Die Pfaffenhure

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»Nun, wenn Ihr etwas entleihen wollt, müsst Ihr Euch eines Magisters bedienen. Nur er darf sich eigenhändig mit Namen und Titel des empfangenen Buches, ferner Tag, Stunde und Ort, in das Registrum schreiben. Ich rate Euch, Euch schnell zu kümmern, denn immer zu Beginn der Semester werden die entliehenen Bücher zurückgegeben und sind dann auch sehr schnell wieder weg.«

Martin bedankte sich für den Hinweis, schaute sich noch ein wenig um und verließ dann die Bibliothek. Bald kam er jedoch mit einem Magister wieder und entlieh sich Johannes Baptista Mantuanus, danach die römischen Dichter Ovid und Vergil.

Alljährlich am Markustag, dem 25. April, fand eine Prozession von Erfurt nach der am Roten Berg gelegenen Markuskapelle statt. Dort waren einhundertfünfzig Jahre zuvor viele Pesttote beerdigt worden. Alle, die für diese Kapelle spendeten, anderweitige Werke der Frömmigkeit verrichteten sowie zur Kapelle pilgerten, um zu beten oder den dortigen Friedhof unter dem Gebet von fünf Vaterunsern und fünf Ave-Maria zu umschreiten, erhielten vierzig Tage Ablass.

Ganz Erfurt, so schien es, versammelte sich frühmorgens um neun Uhr auf dem Platz vor den Graden. Von der Außenkanzel an den Domstufen erinnerte der Priester die Menschenmenge an den Anlass und erzählte die Begebenheit, als am 21. März 1349 das Michaelisviertel brannte.

»Die Pest erreichte Erfurt erst ein Jahr später. Doch glaubte man, die Juden hätten das Wasser und die Brunnen vergiftet. Schließlich musste es eine Ursache für die Seuche geben. Juden schienen gegen die Krankheit gefeit. Immer wieder sehen wir, dass sie sich doch seltener anstecken. Nun, eine Gruppe um einen damaligen Ratsherrn, Hugo Lange, Stifter des goldenen Gemäldes der Kreuzigung unseres Herrn Jesus in der Ratskirche, nahm sich der Sache an und vertrieb die jüdische Gemeinde aus Erfurt. Aus Angst, sich den Erfurtern zu stellen, steckten sie ihre Häuser in Brand, die doch zum Teil gar nicht ihr Eigentum waren. So brannte es im Speicherviertel und beim Collegium Amplonianum. Doch das Ende der jüdischen Gemeinde kam zu spät. Der schwarze Tod fand seine Opfer auch in unserer Stadt. Deshalb gedenken wir ihrer an diesem Tag.«

Der Priester segnete die Prozession, und dann setzte sich der Pulk in Bewegung: die Geistlichen vorneweg, gefolgt von den Ratsherren und Patriziern, unter ihnen und dahinter Professoren der Universität, denen sich die Studenten anschlossen. Dann folgte ohne bestimmte Ordnung, so schien es, das restliche Volk.

Martin lief neben seinen Zimmergenossen. Immer wieder schauten sie interessiert nach hinten. Sie waren neugierig auf die jungen Erfurter und Erfurterinnen. Plötzlich erblickte Alexis die beiden »Mädchen von der Lehmannsbrücke«, wie Martin und er sie in ihren Gesprächen nannten. Die hatten sie schon entdeckt, und die Hübschere bedeutete ihm nun, dass Martin sich umdrehen solle.

»Sieh mal hinter dich!«, stieß Alexis seinen Freund mit dem Ellenbogen in die Seite.

Martin tat, wie ihm geheißen, und winkte überrascht, als er die beiden Schönheiten erblickte.

Der Weg zur Kapelle dauerte über eine Stunde, in der die jungen Männer und die Mädchen immer wieder Blicke und Gesten austauschten. Am Ziel angekommen, fasste sich Martin schließlich ein Herz und ging auf seine neue Bekanntschaft zu.

»Guten Tag, ich bin Martin. Schön, dass wir uns wiedersehen! Darf ich dich nach deinem Namen fragen?«

Das hübsche Mädchen senkte verlegen die Augen, aber es war ihm anzusehen, dass es sich über Martins Aufmerksamkeit freute. »Ich heiße Anna«, sagte sie schließlich und hob erwartungsvoll den Blick.

»Anna. Ein schöner Name!« Martin lächelte ihr aufmunternd zu. »Danke wegen letztens«, sagte er dann. »Magst du mir deine Stadt zeigen? Morgen oder am Wochenende?« Er bemerkte, dass Alexis ihm hektisch Zeichen machte, zu ihm zurückzukehren. »Ich muss mich wieder einreihen.« Er sah Anna entschuldigend an. »Also – werden wir uns sehen?«

»Ja, gerne«, gab sie eilig zurück. »Am Samstag. Elf Uhr am Brunnen vorm Rathaus!« Sie strahlte.

»Bring deine Freundin mit. Alexis kommt auch«, rief er ihr bereits im Weggehen zu.

Seinen Freunden zeigte er unauffällig, aber triumphierend den erhobenen Daumen, als er sich wieder zu ihnen stellte.

Sie beteten gemeinsam vor der Figur des heiligen Markus und gingen dann die erforderlichen fünf Runden. Nach Abschluss der Zeremonie sprach der Priester erneut seinen Segen und auf dem Rückweg spielten Spielleute einen freudigen Marsch.

Die Studenten unterhielten sich über die Pest und was sie davon gehört und gesehen hatten. »Alle zehn Jahre fast sucht sie uns heim. Sechzig, manchmal bis zu neunzig Prozent aller Menschen sterben an ihr. Die, die rechtzeitig fliehen und wissen, wohin, sind klug«, sagte Alexis.

»Klug oder feige? Darf ein Christ sich davonstehlen, anstatt den Kranken zu helfen?«, warf Crotus ein.

»Die Angst sollte uns eher antreiben, für unsere Seelen zu sorgen, als die Flucht zu ergreifen. Die Pest erinnert uns daran, dass die Welt nicht unser bleibendes Zuhause ist«, sagte Ludher weise. Die anderen nickten zustimmend.

Die Vorlesungen der sprachlich und logisch-argumentativ ausgerichteten Fächer bildeten die Grundlage für jede Beschäftigung mit der Wissenschaft und das weiterführende Quadrivium der mathematischen Fächer.

»Die freien Künste sind höherrangig als die praktischen. Schon Seneca schrieb 65 nach Christus in seinem 88. Brief: ›Du siehst, warum die freien Künste so genannt werden: Weil sie eines freien Menschen würdig sind.‹ Frei ist, wer für sein Brot nicht arbeiten muss. Aber denken!«, leitete ihr Dozent Georg Spalatin, der zwei Jahre zuvor seinen Bakkalartitel erhalten hatte, seine erste Vorlesung ein und erhob mahnend seinen Finger.

Ludher war begeistert: »Alle übrigen Universitäten sind gegenüber unserer Erfurter kleine Schützenschulen«, flüsterte er seinem Sitznachbarn Crotus zu und fühlte sich privilegiert. Adelige, namhafte Professoren bildeten den Lehrkörper, der zukunftweisend die Organisation der Welt analysierte. Antike Autoren wurden gelesen, um die Universität mit den Strahlen der politischen Kunst zu erleuchten.

Trutvetter vertrat die Grundauffassung des Nominalismus: »Es gibt keine allgemeine Entität. Es sind nur zwei Kategorien anzunehmen, nämlich Substanz und Qualität. Es entspricht also eher der Philosophie, nach dem principium universalisationis zu fragen als nach dem principium individuationis. Zuerst muss man die Sprachanalyse und die Sprachkritik üben, um dann kritisch die metaphysischen und philosophischen Sachthemen zu behandeln. Dieser Vorgang kann nur mithilfe der Dialektik bewältigt werden. Der Weg zu einer kritischen Wissenschaft führt nur über eine präzise Sprachanalyse, die jedoch nicht etwa die Metaphysik und die Theologie ersetzen kann.«

Martin nickte zustimmend und schaute begeistert zu Alexis, der verzweifelt den Kopf schüttelte: »Ich verstehe kein Wort!«

»Ich erkläre es dir gleich«, raunte Martin und erläuterte seinem Kommilitonen nach der Vorlesung auf dem Flur die Universalienfrage: »Universalien sind Allgemeinbegriffe wie ›Mensch‹ oder ›Menschheit‹, auch mathematische Entitäten wie ›Zahl‹ oder ›Relation‹. Ein Allgemeinbegriff bezieht sich also auf Merkmale, die mehrere Gegenstände gemeinsam haben. Die Frage ist nun, ob diese Begriffe real existieren – wie in der Theorie des Realismus – oder ob es sich um rein künstliche Begriffsbildungen handelt – wie im Nominalismus.«

»Ah, die Ideenlehre Platons: die These, dass Ideen eine eigene Existenz haben.«

»Genau. Doch der Nominalismus sagt, dass es sich leidlich um gedankliche Abstraktionen handelt und die Realität nur den Einzeldingen zukommt. Den Nominalismus bezeichnet man als Via Moderna, den Realismus als Via Antiqua. Verstehst du?«

»Und wozu braucht man das?«

»Es geht um Macht und Legitimierung. Nimm beispielsweise die Einheit der Dreifaltigkeit. Ist sie real oder handelt es sich um eine Umschreibung? Du musst Thomas von Aquin lesen. Er steht für den Realismus. Wilhelm von Ockham für den Nominalismus. Ich habe mir die Bücher geliehen. Du kannst sie gerne lesen.«

Alexis konnte in dieser Nacht schlecht schlafen und zerbrach sich darüber den Kopf, ob in Wirklichkeit nur Einzelseiendes oder auch Allgemeines eine eigene Existenz hatte. Er wusste von seinem Vater, dass es ihm als Schmied nichts ausmachte, Gitter für eine Kirche zu schmieden, deren Fertigstellung er nicht erleben würde. Er sah sich als Teil der Entität der Menschheit an, die die Kirche über Generationen nutzen würde. War Menschheit nun real oder nominal? Er verstand es immer noch nicht.

Am nächsten Tag lehrte sie Nikolaus Marschalk: »Das studium trilingue gibt Euch sprachwissenenschaftliche Impulse von fürs Leben grundlegender Bedeutung. Wir werden in diesem Jahr darüber diskutieren, ob Glaube und Wissen vereinbar sind. Ob sich im Zweifel das Wissen dem Glauben unterordnen muss. Ich bin gespannt auf Eure Gedanken!«

Obwohl das Studium schon in vollem Gange war, erfolgten mit der Vereidigung des Rektors am 1. Mai und der der neuen Studenten am 2. Mai noch die formvollen Zeremonien.

Diese fanden wie immer in der Michaeliskirche statt. Am 1. Mai musste der neue Rektor vor dem Altar seinen Eid ablegen, damit er am nächsten Tag schon den seiner neuen Studenten abnehmen konnte. Martin freute sich immer wieder, dass der Zufall ihm seinen Lateinlehrer als Rektor in Erfurt beschert hatte, und er verfolgte die Zeremonie mit großer Aufmerksamkeit.

Jodokus Trutvetter sprach mit sicherer Stimme feierlich: »Ich schwöre bei Gott und den Evangelien, die Rechte und Freiheit der Universität zu wahren, ihren Nutzen und ihre Ehre zu fördern, für die Eintracht der Fakultäten und aller Angehörigen zu arbeiten sowie die das Rektorenamt betreffenden Statuten nach Kräften zu wahren. Auch verspreche ich, die Statuten und Bestimmungen über das schickliche Auftreten, die Bescheidenheit und Gemäßheit der Kleidung und die sittliche Zucht der Angehörigen, über das für die Universitätsangehörigen geltende Verbot, sich Leistungen in Ware bezahlen zu lassen, insbesondere in Naumburger Bier und anderen Getränken und Speisen, über die mengen- und wertmäßige Wahrung des Buchbestandes der Universität in der Bibliothek des Universitätshauses, der Bücher des Kollegs zur Himmelspforte und der Bibliothek des Collegium Marianum auszuführen. Ich versichere weiterhin, nicht mehr als acht Gäste zur Feier meiner Wahl einzuladen, andernfalls bei der nächsten Sitzung des geheimen Consiliums an dieses einen viertel Rheinischen Gulden zu entrichten.«

 

Hier dachte sich Martin: welch sonderbarer Zusatz. So lädt er wohl doch mehr als acht Personen ein. Er musste schmunzeln. Die strengsten Regeln schienen aufweichbar zu sein.

Nach dem Eid folgte die offizielle Zepterübergabe des alten Rektors an seinen Nachfolger. Jede Fakultät verfügte über Insignien und Kleinodien als Zeichen ihrer Eigenständigkeit, Hoheit und Würde. Das Ornat des Rektors war aus kostbarem Stoff. Ein Magister übergab ihm seine Petschaft, eine Art Siegel, das die Rektoren und Dekane führten. Solch ein eigenes Zeichen, gleichsam wie ein Wappen, wollte Martin auch einmal besitzen. Als Jurist vielleicht mit der Justitia, dem Symbol der Gerechtigkeit, wenigstens aber mit einer Waage darauf. Er träumte vor sich hin und verpasste fast, sich zum Gebet zu erheben, hätte Alexis ihm nicht derbe seinen Ellenbogen in die Seite gestoßen.

Am nächsten Tag, am 2. Mai, erfolgte die feierliche Einschreibung in der Michaeliskirche. Um zehn Uhr in Verbindung mit dem Gottesdienst wurden die angehenden Studenten einer nach dem anderen einzeln nach vorne zum Altar aufgerufen, wo sie vor dem Rektor stehend ihre Eidesformel sprechen mussten. Als Martin Jodokus Trutvetter gegenüberstand, lächelte er ihn väterlich an und nahm ihm damit die letzte Unsicherheit. Nach dem Eid trat er zum Schreiber, der ihn als »Martinus Ludher ex Mansfeld« mit geschwungenen Lettern in die Universitätsmatrikel, ein dickes, schweres ledergebundenes Buch, eintrug.

Das Lernen bereitete Martin Freude. Er versäumte nie eine Vorlesung, befragte gerne seine Lehrer und besprach sich in Ehrerbietung mit ihnen. Alexis fiel das Studium schwerer.

»Komm, fleißig gebetet ist über die Hälfte studiert! Das eine kannst du bereits, das andere erkläre ich dir noch mal. Danach machen wir Übungen, die unseren Körper gesund halten. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist!« Martin wusste immer einen klugen Spruch. Er hatte kürzlich den kleinen Weg zwischen der Burse und dem Frauenkloster entlang des Flusses für sich entdeckt und ermunterte seine Zimmergenossen, vor der Schließzeit der Burse bis zu den Inseln zu rennen und dort Liegestütze, Kniebeugen und Klimmzüge an einigen großen starken Ästen zu machen. Am Ende des Weges verzweigte sich die Gera und bildete kleine Inseln. Der Breitstrom ging hier in die Wilde Gera über, und die Schmale Gera trennte sich von ihr ab. Sieben Wassermühlen gab es hier. Martin hatte den Platz gleich zu seinem Lieblingsort auserkoren.

Kapitel 4

1501

Endlich war es Sonnabend. Martin hatte jeden Abend an Anna und ihr Kennenlernen gedacht, an ihr Lächeln und die langen braunen Haare. Schwungvoll verließ er sein Bett und weckte Alexis.

»Los, raus aus den Federn! Wir sind verabredet!«

Alexis grummelte etwas vor sich hin, streckte sich und stand auf.

»Heute wird es knapp mit dem Gottesdienst. Es ist unser freier Tag. Lass uns schnell hier beten«, schlug Martin vor.

Er und Alexis knieten sich vor ihre Betten, beide mit zerzaustem Haar und schalem Geschmack im Mund. Martin kannte so viele Gebete aus der Zeit bei den Cottas, dass er nicht zögerte, laut die Worte vorzugeben: »Du Engel Gottes, den die göttliche Güte und Weisheit mir zum Beschützer gegeben hat, leite mich und führe mich unverletzt durch alle Gefahren dieses Tages. Belehre mich in Unwissenheit, warne mich in Versuchungen, tröste mich in Trübsalen, muntere mich auf zum Guten und bewahre mich vor allem Übel des Leibes und der Seele, bis du mich einführst in die ewige Glückseligkeit. Amen.«

»Amen«, pflichtete ihm Alexis laut bei.

»Ruhe!«, beschwerte sich Hieronymus und drehte sich in seinem Bett zur Wand um.

Unbeeindruckt davon machten Martin und Alexis sich daran, ihre Gesichter zu waschen, ihre Haare zu kämmen und sich anzukleiden.

Beim Zehn-Uhr-Glockenschlag bogen sie um die Rathausecke und sahen den Fischmarkt vor sich. In etwa der Mitte befand sich der Trinkwasserbrunnen, an dem, wie immer, einige Frauen mit Eimern anstanden. Gleich hinter dem Brunnen entdeckten sie die beiden Mädchen, mit denen sie hier verabredet waren.

Als sie näher kamen, deutete Anna in Richtung der Schuhgasse, hakte ihre Freundin unter und bog in die Straße ein. Martin und Alexis folgten mit Abstand. Am Ende der Gasse war es nicht so belebt wie auf dem Platz vor dem Rathaus.

»Grüßt Euch! Wozu dieses Versteckspiel?«, fragte Martin, als sie die Mädchen eingeholt hatten.

»Hallo, ihr beiden! Ein paar Frauen dort beim Brunnen kennen mich. Muss ja nicht sein, dass sie die Nachricht über unser Zusammentreffen gleich meiner Mutter weitertragen …«

Martin nickte verständig.

»Das ist übrigens meine Freundin Lotte. Ihr kennt euch ja schon!«, fuhr sie an Alexis gerichtet fort und lächelte vielsagend.

»Gewissermaßen«, gab der junge Mann etwas unsicher zurück.

»Was wollen wir nun machen?«, übernahm Martin wieder das Wort.

»Kennt ihr schon den Waidmarkt auf dem Anger? Wir können uns dort ein wenig umschauen und dann durch das Stadttor in Richtung Steigerwald laufen«, schlug Lotte vor. Sie schien weniger schüchtern zu sein als Alexis.

Alle waren mit ihrem Vorschlag einverstanden. In der Grafengasse, die sie unterwegs passierten, zeigte Anna auf ein kleines schmales Haus. »Hier wohne ich.« Sie lief neben Martin her den anderen beiden voraus.

Martin war erstaunt. »Zu wievielt seid ihr?« Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit einer ganzen Familie in so einem kleinen Haus zu leben.

»Zu zweit – nur ich und meine Mutter. Ich habe keinen Vater und keine Geschwister.«

»Jeder hat einen Vater.«

»Jeder, außer ich. Jedenfalls kenne ich ihn nicht.«

Martin merkte, dass es Anna unangenehm war, darüber zu sprechen, und daher begann er, von sich selbst zu erzählen. Wann immer er dabei ein wenig derber sprach oder etwas Lustiges sagte, musste Anna lachen, wobei ein kleines Grübchen auf ihrer linken Wange zum Vorschein kam. Sie war niedlich, musste Martin feststellen. Und auch Alexis schien sich gut zu unterhalten. Immer wieder hörte man Lotte kichern.

Beim Waidbrunnen stießen sie auf den Anger, der mit Ständen von Waidjunkern und Färbern gesäumt war. Hier wurde die Waidasche, das Farbpulver zur Blaufärbung, verkauft. Ein Gramm davon war so viel wert wie die gleiche Menge an Gold.

»Was macht eigentlich deine Mutter? Handelt sie vielleicht mit Waid?«, machte Martin eine Anspielung darauf, mit ihr möglicherweise eine gute Bekanntschaft gemacht zu haben.

»Nein, leider nicht. Sie arbeitet zwar für einen Waidhändler – aber als Magd. Heinrich Kellner heißt er und ist nicht nur Waidhändler, sondern auch Ratsherr. Trotzdem knausert er mit der Bezahlung. Er ist ein richtiger Geizhals!« Annas Gesicht verfinsterte sich.

»Sein Anwesen befindet sich links von der Vitikirche, die als Brückenkopfkirche am südlichen Ende der langen Brücke steht. Es heißt ›Haus zum Halben Mond‹.«

Sie liefen weiter, aus dem Stadttor hinaus, und setzten sich zusammen auf eine Wiese. Dort unterhielten sie sich zu viert über Erfurt, die Universität und über Mansfeld. Anna gefiel Martin, und auch sie schien ihn zu mögen. Wenn ihre Blicke sich trafen, schauten sie sich jedenfalls einen Moment länger an, als es sich ziemte. Anna war eine gute Zuhörerin, hatte ein freundliches offenes Wesen und lachte gerne.

Sie erschraken, als die fast vierzig Kirchen der Stadt die Mittagszeit einläuteten. Die Stunden waren schnell vergangen. Bis zum Anger zurück gingen sie wieder jeweils zu zweit hintereinander.

»Sehen wir uns morgen noch mal, vielleicht am Abend?«, fragte Martin Anna. Er wollte sie wiedertreffen, alleine. Die Woche sollte fürs Studieren und Lernen vorbehalten sein, aber morgen, am Sonntag, wäre es noch einmal günstig. Anna war einverstanden.

Martin und Alexis liefen den Anger bis zur Kaufmannskirche und dann auf Anraten der Mädchen weiter die Johannesstraße hinunter, bis diese in die Augustinerstraße mündete, die sie bis zur Burse führte.

Alexis war genauso gut gelaunt wie Martin. »Sie will mich wiedersehen!«, jubelte er leise. »Oh Gott, ich hatte noch nie ein Mädchen. Und du, Martin?«

»Nein. Natürlich gab es welche, mit denen ich Blicke gewechselt habe, aber in Eisenach bei meinen vornehmen Gasteltern wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, eine von ihnen näher kennenzulernen.«

Beide mussten sie lachen.

»Besuchen wir morgen mal den Domgottesdienst?«, fragte Alexis.

»Ich schlage die Georgskirche vor. So sehen wir, mit wem wir die Nachbarschaft teilen«, entgegnete Martin, ehe sie die Burse betraten.

Sogleich vernahmen sie aus dem Speiseraum fröhliches Lautenspiel und gesellten sich zu den anderen Studenten, die sich dort zum Zeitvertreib versammelt hatten. Ihre Zimmergesellen Hieronymus und Crotus waren ebenfalls anwesend. Hieronymus war ein begnadeter Lautenspieler und wurde gerade von Crotus auf der Leier begleitet. Johannes Lang schlug die Trommel und der Bursenmeister spielte den Dudelsack. Sie klatschten, sangen, tanzten, stießen ihre Krüge zusammen und tauschten allerlei lustige Geschichten aus. Martin gefiel diese Ablenkung. Die gute Stimmung passte zu seinem inneren Aufruhr und verhinderte, dass er sich zu viele Gedanken über Zukunft und Schicklichkeit machte.

Kapitel 5

1501

Am Sonntag besuchten sie wie besprochen die Georgskirche. Sie war voll mit den Bewohnern der angrenzenden Häuser. Jung und alt, gesund und invalide, schön und hässlich, reich und arm. Lauter Gegensätze. Ohne das eine gäbe es das andere nicht, dachte sich Martin. Viele drehten sich neugierig nach ihnen um, machten sie aber schnell als zugezogene Studenten aus, was aufgrund der Nähe zur Universität keine Überraschung war.

Während der lateinischen Predigt des Priesters betrachtete so mancher andächtig die Kirchenbilder, und einige wenige hörten zu, als verstünden sie etwas. Die Mehrheit aber flüsterte leise mit dem Nachbarn, maßregelte die Kinder, begutachtete die eigenen Fingernägel oder staubte sich die Schuhe und die Kleidung ab.

»Wozu sind die alle hier? Keiner versteht, was gesprochen wird.«

Martin hatte sich zu Alexis geneigt, der zurückflüsterte: »Das Gebet. Das Vaterunser. Deshalb kommen sie. Und wegen der Beichte.«

Martin nickte. Und tatsächlich: Beim Vaterunser erhob sich ein gewaltiger Stimmenchor, der die Menschenmenge zu einer Einheit verschmelzen ließ.

Am Abend traf Martin Anna. Sie hatten sich am Fuße des Petersberges verabredet. Martin staunte, denn Anna hatte sich sehr offensichtlich für ihn herausgeputzt. Sie trug ein tannengrünes Kleid, die Lieblingsfarbe seines ehemaligen Hausherrn in Eisenach, das ihre grün-braunen Augen betonte. Ihr Haar trug sie offen, hatte aber die vorderen Strähnen hinten am Kopf zusammengebunden und mit Gänseblümchen verziert. Das weiße Hemd unter ihrem Kleid war am Dekolleté nicht ganz zugebunden, sodass der Spalt zwischen ihren runden Brüsten gut zu sehen war. Martin versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich von ihrem Aussehen angezogen fühlte und verlegen war.

»Schönes Kleid«, sagte er nur. Und: »Setzen wir uns auf die Wiese?«, wobei er nach oben auf eine freie Fläche zwischen den Weinreben deutete.

Er schlug vor, vorher noch etwas zum Trinken zu holen. Sie gingen hinunter in die Severisiedlung, wo ein Brauer Bier verkaufte.

»Einen Krug? Mitnehmen? Den bekomme ich zurück, sonst schicke ich meinen Knecht an der Universität vorbei. Ihr seid doch Student, oder? Eurem Erscheinungsbild nach zu urteilen … unseren Mädchen die Augen verdrehen und dann nach dem Abschluss wieder in die Heimat gehen.« Der Brauer schien nicht gut auf die jungen Angehörigen der Hochschule zu sprechen zu sein. »Macht einen Taler Pfand.«

 

Martin bezahlte, ohne die Worte des Brauers weiter zu kommentieren, und stieg gemeinsam mit Anna den schmalen Weg zum Weinberg hinauf. Bevor sie sich auf die Wiese setzten, zog Martin seine Weste aus und legte sie seiner Begleitung als Unterlage auf das Gras.

»Vielen Dank!«, sagte Anna mit einem scheuen Lächeln.

Sie teilten sich das Bier. Er hatte die stärkere Schlunze gekauft, die sie beide schon nach wenigen Schlucken merkten. Wieder hatten sie sich viel zu erzählen. Martin erfuhr, dass Annas Mutter von einem Pfaffen geschwängert worden war, der sich nie wieder hatte blicken lassen, nachdem ihre Mutter ihm von der Schwangerschaft berichtet hatte. Deshalb war sie ohne Vater aufgewachsen. Martin verstand und fragte nicht weiter nach. Seines Wissens hatten Geistliche für ihre Bälger zu zahlen.

Als der Krug leer getrunken war, nahm Anna seine Hand. »Soll ich dir aus der Hand lesen?«

Martin erschrak und erinnerte sich, was seine strengen, gottesfürchtigen Eltern ihm über Frauen erzählt hatten, die die Zukunft in einer Glaskugel sehen konnten, Handlinien auslasen und sich in anderen Vorherschauen betätigten: Hexen. Verbündete des Teufels. »Kannst du das denn?«, spielte er den Furchtlosen.

»Natürlich nicht. Aber ich weiß, wo die Herz- und die Lebenslinie ist. Sind sie ohne viel Brüche und lang, steht der Liebe und der Gesundheit nichts im Weg.« Sie kicherte, und er legte beruhigt seine Hand in die ihre. Dort blieb sie, während sie streichelnd seine Handfurchen entlangfuhr. Im Anschluss durfte Martin die ihren begutachten.

Es schlug zweimal, dann achtmal. Nur noch eine halbe Stunde bis zum Zapfenstreich. Sie hüpften, sich immer noch an den Händen haltend, den Berg hinunter, lachten über ihre Stolperer und kamen schließlich ganz außer Atem unten an. Anna fiel vor gespielter Erschöpfung in Martins Arme. Er hielt sie fest und nahm dabei den Geruch ihres dichten Haares und ihrer Haut wahr.

»Lass uns schon hier voneinander trennen, damit wir nicht irgendwelchen Bekannten in die Arme laufen«, schlug Anna vor.

Sie sahen sich in die Augen und gaben sich einen trockenen, doch sehr weichen Abschiedskuss auf den Mund. Ihre Herzen pochten, und sie lachten danach vor Erleichterung. Der erste Schritt war getan, ein Wiedersehen besiegelt.

»Spätestens Samstag wieder um zehn am Brunnen, ja?«, sagte Martin.

Anna nickte und winkte, bevor sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung des Domes durch die kleinen Gassen des Severiviertels verschwand.

Martin fand, dass er genug Zeit hatte, ihr heimlich noch ein wenig zu folgen. Zu seiner Verwunderung sah er, wie sie an der untersten Domstufe einer älteren Frau begegnete, die auffällig grelle Kleidung trug. Anna ging ein Stück des Weges an ihrer Seite, dann verabschiedeten sie sich voneinander, wobei die Frau Anna über den Kopf streichelte. Anschließend lief Anna links in Richtung langer Brücke, während die fremde Frau in die Mariengasse einbog. – War da nicht besagtes Frauenhaus, das Johannes Lang erwähnt hatte? Was hatte Anna mit solch einem Weib zu tun? Diese Frage beschäftigte Martin auf dem Weg zurück zur Burse, aber er fand keine Antwort darauf.

Am Montag ging Martin in die Bibliothek der Universität. Vor Ort durfte man sich jedes Buch geben lassen, das man wollte, und es an einem Pult oder Tisch lesen. Er erbat sich die lateinische Bibel, woraufhin ihn der Bibliothekar an einen Tisch verwies, wo ein großes Exemplar davon an einer Kette befestigt zum Studium bereitlag.

»Das ist unsere Vulgata. Die lateinische Ausgabe. Ich kann Euch auch die hebräische oder griechische Fassung geben.«

Martin schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nicht die Sprache üben, sondern den Inhalt erfassen«, scherzte er und beugte sich über das große Buch. Als er die Bibel aufgeblättert hatte und sich darin vertiefte, merkte er mit großer Verwunderung, dass dort viel mehr Text, Episteln und Evangelien zu finden waren, als man in gemeinen Postillen und in der Kirche auf den Kanzeln auszulegen pflegte. Im Alten Testament blieb er an der Geschichte von Samuelis und seiner Mutter Anna hängen, der Gott erschienen war und die, obwohl ihr Leib verschlossen schien, nach langer Kinderlosigkeit endlich doch Nachwuchs geschenkt bekam. Diese Erzählung und vieles andere waren ihm neu, und er spürte den starken Herzenswunsch, solch ein Buch als Eigentum zu besitzen.

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