den Kopf: »Zuckersüß, liebe Zuckerfee, mit Stevia gebacken!«

Sophia hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, aber das würde sich sicher bald aufklären. Wahrscheinlich hatte Oma wieder etwas Neues aus einem Artikel in einer Zeitschrift erfahren.

Frau Rosenhaag senior war in Gedanken ein Wirbelwind. Immer las sie mindestens drei Bücher gleichzeitig, die im Haus an verschiedenen Stellen deponiert waren. In verschiedenen Sprachen und über die verschiedensten Themen.

»Ich kann mich trotz meines Alters immer noch nicht entscheiden, was ich in der Welt am interessantesten finde«, sagte sie oft entschuldigend beim Anblick ihrer Bücherberge. Wenn man den Tisch in der Küche decken wollte, musste man zuerst den Sternenglobus und die Himmelsscheibe von Nebra vom Nervensystem des Aals trennen und die Heimatsagen auf die Philosophie Kants stapeln, um Platz für Tassen und Teller zu finden. Das alte Gewürzregal diente gleichzeitig als Medizinschrank, und in den Zimmerecken stritten sich menschengroße Stabpuppen mit dem Küchenbesen um den besten Platz.

Sophia ahnte, dass die Dorfbewohner die eigenwillige Frau, die erst vor ein paar Jahren hierher gezogen war, mit Skepsis betrachteten, passte sie doch in keine der üblichen Denk-Schubladen. Zwar war sie ständig am Herumwuseln, erreichte aber trotz aller Geschäftigkeit so gut wie nie, dass die Küche wirklich aufgeräumt war. Von der Abfolge der Jahreszeiten wurde sie stets aufs Neue überrascht. Wenn sie kurz vor Ostern die Weihnachtsbeleuchtung vom Balkon abnahm, konnte sie sich nicht genug darüber wundern, wie schnell die Zeit verging.

Trotzdem war es ihr gelungen, sich innerhalb des Dorfes einen gewissen Respekt zu erwerben. Denn Oma Rosie konnte eine Sache in besonderem Maße: Zuhören.

Bereits innerhalb kürzester Zeit war sie mit den Lebensumständen ihr vorher fremder Menschen vertraut, erahnte Schwierigkeiten unter Eheleuten oder zwischen Kindern und Eltern, lenkte Gespräche oft so, dass mancher selbst eine Lösung für sein Problem fand.

Oma Rosie verschenkte Zeit. Und das wussten die Menschen zu schätzen.

»Ich glaube, ’s wird besser«, sagte sie nun mit einem Blick auf Slipper, der sich auf der Couch zusammengerollt hatte. Die Nachmittagssonne, die durch das Fenster ins Zimmer leuchtete, schien Slipper in seinem Fell zu speichern. Für einen Moment herrschte absolute Stille und Sophia genoss wieder einmal diese Insel der Gelassenheit in ihrem sonst so getriebenen Alltag.

»Ach ja«, fiel ihr plötzlich ein. »Mama hat mir gesagt, du hast angerufen. Was gibt es denn?«

Ihre Großmutter konnte einen frisch geschlüpften Schwalbenschwanz für ebenso dringend mitteilenswert halten wie einen neu gekauften MP3-Player, den sie aus heiterem Himmel für notwendig hielt. Sich mit ihr zu unterhalten, war ein bisschen wie Surfen im Internet. Diese moderne Errungenschaft hatte die alte Dame längst in ihr Leben integriert und verstand mühelos das weltweite Netz zu durchstreifen. Trotzdem nannte sie das Internet die »falsche Welt« und hätte nicht einen Cent dem Online-Banking anvertraut, das ihre Bank ihr ständig nahe legte. »Mein Geld ist Privatsache. Solche sensiblen Dinge erledigt man am besten auf dem üblichen Weg«, war ihre Meinung.

»Du magst doch schwarz und weiß, so als Design-Elemente?«, erkundigte sie sich jetzt bei ihrer Enkelin.

Wie seltsam sich das bei dieser Generation anhört, fand Sophia. »Ja klar, aber ab und zu soll schon ein Farbtupfer dazukommen.«

»Hm, also schwarz und rot wären eine gute Kombination?«

»Ja, absolut stark«, begeisterte sich Sophia. »Irgendwie magisch. Denk mal an Musical-Plakate!« Sophia kaute an einem Muffin.

Oma stand vom Tisch auf und öffnete den Garderobenschrank im Flur. Sie zog einen Kleiderbügel aus dem völlig überfüllten Schrank und entfernte eine Schutzfolie.

»Schau mal!«

Sophia erhob sich ebenfalls und kam neugierig näher. Zunächst erkannte sie nur ein schwarzes Etwas in ziemlicher Länge. Eine dunkelrote, aus leicht irisierendem Garn gestrickte Rose links oben auf der Vorderseite zog sofort ihren Blick auf sich.

»Das Teil hab ich gestrickt. Aber wenn du es nicht magst, bin ich nicht enttäuscht. Das Stricken hat mir einfach Freude gemacht und ich habe dabei viel an dich gedacht. – Hm. Vielleicht ein bisschen zu viel. Deshalb ist es auch so lang geworden. – Ich weiß, ihr jungen Mädchen heute habt einen anderen Geschmack, sexy und eng, oder so ähnlich.«

Sophia grinste. Oma war einfach süß. Die Diät-Versuche der Enkelin mit dem Ziel Kleidergröße 34 scheiterten in der Regel an Omas »Wünsch-dir-was-Aufläufen« oder den berühmten »Mosaik-Pizzen«, die Frau Rosenhaag eckenweise nach den verschiedenen Geschmacksvorlieben ihrer Gäste belegte.

»Danke«, sagte Sophia gerührt, »der Pullover ist super. Und erst die tolle Rose!«

»Sei froh, dass du nicht Hirschgeweih mit Nachnamen heißt!«, neckte Rosie ihre Enkelin.

Sophia wollte ihrer Oma einen Gefallen tun und schlüpfte in den viel zu großen Pullover. Sie war selbst überrascht, wie wohl und frei sie sich in der weichen Wolle fühlte. Wirklich schade, dass sie dieses Teil nicht in die Schule anziehen konnte. Aber für zuhause war es genau das Richtige zum Relaxen. Ein leichter Kuss aufs Ohr belohnte Oma, die nun doch fast ein wenig aufgeregt die Anprobe verfolgt hatte.

»Passt eigentlich ganz gut. – Und dazu rote Enghosen«, meinte Oma Rosie anerkennend. Für das Wort »Leggins« wählte sie lieber ihre Eigenkreation.

Gut gelaunt tranken die beiden noch einen Kakao und Sophia nutzte die Gelegenheit, ihr Referat zur Sprache zu bringen. Im Handumdrehen steuerte Oma interessante Informationen zum Thema Impressionismus bei, kombinierte Texte und Bildbeispiele und lieferte sogar eine vernünftige Gliederung für Schulzwecke mit. Sophias Leben schien wieder in Ordnung zu kommen.

Als sie sich schließlich mit einer Tüte frisch gemahlenem Mehl und zehn Eiern auf den Heimweg machte, war es schon empfindlich kühl geworden und so ließ sie den neuen Pullover an.

Zuhause saß ihre Mutter wie üblich an einer Näharbeit, offenbar ein luftiges Coctailkleid.

»Ta daaaa!« Mit einer schwungvollen Model-Drehung betrat Sophia das Nähzimmer ihrer Mutter und präsentierte mit ausgebreiteten Armen Omas Werk. Den skeptischen Blick ihrer Mutter beantwortete sie, bevor diese sich äußern konnte: »Geschenk von Oma, selbst gestrickt.«

»Nett von ihr«, antwortete Karen Rosenhaag diplomatisch.

»Lass mich raten: zu weit, zu lang, zu schwarz!« Ihre Mutter schaute sie belustigt an. »Dir gefällt er also?«

 

»Jaaa«, meinte Sophia gedehnt, »für zuhause ist er doch ganz gemütlich und man muss nicht immer den Bauch einziehen!«

»Ahh! Das erinnert mich an meine Theaterschneiderei.« Ihre Mutter unterbrach für einen Moment ihre geschickten Stiche mit der Nähnadel. »Meine Opern-Diven gaben aus Eitelkeit oft eine falsche Konfektionsgröße an und hatten grundsätzlich nie Zeit, zur Anprobe zu erscheinen. Und dann musste in letzter Minute vor dem Auftritt noch die Taille angepasst werden.«

Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Sophias Mutter die Stelle am Theater aufgegeben, da die Arbeitszeiten nicht zu einem Familienrhythmus mit Baby passen wollten.

Ihren Sinn für Mode aber hatte Karen Rosenhaag keinesfalls an den Nagel gehängt. Im Gegenteil. Inzwischen hatte sie sich einen Namen im Dorf und der Umgebung gemacht. Sie war bekannt für geschmackvolle Abendkleider, die sie für Hochzeiten und andere Feierlichkeiten entwarf. Jeder wusste, dass er gut beraten war, ihren Vorschlägen, was Farbe, Stoff und Schnitt anging, zu folgen.

»Hm. So sehr ich Oma Schwiegermama schätze, dieser Pullover ist ein – Unikum.«

Sophia hatte die Reaktion ihrer Mutter vorausgesehen und spielte die Empörte. »Aber Mama!«

»Wenn Mimi in La Bohème einen solchen Pullover besessen hätte, wäre sie vermutlich nicht elend an Lungenentzündung gestorben und eine der schönsten Opern wäre nie geschrieben worden«, schloss Karen Rosenhaag ihr Urteil ab. In Sophias Augen ein zu verschmerzender Verlust. Sie teilte die Leidenschaft ihrer Mutter für diese Art Musik nicht.

»Übrigens, Timo hat dein Saxofon vorbeigebracht.«

»Ah ja, nett von ihm«, reagierte nun auch Sophia ohne große Begeisterung.

»Ich finde, er ist wirklich ein netter Kerl. Aber bis jetzt fällt ja wohl jeder Junge erbarmungslos durch dein Kriterienraster.«

Sophia rollte mit den Augen und wollte dieses Thema beenden. »Wenn sich Mimi in La Bohème einen ›netten Kerl‹ gesucht hätte anstatt diesen Möchtegernkünstler, wäre sie wahrscheinlich nicht krank geworden und eine der schönsten Opern wäre nie geschrieben worden«, konterte sie trocken.

Mama gab sich geschlagen. Sieg nach Punkten!

Donnerstag, 20. April, etwas später

Gut gelaunt ging Sophia in ihr Zimmer und stellte erfreut fest, dass ihr Laptop noch eingeschaltet war. Sie wollte dringend die neuen Informationen für ihr Projekt zum Impressionismus aufschreiben, sonst würden die Eindrücke, die sie bei Oma gewonnen hatte, schnell verblassen.

Als sie das Gerät aus dem Stand-by-Modus erlöste, öffnete sich sofort die letzte Browsersitzung.

@ Wie soll es weitergehen?

Die grünen Buchstaben wirkten verheißungsvoll. Bis jetzt hätte es kaum besser weitergehen können, stellte sie für sich selbst fest: ihre Oma, die immer für alles eine Lösung wusste; Timo, der ihr, abgesehen davon, dass er nervte, Instrument, Noten und Jacke vorbeigebracht hatte; und nicht zuletzt Johnny, der sich zu einem gewissen Grad für sie zu interessieren schien. Wenn da bloß nicht Linda wäre.

Linda … die störte ganz einfach.

Na, das war doch einen Versuch wert. Sophia begann zu schreiben.

@ Am nächsten Tag kam Linda zu Johnny in die Wohnung. Sie sah nicht sehr erfreut aus, als sie die Gitarrenklänge aus seinem Zimmer hörte.

Sophia biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht fies sein, doch jeder wusste, dass Linda sich kein Stück für Musik interessierte. Daher hatte Sophia nie verstanden, wie Johnny und sie miteinander klarkamen. Für Sophia dagegen war Johnnys Gitarrenspiel reine Inspiration.

@Linda stieß die Zimmertür auf. Johnny saß halb von ihr abgewandt. Die schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Er war vollkommen auf sein Spiel konzentriert, über seine Gibson Les Paul gebeugt, die sein Vater in Amerika gekauft hatte.

»Johnny? Johnny?! Johannes! ...« Linda versuchte vergebens sich Gehör zu verschaffen. Das einzige, was sie noch mehr hasste als zu warten, war übersehen zu werden. Entschlossen zog sie den Stecker aus dem Verstärker.

Johnny blickte erschrocken auf. »Sag mal, spinnst du?«, fuhr er sie an. »Weißt du, was der Verstärker gekostet hat?«

Linda blieb unbeeindruckt. Sie hatte das Ding doch bloß ausgesteckt, nicht gegen die Wand geworfen! »Ich schätze mal, du erinnerst dich nicht, dass wir vor einer halben Stunde verabredet waren?«

Johnny stöhnte auf. »Nein, das habe ich total vergessen. Sorry, aber ich kann hier gerade nicht weg. Die Band hat einen Gig am Freitag und ich muss den Akkordübergang hier noch richtig hinbekommen …«

Langsam wurde Linda wütend. »Weißt du was?«, sagte sie, »manchmal glaube ich wirklich, deine dämliche Gitarre ist dir wichtiger als ich.«

Wenigstens hält sie die Klappe, wenn ich Ruhe haben will, dachte Johnny, doch als er das Gesicht seiner Freundin sah, erwiderte er hastig: »Ach Quatsch. Aber es geht jetzt wirklich nicht. Hol dir doch was zu trinken aus dem Kühlschrank und hör’ ein bisschen zu, damit ich weiß, was ich noch verbessern kann.«

Es war als Friedensangebot gemeint, doch Linda fühlte sich auf den zweiten Platz verdrängt. Sie war ihr Leben lang immer die erste Wahl gewesen, hatte von ihren Eltern alles bekommen, was sie wollte. Und in ihren Augen hatte kein Junge der Welt das Recht, sie, das bestaussehende Mädchen des Dorfes, auch nur fünf Minuten warten zu lassen. Wortlos drehte sie sich mit wehendem Haar um und stöckelte zur Tür.

Johnny war versucht ihr nachzulaufen, doch er hatte ihre Eskapaden und Stimmungsschwankungen langsam satt. Also drehte er stattdessen den Volume-Schalter des Verstärkers bis zum Anschlag nach rechts und spielte Good riddance[1], bis er sich tatsächlich befreit fühlte.

Sophia las sich den Text noch einmal durch. Sie musste schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie Linda aus der Wohnung lief, vor Zorn ganz pink im Gesicht. Es machte Spaß, die Konkurrenz so aus dem Rennen zu schreiben. Eigentlich hätte sie große Lust gehabt, noch eine Weile weiterzuschreiben, doch da warteten noch Chemie-Formeln und Vokabeln auf sie. Morgen würde sie auch keine Zeit dafür haben, denn freitags unterrichtete sie mit Timo zusammen die neuen Messdiener.

Was ihre Mutter bloß an Timo fand? Sicher war er auf den ersten Blick ganz nett. Aber sie kannte eben seine Pingeligkeit nicht! Sophia wandte sich wieder ihrem Laptop zu.

@ Timo hatte, pflichtbewusst wie immer, seinen Nachmittag mit Hausaufgaben und Üben verbracht. Dabei merkte er nicht, wie die Zeit verging. Als er das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es schon vier Uhr. Nun würde er zu spät zur Kirche kommen!

Gerne hätte Sophia noch ein paar Missgeschicke herbeifantasiert, die auch mal Timo und nicht immer ihr passieren sollten, doch als sie auf ihren Wecker schaute, gab sie dieses Vorhaben zunächst auf.

»Verdammt, dieses Referat wird niemals fertig!«, murrte sie.

[1] Song: Good riddance von Greenday; Übersetzung: »Und Tschüss!«

Freitag, 21. April

Am Freitag nach der Schule checkte Sophia ihre Aussichten auf das Wochenende. Es sah trübe aus. Julie hatte sich für den Städte-Kurz-Trip verabschiedet.

Paris! Schön für sie!

Der Wetterbericht war wenig vielversprechend, sodass Sophia ein reines Arbeitswochenende vor sich sah. Und das Referat musste nun wirklich langsam Gestalt annehmen.

Sie hockte sich an ihren Laptop und hämmerte die Überschrift in die Tasten. Dabei erwischte sie gleich zwei falsche Buchstaben und merkte nicht, dass Groß- und Kleinschreibung munter durcheinander gerüttelt waren. Ihr Kopf weigerte sich träge, den berühmten ersten Satz auszuspucken. Minutenlang fixierte Sophia die wenigen Buchstaben, begann mit einer historischen Einführung – und löschte sie gleich wieder. Gähn! Viel zu langweilig. Diese Art Referat ödete doch alle an, am meisten sie selbst. Dabei hatte bei Oma alles so frisch und interessant geklungen.

In einer halben Stunde würde Timo klingeln, um sie zur Gruppenstunde abzuholen. Hätte sie sich doch bloß nicht darauf eingelassen!

Ihr Blick fiel auf den Saxofonkoffer. Da ihr Kopf nicht arbeiten wollte, konnte sie sich ja noch die Medley-Stelle aus Sir Duke ansehen.

Okay, ans Gerät!

Der Kofferdeckel sprang federnd auf und das goldglänzende Instrument lag in blauem Plüschsamt vor ihr. Ihr Launebarometer stieg. Oben auf den ordentlich eingehefteten Noten – Timo! – lag ein Zettel:

@ Hallo Phia, wenn du Lust hast, können wir ja am Wochenende zusammen üben. Gruß T.

Sophia schnappte nach Luft. Was erlaubte sich Timo eigentlich, sie Phia zu nennen?! Das war nur ihren besten Freunden vorbehalten und dazu zählte Timo sicher nicht. Wütend zerknüllte sie den Zettel und feuerte ihn in die Zimmerecke. Dann schlug sie den Deckel wieder zu und ließ sich aufs Bett fallen. Wenn das so weiterging, würde dieser Tag in der Kategorie »Besser nie gewesen« enden – außer einem Mittagsschlaf war ihm nichts abzugewinnen. Und den wollte sie sich jetzt gönnen.

Als sie wieder aufwachte, war es schon kurz vor vier Uhr. Timo hätte sich längst gemeldet haben müssen. Mist! Jetzt auch noch hetzen. Obwohl sie nicht weit vom Jugendheim entfernt wohnte, würde sie zu spät kommen.

Sie hastete los, um den Schlüssel für die Gruppenstunde bei der Gemeindereferentin abzuholen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Linda, die gerade in eine Seitenstraße einbog. Es hatte den Anschein, als habe sie geweint, aber sogar mit verwischter Mascara sah sie immer noch hübsch aus. Da kam auch Timo angehechelt.

»Mann, da verlässt man sich einmal auf dich!«, fauchte sie ihm entgegen.

»’Tschuldigung, ich weiß auch nicht …«

»Ja, ja, schon gut«, schnitt Sophia ihm das Wort ab, »ich den Schlüssel, du die Kids!«

Timo nickte und spurtete los, um so schnell wie möglich die wartenden Jugendlichen einzusammeln, bevor sie auf die Idee kamen zu verschwinden.

Das Angebot an Jugendarbeit im Dorf war spärlich. Insofern wurde das Engagement der älteren Jugendlichen von den Jüngeren gerne angenommen. So ging es letzten Endes nicht nur um die Messdiener-Ausbildung. Alle Themen, die die Mitglieder der Jugendgruppe bewegten, kamen zur Sprache. Und dabei fühlte sich Sophia dann doch wieder in ihrem Element.

Aber heute fehlte Julie. Sophia vermisste ihre Freundin sehr. Julie sorgte stets für gute Laune. Sie konnte mit einem flotten Spruch jede noch so ernste Situation in ein humorvolles Licht rücken. Julie war einfach cool, während Timo perfekt organisierte, Listen führte, die Getränkekasse abrechnete. Und Sophia, sie …? Ja, was war eigentlich ihre Rolle? Sie verwaltete die Finanzen der Jugendgruppe, sammelte die Mitgliederbeiträge ein und führte ein Konto. Aber ansonsten?

Sophia wollte sich nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen. Nicht heute, an dem Tag, der bisher nur miese Stimmung in ihr verursacht hatte. Also schlug sie die klassischen beliebten Spiele vor und verdrückte sich nach der Gruppenstunde schnell wieder, ohne auch nur ein weiteres persönliches Wort mit Timo gewechselt zu haben.

Julie hatte es gut. Paris! Weg sein. Über die Champs-Elysées flanieren, den Eiffelturm bei Nacht sehen, Espresso im Bistro … Seit einem Jahr dachte Sophia immer wieder über ein Jahr im Ausland nach. Da lockte Australien. Oder Kanada? England wäre auch in Ordnung. Einfach nur raus aus dieser Enge des Dorfes, der Ansammlung von Nicht-Möglichkeiten, der Begrenztheit. Das, was sie als Kind als so beschützend und sicher empfunden hatte, schränkte sie immer stärker ein, je älter sie wurde.

Wenn da nicht Johnny wäre! Ach ja, was war wohl mit der verheulten Linda los gewesen? Das hatte sie ja total verdrängt. Egal. Der Tag war gelaufen. Noch ein bisschen Musik hören und surfen im Internet, vielleicht Saxofon üben, dann war es Zeit fürs Bett.

Sie fuhr den Laptop hoch und ging online.

@ Hi, Phia!

Wie soll es weitergehen?

Diese Frage erschien anstelle der üblichen Startseite. Verwundert schaute Sophia genauer auf den Bildschirm.

Sie war sich sicher, dass sie weder ihren Namen noch ihre Adresse in eine Startseite eingegeben hatte. Als ob etwas in ihrem Inneren sie warnte, zog sie die Hände von der Tastatur zurück.

Was war das?

Steckte jemand hinter dieser Meldung? Und wenn ja, wer? Und wie?

Wer in ihrem Bekanntenkreis besaß die Fähigkeit, in andrer Leute PCs einzudringen und ihre Startseite zu ändern?

Ein Verdacht stieg in ihr auf: Timo? Der heillos schüchterne Timo – nein, unmöglich! – Oder doch?

 

Wie alles in seinem Leben beherrschte Timo auch die Informatik in genial hohem Maße.

Sie versuchte, sich an ihren Blog-Eintrag zu erinnern, suchte nach einer Datei. Mist! Warum war sie nur so naiv gewesen, darauf zu verzichten, den Text abzuspeichern?

»Anfängerin!«, schimpfte sie mit sich selbst. Sophia wusste nur noch, dass sie Timo eine Verspätung für den heutigen Freitag angedichtet hatte, und er war tatsächlich zu spät aufgetaucht … Hallo Phia … erinnerte sie sich an die Anrede auf dem Zettel im Saxofonkoffer.

So etwas hätte sie Timo niemals zugetraut!

Aber wer sonst hatte Interesse an ihr, an ihren Gedanken?

Sophia schaute sich verunsichert in ihrem Zimmer um. Gab es noch andere Versuche, in ihre Privatsphäre einzudringen? Die Webcam am Laptop? Entsetzt prüfte sie die Kamera. Ausgeschaltet!, stellte sie erleichtert fest.

Regentropfen klopften leise und unregelmäßig an das Fenster. Ihr Klang erschien Sophia plötzlich fremd. Sie nahm das ununterbrochene Rauschen des Kühlsystems am Laptop wahr, das sich merkwürdig mit der Spannung verband, die in der Luft lag.

Dann schüttelte sie die unangenehme Vorstellung, beobachtet zu werden, ab.

Nein, eine Sophia Rosenhaag ist nicht so leicht zu verunsichern. Wer immer du bist, da musst du dir schon mehr einfallen lassen als ein paar technische Tricks.

Sie schlüpfte in den Pullover, den Oma ihr gestrickt hatte, machte es sich auf dem Bett so bequem wie möglich und begann, die Tasten ihres Laptops zu bearbeiten.

@ Hey biografuturo,

du musst ja ein ziemlicher Feigling sein, wenn du es nötig hast, dich hinter einem Pseudonym zu verstecken. Aber bilde dir nicht ein, dass du mich mit so was beeindrucken kannst!

Und übrigens: Am Mittwoch werde ich dir beweisen, dass du keine Chance gegen mich hast!

Für dich immer noch:

Sophia

Sehr mit sich zufrieden packte sie das Saxofon und die Noten aus und nahm sich die schwierige Passage aus Sir Duke vor.

Dir werd’ ich’s zeigen, dachte sie verbissen. Sie wiederholte mehrmals einzelne Griffkombinationen, dann begann sie das Tempo Schritt für Schritt zu erhöhen, bis der Lauf wie von selbst abspulte.

Sophia schrak regelrecht zusammen, als ihre Mutter die Zimmertür öffnete, um sie zum Abendessen zu rufen. So sehr hatte sie sich ins Üben vertieft. Ihre Mutter lächelte: »Timo scheint ja einen ziemlichen Einfluss auf dich zu haben.«

»Kann man so sagen«, murmelte Sophia, hing das Instrument in den dafür vorgesehenen Ständer und ging zum Abendessen in die Küche.

Im Flur fielen ihr die ordentlich abgestellten Schuhe ihres Vaters ins Auge. Er hatte es heute also zum Abendessen geschafft – was selten vorkam.

Es war eine Angewohnheit ihres Vaters, seine Schuhe gleich nach seiner Ankunft zuhause gegen seine bequemen Opa-Pantoffeln auszutauschen. Rot-grün kariert. Das hatte nicht einmal ihre Mutter verhindern können.

Sie begrüßte ihn mit einem fröhlichen »’n Abend, Paps!« und ließ sich einen Teller Spaghetti vorsetzen.

»Hmm!«, rief sie freudig aus. Ihr Lieblingsessen. Sie begann sofort, die Spaghetti mit der Gabel aufzurollen. Mit einem Mal registrierte sie das abgespannte Gesicht ihres Vaters. Offensichtlich arbeitete er wieder an einem besonders problematischen Fall.

»Spaghetti machen glücklich, Papa! So wie du guckst, kannst du zwei Portionen vertragen!«

Peter Rosenhaag schnaubte kurz durch die Nase, wie zur Bestätigung, blieb aber während der Mahlzeit schweigsam. Sophia berichtete munter von ihrem Tag. Sie versuchte ihren Vater durch ihre unterhaltsame Plauderei von seinen beruflichen Sorgen abzulenken. Da er sich stets auf seine Schweigepflicht berief, hatte sie aufgehört, neugierige Fragen zu stellen. Also tat sie ihr Bestes, um ihn aufzuheitern. Dabei geriet auch das Timo-Computer-Problem in Vergessenheit.

Peter Rosenhaag schmunzelte über ihren Eifer.

»Gut, dass ich dich habe, Phia. Wenn Spaghetti die Lösung für alle Probleme wären, würde ich bestimmt ein paar Kilo zulegen.«

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