Die Pfaffenhure

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Die Neuen klatschten und Marschalk deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an.

Er lieferte die neuen Studenten wieder am Hauptgebäude ab, wo sie von Jodokus Trutvetter in ihren freien Abend entlassen wurden.

»Um acht Uhr müsst Ihr eure Kammern beziehen, Ende der Woche übersiedelt jeder in seine Burse. In ein paar Tagen werdet Ihr Euch offiziell in die Matrikel eintragen und Euren Eid leisten. Viele werden heute noch von ihren mitgereisten Eltern erwartet, deshalb wünsche ich allen noch einen schönen Ausklang.«

Die Gruppe löste sich auf, und Trutvetter begrüßte seinen ehemaligen Schüler noch einmal persönlich, als zeitgleich Martins Vater die Michaelisstraße hinaufkam, um sich mit seinem Sohn zu treffen.

»Eine gute Wahl, Martin. Ich gratuliere Euch, Herr Ludher. Martin war ein fleißiger Schüler. Wenn er so weitermacht, wird aus ihm ein guter Student.«

Hans deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an und bedankte sich für diese positive Einschätzung.

Als der neue Rektor zurück in die Universität ging, die zugleich die philosophische Fakultät war, spazierten Sohn und Vater zum Rathaus und zurück über die Stadtmünze durch die Durchfahrt des Warenhauses am Benediktsplatz, über den Steg entlang der Krämerbrücke in die Futterstraße, wo beide noch ein Bier tranken.

»Dein Pferd bleibt hier stehen. Meins kann den Wagen alleine ziehen, nachdem es nur noch mich und weniger Gepäck fahren muss. Otto Ziegler hat mir einen guten Preis gemacht für Futter und Stalldienst. Du musst den Rappen nur regelmäßig bewegen kommen. Die Weiden liegen vor den Stadttoren, dort wird es den Sommer über stehen. Na ja, mit Pferden kennst du dich ja aus. Morgen gehen wir noch mal über den Markt, ja?«

»Ja, Vater. Danke für alles. Wir sehen uns morgen!«

Martin winkte Hans nach und musste sich anschließend erst einmal auf eine Holzbank auf dem Wenigemarkt setzen, auf dem die Händler längst schon ihre Fleisch- und Brotbänke verschlossen hatten. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die sich allmählich zu senken begann, und er fröstelte. Erschöpfung machte sich nach all der Aufregung und den vielen Eindrücken breit.

Erfurt ist eine Schmalzgrube, dachte er. Wenn sie wegbrennen würde, müsste an selber Stelle sofort wieder eine Stadt entstehen.

Dies war nun sein neues Zuhause. Gegenüber des Platzes lag die Kürschnergasse. Hier roch es beißend nach Gerblösung. Die Ledermacher und Schuster hatten hinter ihren Häusern Stege über dem Fluss, von denen aus sie ihre Felle wuschen, bevor sie sie weiterverarbeiteten. Viele Menschen liefen an Martin vorbei, trugen Kiepen oder Körbe, zogen Handwagen oder Lasttiere hinter sich her oder ritten mit bepackten Satteltaschen vorüber. Fensterläden, auf denen Waren ausgelegt waren, wurden abgeräumt und geschlossen, in Werkstätten verklangen die Geräusche von Hämmern, Sägen und Hobeln. Es roch nach Waid oder Urin, nach Kot und nach Vieh. In den schmalen Wasserklingen, die die Straßen durchzogen, plätscherte leise das Wasser und trug den verschiedensten Unrat mit sich. Ein paar Schweine schnarchten dicht an einer Hauswand, Ziegen wurden in den Stall getrieben, und ein Hund schreckte ein paar Hühner auf, die sich flatternd auf eine Zaunlatte retteten.

Martin lächelte. Er war in Erfurt! Der Taxator hatte ihn als wohlhabend eingestuft und er war Scholar an einer der berühmtesten Universitäten des Kontinents. Vorbei die Zeit, da er sich klein und als Außenseiter fühlen musste. Er hatte ein Pferd, sein Studium war bezahlt, und sein Vater gab ihm ausreichend Geld für alle Tage. Er klopfte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, um sich zum Aufstehen zu ermuntern, und freute sich darauf, erste Kontakte zu knüpfen.

Er lief zurück zur Universität und in seine Kammer. Alexis war schon dort und hatte begonnen, ein paar Dinge auszupacken und auf seiner Seite des Raumes zu arrangieren. So hatte er sein Schreibzeug genau auf eine Hälfte des Tisches gelegt. Auf seinen Stuhl hatte er Kleidungsstücke gestapelt und an den Haken an seinem Bett hatte er sein leinenes Nachthemd gehängt.

»Alexis, schon zurück? Bist du alleine nach Erfurt gefahren? Ich habe noch meinen Vater zum Gasthaus begleitet. Du kommst auch aus Mansfeld?«

»Ja, ich bin alleine hier. Mein Vater hat in seiner Werkstatt zu tun. Die Tage werden länger, die Leute bestellen mehr. Er ist Schmied. Macht alles, was mit Eisen zu tun hat. Auch Hufe beschlagen. Alle zehn Wochen bekommt jedes Pferd in Mansfeld neue Hufeisen … Klar, es gibt noch andere und wir sind noch nicht lange in der Stadt. Er muss sich seine Kundschaft sichern.«

»Ach, deshalb kennen wir uns nicht. Na ja, ich war die letzten Jahre auch in Eisenach. Wo bist du zur Schule gegangen?«

»In Leipzig. Aber nun, da wir beide in Mansfeld wohnen, können wir unsere Reisen zusammen antreten. Hast du auch ein Pferd hier?«

»Ja, steht bei Ziegler in der Futterstraße.«

»Meins auch, aber im Haus zum Schwarzen Bären.« Sie machten es sich jeder auf seinem Bett bequem, streckten ihre Beine aus und unterhielten sich über Mansfeld, über die Leute dort und gemeinsame Bekannte und schöne Plätze. Sie sprachen über Erfurt, ihre ersten Eindrücke von der Stadt und über Gott und die Welt. Zwischenzeitlich war es dunkel geworden und Martin hatte die Kerze auf dem Tisch angezündet. Beide teilten sie sich den Proviant ihrer Mütter und ließen es sich schmecken. Alexis war in Ordnung. Ein aufrichtiger, offener, netter und humorvoller Kerl, wie Martin fand. Sein erster Freund in Erfurt: ein Mansfelder! Martin musste bei dem Gedanken schmunzeln, kurz bevor ihm die Augen zufielen, als sie weit nach Mitternacht endlich ihre Nachthemden angezogen, die Kerze gelöscht und sich schlafen gelegt hatten.

Am nächsten Morgen wuschen sie sich in einem Waschraum mit mehreren Waschschüsseln, die bereits mit noch lauwarmem Wasser aufgefüllt waren. Alle Neuankömmlinge wünschten sich einen guten Morgen und unterhielten sich durcheinander darüber, was sie am heutigen Tag erwartete, in welche Burse sie endgültig einziehen mussten und was sie am Vortag schon entdeckt oder in Erfahrung gebracht hatten. Martin traf ein letztes Mal seinen Vater vor dessen Rückreise. Hans wollte sich auf den Märkten umsehen und noch das eine oder andere aufladen. Er fand eine schöne Tischdecke mit Blaudruck, einen kleinen türkischen Teppich für den Eingang und getrocknete Früchte aus dem Orient.

»Grüß Mutter und die Geschwister von mir«, sagte Martin, als die Zeit des Abschieds gekommen war.

»Soll ich deiner zukünftigen Frau auch einen Gruß ausrichten?«, fragte Hans seinen Sohn mit vielsagendem Blick.

»Vater, lasst dieses leidige Thema. Ich heirate nicht des Geldes und der Beziehungen wegen.« Martin wunderte sich selber über seinen kühnen Ton, aber anders würde sein Vater es nie verstehen.

Hans schüttelte ärgerlich den Kopf: »Du wirst schon noch zur Vernunft kommen. Mit der Zeit kommt die Liebe, wenn das Leben sorglos ist!«

Martin verdrehte die Augen, lächelte versöhnlich und winkte seinem Vater hinterher, bis der Wagen um eine Ecke verschwunden war.

In den folgenden Tagen reisten noch ein paar Nachzügler an. Auch aus anderen Ländern. Latein war dann ihre einzige Verständigungsmöglichkeit. Wer da war, machte sich mit allem vertraut und wurde eingeteilt, im Brauhaus, in der Küche und in den Gastzimmern zu helfen. Martin ging täglich zu seinem Pferd. Er putzte es, kratzte ihm die Hufe aus und lief mit ihm spazieren. Sonnabend, nach dem Gottesdienst, sattelte er seinen Wallach und ritt mit ihm aus den Mauern der Stadt hinaus in die Natur.

Am Tag des heiligen Georgs, dem 23. April, begann das Semester. Während die Vorlesungen der höheren Semester bereits im alten Halbjahr auf die Dozenten verteilt worden waren, mussten sich die Neuen jetzt in Listen eintragen. Für die meisten Vorlesungen waren Vorlesungsgelder zu entrichten. Martin hatte deshalb aber nicht vor, sich zurückzuhalten, denn sein Vater hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er das Studium nicht in die Länge ziehen sollte. Als er nun im Foyer der artistischen Fakultät stand, kam Johannes Lang auf ihn zu, den Martin bereits von dem kleinen Rundgang durchs Gebäude kannte.

»Und? Schon das Richtige gefunden? Lang, Johannes Lang, ist mein Name. Ich habe im letzten Jahr angefangen. Wenn ich dir helfen kann?«

»Oh ja, danke. Ludher, Martin Ludher. Einige Vorlesungen sind schon voll. Ich bin wohl etwas spät dran.«

»Die Hälfte aller Studenten sind an der artistischen Fakultät. Da erst nach dem Magister dort eins der drei Hauptstudiengänge begonnen werden kann, studieren etwa ein Drittel Theologie, ein Sechstel Jura und nur wenige Medizin. Wofür interessierst du dich?«

»Jura.«

»Wenn du es eilig hast, rate ich dir, dich überall auf die Liste zu setzen. Dann hast du die Möglichkeit nachzurücken. Nett, dich kennengelernt zu haben!«

»Bist du aus Erfurt?«

»Ja.«

»Hättest du Zeit und Lust, mir und meinem Freund Alexis gegen eine Kanne Bier die Stadt zu zeigen?«

»Kein Problem. Um sechs Uhr heute Abend vor der Kirche kann es losgehen!«

Martin und Alexis waren pünktlich da.

»Ich schlage vor, ich zeige euch zuerst die Georgenburse, die ihr beziehen werdet.« Sie bogen ganz in der Nähe der Universität in die zweite Straße rechts ein.

»Hier, zwischen Augustinerkirche und Lehmannsbrücke, wohnt Nikolaus Marschalk im Haus zur Rossbrücke. Es gehört zu jenen Häusern, die unter die Verwaltung des deutschen Ritterordens fallen. Bei Marschalk wohnt auch Georg Spalatin, ebenfalls ein Kommilitone. Aber gehen wir dort der Gera entlang durch die Schildchengasse zur Krämerbrücke. Sie ist die Marktbrücke der reichen Händler: Edle Stoffe, Steine und Gewürze gibt es hier. Wenn ihr auf die Brücke wollt, müsst ihr eine Brückengebühr entrichten. Ich rate euch also, den Steg auf der anderen Seite zwischen Rathaus und Wenigemarkt zu benutzen.«

 

»Das habe ich schon. Mein Pferd steht in der Futterstraße.«

»Oh«, war Lang erstaunt, »das ist der teuerste Ort, um sein Pferd unterzustellen. Ich empfehle euch einen Stall im Andreasviertel!« Dann fuhr er mit seiner Stadtführung fort. »Hier, neben unserem Hospital, ist ein Badehaus.« Er zwinkerte mit einem Auge und ergänzte: »Wenn ihr Erfahrungen sammeln wollt … Da seht ihr Leute, mit denen ihr nicht gerechnet hättet. Aber da sich niemand dort offiziell aufhält, herrscht eine einvernehmliche Schweigepflicht!«

Martin und Alexis grinsten peinlich berührt.

»Hier, im Gotthardtviertel, wohnen viele arme Leute – wie ihr an den kleinen Holzhäuschen seht. Gehen wir durch die Kürschnergasse zur Schlösserbrücke. Eine weitere Marktbrücke an der Tabaksmühle.« Hier rauschte laut die Gera, das Mühlrad schlug geräuschvoll ins Wasser ein. Von der Brücke konnte man die Stege sehen, von denen aus die Kürschner ihre Felle im Fluss wuschen.

»Hinter der Mühle, das ist das Franziskanerkloster. Gehen wir vorbei.«

Sie sahen zwei in ihren Sandalen barfüßige Mönche, die vor dem Kloster fegten. Dann führte sie Johannes zum Dominikanerkloster und erklärte: »Dies ist das Predigerkloster. Habt ihr schon mal von Meister Eckhardt gehört? Seine Lehre ist verboten. Aber natürlich gibt es sie noch als anonyme Ausgabe im Antiquariat. Ich habe sie mir gekauft. Johannes Tauler bezieht sie auch in seine Lehre ein. Ich sage nur so viel …«, er holte die beiden nahe zu sich und flüsterte fast, »Gott ist im Grund der menschlichen Seele dauerhaft anwesend – wenn auch gewöhnlich auf verborgene Weise – und kann dort erreicht werden. Gott ist in uns, nicht im Außen. Er ist ein Teil von uns, wir sind ein Teil von ihm.« Er wandte sich zum Weitergehen. »Ihr müsst meditieren, wenn ihr eine Gotteserfahrung sucht. Zur Meditation wird schon lange von den Benediktinern geraten, und Nikolas von Kues hat vor genau fünfzig Jahren höchstselbst direkt dazu aufgefordert. Hier in Erfurt. Auf dem Petersberg. Darüber wird dieses Jahr, zum Jubiläum sozusagen, sicher noch gesprochen.«

Für Martin waren dies unglaubliche Dinge, die er da hörte. Gott in seinem Inneren. Wie kühn! Seine Mutter hätte sich bekreuzigt, und von seinem Vater hätte er eine Backpfeife erhalten, wenn so etwas aus seinem Mund gekommen wäre.

Sie liefen an großen Waidspeichern vorbei, hörten den Bierrufer die Brauhäuser, die Ausschank hatten, ausrufen: »Ein wohlfeil Bier gibt’s im Bären zu saufen und ist für ein paar Heller zu kaufen«, und erreichten den Platz vor den Graden. Sie sahen das Trillhäuschen, das auch leer unheimlich war. Martin hatte schon einmal eines mit einer Frau darinnen gesehen, die von den Leuten bespuckt und mit Unrat beworfen wurde. Einige Jungs hatten eine Freude daran gehabt, den Käfig anzuschubsen und wie ein Karussell schneller und schneller in Drehung zu versetzen. Die Frau war kreidebleich gewesen, ihr weißes Hemd gelb getränkt von den Gallensäften, die ihr dabei hochgekommen waren. Dieses hier drehte sich leise quietschend nur ein wenig mal nach links und mal nach rechts. Sie schauten sich den Hebearm mit dem Korb über dem Flusslauf für die Wasserprobe von Hexen an. Auch er bewegte sich leicht knarrend mit jeder Brise auf und ab oder zur Seite. Ganz nah befand sich das Gerichtshaus mit der Justicia als steinerne Figur vor dem Eingang.

»Eine Hinrichtung findet einmal im Monat statt, mindestens. Es ist ein riesiger Volksauflauf. Widerwärtig, wenn ihr mich fragt. Diese Gaffer, die vor Schadenfreude und Hass vergessen, wie schnell auch sie dort landen könnten.«

Martin und Alexis nickten angeekelt, wenngleich auch sie sich zu den ehrfürchtig Schaulustigen zählen würden.

»Na ja, zum Bischofssitz im Dom muss ich nichts sagen. Dort hinten, links neben dem Dom, ist die Frauengasse mit einem recht großen Frauenhaus, wo die Mumen nicht nur weltliche Herren glücklich machen.« Lang schüttelte den Kopf. »Daneben ein Findelhaus – passend, denn es geht nicht immer ohne Nachwuchs aus. Und weit und breit nur Gasthäuser: Die Hohe Lilie neben der Grünen Apotheke, auf der anderen Seite die Rote Flasche – das sind die zwei größten Wirtshäuser hier am Platz.«

Dann zeigte er in Richtung der Andreaskirche, als sie in die Breite Gasse abbogen. »Das Andreasviertel ist das Viertel der Handwerker und Bauern. Sie versorgen auch das große Benediktinerkloster auf dem Petersberg.« Am Fischmarkt blieb er stehen. »Hier seht ihr das Rathaus mit dem Gefängnis, das ›Paradies‹ genannt wird. Da drüben sind die Burse zum Löwenstein und das große Gasthaus Ratskeller, wo es das gute Einbecker und Naumburger gibt. Freitags kann man hier Fisch kaufen. Das soll erst einmal reichen. Meine Kanne Bier fordere ich ein anderes Mal ein. Ich muss noch mal zurück zur Schlösserbrücke, ihr geht dort vorne auf der Via Regia weiter durch die Michaelisstraße.«

Martin und Alexis bedankten sich und gingen, sich angeregt über alles unterhaltend, zu ihrer Unterkunft zurück. Es war inzwischen kurz vor acht.

Nach den ersten Tagen der Orientierung sollten sich alle Studenten in ihren jeweiligen Bursen melden, und Alexis schlug vor, dass Martin und er diesen Gang doch gemeinsam erledigen könnten. Von der Studentengasse führte gleich links hinter dem Universitätsgelände eine schmale Holzbrücke über die Gera an einer Mühle vorbei. Der Fluss war hier künstlich in zwei schmale Arme unterteilt worden, damit das Wasser mit mehr Druck fließen und so mehrere Mühlräder gleichzeitig antreiben konnte. Rechts lag die Armenburse mit ihrem ausladenden Obergeschoss direkt am Fluss und geradeaus ging es über die nächste Brücke an der Schildchensmühle vorbei. Vor sich sahen Martin und Alexis das kleine Haus zum Handschuh und auf der Ecke den stattlichen Kompturhof des deutschen Ritterordens. Sie liefen links den Fluss entlang und gelangten so direkt auf die Lehmannsbrücke, auf der um diese Zeit die Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Daneben befand sich ein Nonnenkloster der Zisterzienserinnen und dem gegenüber die Brückenkopfkirche St. Nikolai mit ihrem hohen Kirchturm, der wie der Turm der Allerheiligenkirche als Wachturm fungierte. Die Burse war nicht zu übersehen. Es war ein langer Bau hinter der Brücke, vor dem ein paar ältere Studenten standen. Sie traten näher an das Grüppchen heran.

»Seid gegrüßt, wir sind neu an der Universität und kommen beide aus Mansfeld. Wir möchten uns melden«, sagte Martin.

Einer der Studenten reagierte zuvorkommend: »Folgt mir. Ich bringe euch zum Bursenmeister.«

Auf ihrem Weg ins Gebäude wurden sie von unauffälligen, aber interessierten Blicken begleitet.

Der Bursenleiter hatte eine kleine Amtsstube gleich rechts hinter dem Eingang. Er erwartete die Neuen schon.

»Nur herein. Wen haben wir denn da?«

Alexis übernahm die Antwort: »Die beiden Mansfelder, Martin Ludher und Alexander Schmied.«

Der Bursenleiter schaute sie an, dann auf sein dickes Buch, in dem er seine Bewohner eintrug. »Martinus und Alexius … In der Burse wird für gewöhnlich Latein gesprochen. Das dürfte kein Problem sein, oder? Ja, hier habe ich Euch. Seid willkommen. Ich zeige Euch gleich Eure Betten. Im Sommersemester werdet Ihr um vier Uhr morgens geweckt, im Wintersemester um fünf. Der Tag beginnt mit Gebeten und Lektionen. Um zehn Uhr gibt es die erste Hauptmahlzeit. Dann folgen weitere Lektionen, Übungen und was sonst auf dem Lehrplan steht. Die zweite Hauptmahlzeit ist um vier Uhr nachmittags, danach ist frei. Frei, um zu lernen, zu musizieren oder gar zu arbeiten. Ich rate Euch, tut etwas Sinnvolles! Im Sommer schließe ich die Burse um acht Uhr dreißig, im Winter um acht Uhr ab. Weiblicher Besuch ist nicht gestattet. Während der Mahlzeiten wird geschwiegen. Im Wechsel liest jeweils ein Student aus der Bibel vor.«

»Das ist ja wie im Kloster«, zischte Alexis Martin zu, als der Bursenleiter aufstand, um sie zu ihren Kammern zu führen.

»Genau, fast wie im Kloster.« Der Mann schien ein feines Gehör zu haben. »Ohne Sitte und Ordnung lässt es sich nicht gut studieren. Eure Eltern zahlen einen hohen Obolus, um Euch zu feinen und gebildeten Männern formen zu lassen. Wir bemühen uns, dem Vertrauen, das Eure Eltern in uns haben, gerecht zu werden.«

Im zweiten und dritten Stock befanden sich die Schlafkammern. Wie in den anderen Zimmern auch gab es in ihrem Raum zwei Doppelstockbetten, vor denen jeweils ein Vorhang als Sichtschutz angebracht war. In der Mitte der Kammer stand ein großer Tisch mit vier Stühlen, des Weiteren war an der Wand ein Bücherregal angebracht und hinter einem Vorhang eine lange Kleiderstange, an der schon ein Talar, ein Umhang, ein paar Hemden und Hosen hingen. Ein Zimmergenosse schien schon eingezogen zu sein.

»Crotus Rubeanus aus Dornheim wird noch erwartet. Euer anderer Zimmergenosse ist Hieronymus Buntz aus Windsheim.« Er drehte sich zu ihnen um. »Es ist Sitte, um in den Kreis der älteren Studenten aufgenommen zu werden, sich der Deposition beanii zu unterwerfen. Ihr wisst, was ›beanus‹ heißt?«, er schaute sie fragend an.

»Handwerksgeselle … der nicht freigesprochene Handwerksgeselle«, erwiderte Martin nach kurzem Überlegen eifrig.

»Richtig! Sehr gut! In Eurem Fall der ungetaufte Student. Es ist Brauch an den Universitäten, den Beanen einer Ablegung seines Beanenstandes zu unterziehen. Eine kleine Demutsübung. Ihr müsst erkennen, dass Ihr nichts wisst. Noch nichts. Deshalb studiert Ihr. Diese zugegebenermaßen etwas rohe Prozedur wird am Sonntag stattfinden. Wir wollen den Lehrbetrieb nicht stören.« Er lächelte, wie Martin fand, leicht sarkastisch und überließ die beiden sich selbst.

Alexis schaute Martin verzweifelt an. »Was wird das werden? Und ab sofort nur noch Latein.«

»Übung macht den Meister … Sicher wird das Lateinische durch den täglichen Gebrauch besser und besser, und schließlich werden wir viel Latein lesen. Gerade im ersten Teil der Sieben Freien Künste, dem Trivium: Grammatik, Rhetorik und Dialektik!«

»Mein Latein war nie so gut. Aber natürlich hast du recht. Es kann nur besser werden! Gehen wir unsere Sachen holen.« Alexis klang ernüchtert.

Die ersten Nächte waren gewöhnungsbedürftig. Crotus Rubeanus, der sich ihnen mit bürgerlichem Namen als Johannes Jäger vorgestellt hatte, war ein netter Kerl, aber er schnarchte. Hieronymus kam zwei Tage später.

»Müsst ihr euch auch am Sonntag der Deposition unterziehen?«, fragte Martin.

»Wir sind eine Woche später dran«, gab Johannes zurück. »Schätze, die Anlässe zum Feiern sollen etwas gestreckt werden. Nach der Prozedur müssen wir ein Essen ausgeben.«

»Verstehe. Dann bin ich doch froh, dass wir es bald hinter uns haben«, machte Martin sich und Alexis Mut.

Als der nächste Sonntag kam, wurden Martin und Alexis noch vor dem Frühstück in den Speiseraum geführt. Gleich an der Tür mussten sie stehen bleiben. Der Bursenrektor saß am anderen Ende des Raumes, fast wie auf einem Thron. Alle Magister, Bakkalare und Scholaren des Hauses waren versammelt. Martin schaute sich um. Jeder schien sie zu mustern. Das war es nun also. Martin atmete tief durch und nickte Alexis fast unmerklich aufmunternd zu. Dann kamen zwei Studenten und machten sich daran, ihnen Eselsohren aufzusetzen. Zwei andere brachten Eberzähne, die mit einer dicken Schnur am Kopf festgebunden wurden. Alexis schaute erschrocken. Martin zuckte mit den Schultern und bedeutete ihm damit, dass sie da durchmussten. Er blieb gelassen, als man sie auslachte. Er stand ruhig, als man ihnen Scheuklappen und Hörner aufsetzte. Alexis schien den Tränen nahe, was mit noch mehr Gelächter und Hohn quittiert wurde. In Martin arbeitete es. Wie sollte er diese Situation meistern? Mit Humor – er musste es mit Selbstironie tragen! Ein Magister nahm eine Peitsche und trieb sie im Kreis, wie Pferde an der Longe. Sie sollten traben und galoppieren, sich im Kreis drehen und Männchen machen. Martin spielte mit und führte von sich aus ein kleines Schauspiel vor, in das er Alexis mit einbezog, der erleichtert mitmachte. Sie spielten austretende Esel, vor denen sich die Zuschauer in Sicherheit bringen mussten. Dann wurden ihnen Mohrrüben an einem Stock vor die Nase gehalten, die sie mit dem Mund fassen sollten. Während Alexis mehrere Runden hinter dem Stock hertrabte, ignorierte Martin die Mohrrübe so konsequent, dass der Halter unaufmerksam wurde, die Mohrrübe dicht und tief hielt und Martin ihm den Stock mit einem Biss in die Rübe aus der Hand zog. Die Menge klatschte. Dann wurden zwei Eimer voll mit Bier hereingetragen, aus denen sie um die Wette trinken sollten. Ohne Hände. Sie mussten sich also auf ihre Knie niederlassen und wie die Hunde mit der Zunge saufen. Da sie noch nichts gegessen hatten, stieg ihnen das Bier schnell zu Kopf. Zweimal wurden sie mit dem Kopf in die Eimer getaucht, dass sie den Gerstensaft durch Mund und Nase herausprusteten.

 

Die Demütigung erfuhr noch eine Steigerung: Mit von Bier verklebten, nassen Haaren, stinkend und in einer Kombination aus Eseln und Ochsen zur Hässlichkeit verunstaltet, wurden sie unter Gelächter und Gegröle hinaus auf die belebte Marktbrücke getrieben. Und wie bestellt, standen dort ausgerechnet zwei hübsche Mädchen, die kichernd auf sie zeigten. Martin spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Ein Student gab den beiden Eseln ein Löwenzahnblümchen in die Hand und befahl ihnen, sie den Mädchen zu überreichen und einen hübschen Diener zu machen. Martin kam sich mehr als dumm vor. Aber er entschied sich für die Flucht nach vorne und ging geradewegs auf die Hübschere zu, die intelligent genug war, das Spiel mitzuspielen. Alexis und die andere taten es ihnen nach. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, pfiff und applaudierte. Martin bedankte sich bei seiner Mitspielerin, indem er sich verneigte. Sie gab ihm zu verstehen, dass sie mitfühlte, und lächelte ihn mitleidig an.

Nun kamen zwei andere Studenten mit großen Scheren, einer Axt und einer Säge auf sie zu. »Leute, hört, hört!«, sagte der, der mit den Löwenzahnblumen die Moderation hier draußen übernommen hatte. »Dies sind die Neuen, die meinten, sie wären etwas Besonderes, weil sie sich an der Universität zu Erfurt eingeschrieben haben. Dummheit, Engstirnigkeit, Einfalt, tierische Rohheit und Unmäßigkeit haben bei uns nichts verloren. Deshalb erfolgt nun die Fuchsentaufe!« Den beiden Studenten mit den Werkzeugen befahl er: »Nun befreit die Täuflinge von ihrem Beanium!«

Jetzt wurden ihnen die Eselsohren abgeschnitten. Die Scheren waren sehr groß, und Martin trug eine leichte Verletzung am Ohr davon. Dann kamen andere, die ihnen nicht zimperlich die Scheuklappen abrissen. Es ziepte an der Kopfhaut. Die Ochsenhörner und die Schweinszähne wurden mit Sägen gekürzt, und schließlich wurde ihnen mit einem Striegel aus Eichenholz der Bart geschoren. Die Prozedur war schmerzhaft.

Wieder wurden die beiden Mädchen einbezogen, die noch immer neugierig in der Nähe standen. »Kommt, und verabreicht Euren Verehrern diese bitteren Pillen, denn jeder muss einmal eine bittere Pille im Leben schlucken«, wies der Wortführer die beiden jungen Frauen an.

Diese gingen auf Martin und Alexis zu und reichten ihnen die Tabletten.

»In den Mund damit! Füttern!«, skandierten die Zuschauer.

Martin und Alexis ließen sich die scheußlichen weißen Presslinge zwischen die Zähne schieben und schluckten sie herunter, so gut und so schnell sie konnten. Martin musste würgen, es schüttelte ihn, so bitter war der Geschmack auf seiner Zunge. Gerne hätte er noch mal aus dem Eimer gesoffen. Mit diesem üblen Geschmack, geteert und gefedert, wenigstens innerlich, sollten sie sich nun hinknien und ihre Sünden vor aller Ohren bekennen.

»Bekennt, um durch völlige Läuterung im Inneren wie im Äußeren ein würdiger Jünger der Wissenschaft zu werden!«

Martin wollte es hinter sich bringen und dem deutlich mehr leidenden Alexis ein Beispiel geben: »Ich bekenne, dass ich manchmal ein zügelloses Gemüt habe und mich nicht mehr kontrollieren kann.« Und dann fügte er humorvoll hinzu: »Insbesondere, wenn mich jemand demütigt und zur Weißglut treibt, kann ich zum Mörder werden, und er bekommt meinen Zorn zu spüren, wenn er am wenigsten damit rechnet!« Er spielte einen Wahnsinnigen und blickte seinen Peinigern böse ins Gesicht.

Die Menge grölte erneut. »Hört, hört!«

Alexis versuchte es ähnlich spielerisch: »Ich bekenne, dass ich nur schlecht verzeihen kann. Ich bin zwar nicht nachtragend, aber ich vergesse nie! Ich habe mir Eure Gesichter gemerkt«, drohte er mit dem Zeigefinger und lachte versöhnlich. Die Zuschauer applaudierten.

Nun sprach der Bursenrektor: »Ihr dürft Euch erheben! Gut habt Ihr Euch geschlagen. Es ist üblich, dass Ihr nun zu einem Schmaus und Umtrunk einladet, um Euch der Absolution zu versichern. Einen Drittelgulden je von Euch beiden.« Der Bursenmeister hielt die Hand auf.

Martin griff in seine Westentasche und zog eine Münze heraus. Alexis ebenso.

Martin schaute sich nach den Mädchen um. Sie waren im Begriff zu gehen. Aber nun drehte sich die Hübschere zu ihm um, lächelte ihn verlegen an und winkte unauffällig auf Hüfthöhe. Martin winkte genauso zurück und zwinkerte ihr zu.

Der Aufsicht führende Magister nahm das Geld und ging zur Fleisch- und Brotbank, kaufte ein paar leckere Sachen, und zusammen liefen sie gut gelaunt und einträchtig zurück in die Burse in den Speiseraum, wo sie gemeinsam aßen und tranken. Drei Bursalen holten ihre Instrumente und spielten Musik. Immer wieder legten ihre Bursengenossen beiden freundschaftlich die Arme um die Schultern und prosteten ihnen zu.

Martin erhob sich und lallte – denn so viel Bier war er nicht gewohnt: »Ich denke, das war nur der Anfang aller Depositionen, die uns allen ein ganzes Leben hindurch nicht erspart bleiben – nur ein Vorspiel dessen, was uns in Ausbildung, Ehe und Beruf bevorsteht. Wir danken für die Aufnahme.«

Der Bursenrektor nickte anerkennend. Der junge Martinus hatte die Lektion verstanden. Alle klatschten und stießen auf die klugen Worte an. Das Studium konnte beginnen.

Lange saßen sie beisammen. Bier und Wein machten sie redselig, und so lernten sie die anderen Bursalen schnell kennen und freundeten sich an. Martin wusste nun, dass man hier trinkfest sein musste, denn die älteren Studenten unterhielten sich lebhaft über ihre lustigen Zusammenkünfte in der Vergangenheit und stießen an, auf die, die noch kommen würden.

Am 23. April begannen die ersten Vorlesungen und Disputationen. Die Vorlesungen hielten entweder ordentliche Lehrstuhlinhaber oder Bakkalare sowie junge Magister, und sie wurden durch Übungen und Wiederholungen ergänzt. In den Disputationen wurde eine Frage in Rede und Gegenrede behandelt und gelöst. Anfangs war Martin zurückhaltend, aber als er merkte, dass er in Rhetorik den anderen in nichts nachstand, beteiligte er sich eifrig. Besonders mochte er die Quodlibet-Disputationen, in denen alles Mögliche zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden konnte. Vor allem die Werke des Aristoteles wurden vorausgesetzt. Martin plante zum frühestmöglichen Zeitpunkt, nämlich anderthalb Jahre nach Aufnahme des Studiums, sein Bakkalariatsexamen abzulegen. Es war also keine Zeit zu verlieren.

Die Studien der Philosophie, die Urmutter der Sieben Künste, waren anspruchsvoll. Sein Professor war Bartholomäus Arnoldi. Er kam aus dem Ort Usingen, weshalb ihn die Kollegen auch Usingensis nannten. Er liebte Aristoteles, die Logik und den Nominalismus. Martin merkte sofort, dass er von diesen Themen noch wenig verstand. Es galt, die wichtigsten Philosophen und ihre Überlegungen kennenzulernen – Zeit, die Bibliothek aufzusuchen.

Beim ersten Rundgang hatten sie bereits kurz durch die Tür hineingucken können. Nun trat Martin ein und war überwältigt von der Menge der Bücher, den hohen dunklen Holzregalen mit den Tritten und fest arretierten Schiebeleitern davor, von den vielen Stehpulten und Lesetischen. Er schätzte die Zahl der Bücher auf über tausend Bände.

Der Bibliothekar sprach ihn an. »Ihr seid Bakkalar?«

»Noch nicht«, antwortete Martin. »Ich will es werden.«