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Dreizehntes Kapitel

Begeisterung ist ein Festkleid. Im Alltag nutzt sie sich bald ab.

Auch Spreemanns Überschwang dämpfte sich, als es sich herausstellte, daß der Friede noch weit im Felde lag.

Der Lehrer sagte, daß man erst in Paris hineinmarschieren müsse. Man mußte noch deutlicher zeigen, wer man seit 1814 geworden war.

Das Leben ist eine große Geduldsprobe.

Aber als die Bäume kahl wurden, kam doch wieder ein Brief von Christian. Er war nur kurz. Christian schrieb nicht, daß er gesund wäre, sondern nur, daß er dies von den Eltern hoffe, daß er die Türme von Paris sehen könne, das sie umzingelt hielten, und er nach Hause denke.

Die Buchstaben standen nicht so glatt in Reih und Glied wie eine preußische Schwadron.

»Er hat gewiß auf dem Tornister geschrieben,« sagte Spreemann und sah lauernd zu Lieschen.

»Wenn du meinst,« erwiderte sie. »Nur, daß er garnichts von seiner Gesundheit meldet.«

Spreemann sagte barsch, daß ein Soldat nicht immer an seine Gesundheit denken könne.

Das leuchtete Lieschen ein. Man glaubt so gern, was man hofft.

Aber sie konnte es nicht ändern, daß ihre Beine immer müder wurden. Oder war es ihr Herz? Als die Tage immer kürzer, kälter und dunkler wurden, war sie oft nicht imstande, das Bett zu verlassen.

»Woran hängt's denn noch?« fragte sie matt, wenn Spreemann die Zeitung studierte.

Er berichtete, daß die Franzosen Heere sammelten, sogar aus Algerien.

»Aus Afrika?« fragte Lieschen.

Spreemann nickte.

»Mohren?« fragte sie weiter.

»Ich glaube,« sagte Spreemann leise.

»Gegen schwarze Mohren mein blonder Junge?«

Sie legte sich müde zurück.

»Die Farbe ist doch ganz Nebensache dabei,« brummte Spreemann. »Das ist bei uns Deutschen ganz egal. Wir siegen auf jeden Fall. Verstanden?«

Er ging rasch aus dem Zimmer.

Aber nach einer Weile kam er wieder herein. Wie versehentlich strich er über Lieschens Hand, während er sagte:

»Du kannst beruhigt sein. Ob Mohren oder nicht. Ich habe etwas getan, das Christian zugute kommen wird.«

Und er teilte ihr mit, daß er die Reservekasse für eventuelle Enkelkinder zur Errichtung eines Lazaretts gegeben.

Das hatte ihm den Trost gebracht, den er nun an Lieschen weitergab.

Er hatte, wie wir alle, gelernt, daß wir nach Gottes Ebenbilde geschaffen sind. So mußte er überzeugt davon sein, daß auch dort oben ein Hauptbuch über Gut und Böse geführt wurde.

Weiter gingen die Tage. Großes geschah. Ein neues Deutsches Reich war gezimmert worden. Ihr König trug eine Kaiserkrone. Paris kapitulierte. Und so war also Christian in dieser Weltstadt.

Ein Sohn in London, der andre in Paris. Man war in Zusammenhang mit der ganzen, großen Erdkugel.

Madame Lieschen konnte nicht begreifen, daß man noch immer nicht Friede machte. Daß man wegen einer Lappalie von fünf Milliarden ihren Christian noch immer nicht heimkehren ließ.

Aber einmal entscheidet sich alles. Plötzlich war es wirklich Friede. Ein Präliminarfriede. In Frankreich unterzeichnet.

Madame Lieschen war nicht mehr bettlägerig, wenn sie auch das lange Fremdwort vor Friede noch beunruhigte. Das war noch kein solider deutscher Friede. Auf den Verlaß war.

Aber die Tage wurden nun heller und länger. Der Schnee war geschmolzen, und die Luft war leichter zu atmen.

Ostern fuhr man nach Schöneberg. Man sah die ersten Primeln und Veilchen und sprach schon ein wenig von Hochzeit.

Annalise hatte einen großen Kasten voll schöner selbstgenähter Wäsche, und Madame Lieschen nahm Stück für Stück in die Hand.

Und als es Mai wurde, bekam Mutter Lieschen einen neuen Wunsch erfüllt. Der solide deutsche Friede war da. In Frankfurt a. M., das auf der Karte kaum zwei Finger breit von Berlin entfernt lag, war er unterzeichnet worden. Im Gasthof zum Schwan. Das klang heimatlich und glaubwürdig.

Nun waren die Truppen auf dem Heimweg.

Ihr Einzug rückte näher von Stunde zu Stunde.

Madame Lieschen hatte großes Reinmachen. Und nicht sie allein, überall putzte und seifte ein jeder sein Stück Berlin. Es sah aus, wie wenn die ganze Spreestadt Hochzeit halten sollte.

Man war im Rosenmonat. Aber in diesem Jahre waren die Rosen nicht so wohlfeil wie Möhren. Blumen waren hoch im Preise, denn es war eine Nachfrage nach Rosen und Kornblumen, als wenn die Blumen Leckerbissen wären wie die Teltower Rübchen.

Alle Hände, die monatelang Scharpie gezupft hatten, flochten nun Girlanden.

Der Müller aus Schöneberg kam und meldete, daß Annalise zum Einzug einen Korb voll Kornblumen bringen würde.

Herr Slovitzka wollte, daß man ein Fenster mieten sollte. Unter den Linden oder in der Königgrätzerstraße. Oder Tribünenplätze am Brandenburger Tor. An solchem Tage konnte man schon einige Goldstücke springen lassen. Madame Lieschen antwortete, daß dazu ihre Augen nicht mehr gut genug waren. Sie mußte dicht am Straßenrand stehen, wenn sie etwas erkennen sollte.

Herr Slovitzka meinte, daß ihre Füße das nicht aushalten würden.

Madame Lieschen antwortete, daß sie ihre Füße tragen würden, bis der letzte Soldat vorbeimarschiert wäre.

Und diesmal war Spreemann vollständig ihrer Meinung.

»Unser Sohn ist unter den Soldaten, und wir wollen unter den Berlinern sein.«

Mochte er, der Böhme, wieder einmal zu merken bekommen, daß er überhaupt nichts mit dieser Sache zu tun hatte . . .

Ohne Wolke blaute der Himmel über der festlichen Stadt. Wie Zugvögel dem Frühling, zog man in dichten Schwärmen den Feststraßen zu. Heute schob sich kein gleichgültig Unbeteiligter durchs Gedränge. Wo einer aufblickte, traf er Augen, die ihn verstanden.

Unter den blühenden Linden, zwischen Girlanden, Wimpeln und Fahnen, dicht an der Bordschwelle, hinter den Schutzleuten, stand Madame Lieschen neben Spreemann. Ihm zur Seite reckten die Schöneberger die Hälse. Zwischen sich den Korb mit Kornblumen.

Elf Monate hatte man gewartet, aber diese letzten Stunden hier waren die längsten.

Es war ein Tag für Slovitzka. Trotzdem er nichts mit dem Ganzen zu tun hatte. Heute stand sich mancher die Hacken schief.

Die Sonne brannte.

Die Soldaten würden einen tüchtigen Durst mitbringen. Aber man hatte auch überall für Erfrischungsstationen gesorgt. Ob ihnen das Weißbier noch schmecken würde? Nachdem sie den Champagner an der Quelle gekostet?

Plötzlich verstummte alles Geschwätz. Kanonenschüsse. Glockengeläut. In der Ferne Pferdegetrappel und Hurrageschrei.

»Wenn er nun nicht dabei ist, Klaus?« murmelte Madame Lieschen.

Spreemann hatte es wohl nicht gehört. Er antwortete nicht.

Nun bogen die ersten Reiter durchs Brandenburger Tor. Man hörte Kinderstimmen deutlich die Wacht am Rhein singen. Mancher andre sang mit. Grell blendete die Sonne auf die Helme und Waffen. Vielleicht kam es daher, daß aller Augen überliefen.

Aber nicht nur Tränen fielen. Durch den Sonnenglanz stürzten ohne Unterlaß alle Blumen des Sommers und Kränze aus Eichenlaub und Lorbeer nieder.

Lieschen klammerte sich an Spreemann. Das dröhnende Jubelgeschrei, das näher und näher brauste, schien sie umreißen zu wollen.

Jetzt waren sie vor ihr. Bismarck, Moltke und Roon. Mit der Degenspitze fing Bismarck die Kränze auf. Und ein Jauchzen, stärker noch als alle die eisernen Glockenstimmen der Stadt, schwoll zu ihm auf.

Ganz nahe waren Lieschen die drei berühmten Männer. Aber sie vergaß, darüber stolz zu sein. Ihre Blicke irrten suchend zwischen den gewöhnlichen, verstaubten Soldaten umher.

Jetzt kam der Kaiser. Der als König ausgezogen und als Kaiser heimkehrte.

Spreemann wunderte sich, daß des greisen Herrschers Augen feucht waren. Er hatte doch seinen tapfern Sohn gesund und sicher neben sich. Und sogar sein Enkelkind. Ernsthaft ritt er auf seinem Zebrapferd zwischen Vater und Großvater.

»Ja, nun hat er's schwarz auf weiß, daß er ein Kaiser werden soll,« scherzte jemand in der Menge. Viele lachten. Viele Rosen und Kornblumen umflogen den Kaiser der Enkelkinder.

Die Kaiserin, Prinzessinnen und Fürsten kamen vorüber. Und endlich nur Soldaten und Soldaten.

Zwischen die fleckenlosen Freudenwimpel reckten sich die blutigen zerfetzten Kriegsfahnen. Tapfer getragene und furchtlos erbeutete.

Hinter Lieschen zählte jemand mit lauter Stimme die erbeuteten Fahnen. Er war schon über die Zahl fünfzig hinausgekommen.

»Hundertundsieben müssen es sein,« sagte stolz ein Dicker, der heftig schwitzte. Er schien ebenso genau wie Spreemann die Zeitungen gelesen zu haben.

»Wenn all der Staub Mehl wäre,« sagte der Müller.

Aber Spreemann dachte im Augenblick nicht an Geschäft und Gewinn. Die Menge um sie herum begann sich schon ein wenig zu lockern. Man stand jetzt über sechs Stunden hier.

Lieschen sah nur starr in die Soldaten.

»Man kann sie schwer von einander trennen,« sagte Spreemann.

»Weil man sie nicht kennt,« antwortete Lieschen, ohne die Augen von den Vorbeimarschierenden abzuwenden. »Ihn werd ich schon erkennen.«

Da begann sie zu zittern.

»Nicht fallen, Mutter,« sagte Spreemann erschreckt.

Aber da war auch ihm, als ob das Pflaster plötzlich Spiralen bekam.

Christians Regiment marschierte vorbei.

Reihe nach Reihe, in Schritt und Tritt.

»Mutter,« stöhnte Spreemann, und statt sie zu stützen, lehnte er sich schwer an Lieschen.

Beinah wäre er umgestürzt. Lieschen hatte den Platz verlassen. Sie drängte vor und gab dem ersten Schutzmann einen Puff, daß er beiseite flog. Sie schonte auch den nächsten nicht, und schon war sie zwischen den Soldaten und Waffen. Jetzt war sie einem Mann mit blondem Vollbart um den Hals geflogen.

Alles lachte, klatschte Bravo, und man jauchzte wie zu Anfang, als die hohen Herrschaften vorbei kamen.

 

Gedanken von plötzlichem Wahnsinn, Mannstollheit und andre gräßliche Zeitungsberichte zuckten durch Spreemanns schmerzenden Kopf.

Aber der Blondbart hob die alte Frau hoch in die Luft, küßte sie und trug sie trotz seines Gewehrs auf den Armen mit sich.

Er drehte sich noch einmal zurück und winkte. Annalise warf blindlings Kornblumen, dann war alles in den Staubwolken verschwunden . . .

Viele Gescheite behaupten, daß Mutterliebe blind ist. Wie gut, daß Ausnahmen ihnen manchmal diese Regel bestätigen.

Dritter Teil

Erstes Kapitel

So war Berlin eine Kaiserstadt geworden. Viele Sommerabende lang hatte es festlich erleuchtet, wie ein Stern unter Sternen, geruht.

Aber man bleibt, was man ist, wie man auch benannt werden mag. Die Berliner erinnerten sich bald, daß ihre Lieblingsbeschäftigung die Arbeit sei. Es fiel ihnen wieder ein, daß der frohe, liebe Mitbürger auch ein Konkurrent sein kann.

Man besann sich auf sich selbst.

Slovitzka machte eine große Bestellung in neuem Stiefelfutter. In verschiedenen Qualitäten. Doch Seide wie Baumwolle sollten einen breiten, schwarzweißroten Bortenrand haben.

Er war nicht der einzige, der es mit diesen Farben zu etwas zu bringen hoffte.

Auch Spreemann verhehlte sich nicht, daß mit dieser Neuigkeit ein Geschäft zu machen sei. Aber er wartete mit allen neuen Entschlüssen auf Hansens Heimkehr. Ohne Zweifel war Hans ein Weltmann geworden. Der den Anforderungen einer Kaiserstadt gewachsen sein würde. Auch zu Christians glücklicher Rückkehr hatte er eine Depesche geschickt.

Auch sonst stand Spreemann nicht mehr auf einem Bein, wie er sich in seiner Freude zu Lieschen ausdrückte.

Dieser Krieg, der die ganze Welt verändert zu haben schien, hatte auch an Christian sein Wunder getan. In den langen Wochen der Sorge und Angst hatte man ihn sich immer als das scheue Milchbärtchen der Kinderjahre vorgestellt. Da war es beinahe schwer, sich an den wetterfesten Kerl zu gewöhnen, dessen Männlichkeit nicht nur im neuen Bart zu stecken schien. Man hörte seinen Tritt im Haus. Man merkte auch im Schuhwarenlager, daß er in andern Lagern, nicht nur das Gehorchen, sondern das Befehlen gelernt hatte.

Wie vor einem Jahr, als er davonmarschieren sollte, setzte sich Madame Lieschen immer wieder auf, in den warmen, dämmrigen Sommernächten.

Denn da war etwas, wovon man im Hellen nicht reden konnte. Obwohl man es immer vor Augen hatte. Auch wenn man allein war.

Zwei Finger von Christians Rechten waren in Frankreich geblieben.

Er selber scherzte darüber. Er sagte, daß die Hand eines Berliners auch noch mit drei Fingern eine Bärenpranke blieb. Das hätte er schon in manchen Gefechten bewiesen.

So würde ihn das kleine Manko auch im Lebenskampfe nicht hindern. Davon war Vater Spreemann überzeugt.

Aber Mutter Lieschen kam nicht so leicht darüber weg. Sie erinnerte immer wieder daran, daß sie ihren Jungen mit zehn reizenden kleinen Fingern geboren. Und daß es von Gott selber angeordnet sei, daß der Mensch zehn Finger habe. Fünf an jeder Hand.

Spreemann sagte, daß sie überhaupt nicht verdiene, daß Christian zurückgekommen sei. Er rief ihr die kalten Winternächte zurück, wo sie wachgelegen hatten und Gott auf Knien gedankt hätten, wenn überhaupt nur ein Fingernagel von dem Jungen zurückgekommen wäre.

Er schalt über die Kleinlichkeit der Frauen, die über zwei verlorene Finger jammerten, wenn ein ganzer Mann heil zurückkam. Und nannte sie gleichzeitig maßlos anspruchsvoll. Denn der Mensch muß Maß halten können mit seinen Wünschen, wo sollte das sonst hinaus.

Madame Lieschen antwortete endlich, daß sie ihr Leben lang nicht verschwenderisch gewesen.

So geriet man allmählich in den gesunden Widerspruch, der nötig war, um diesen Gesprächen endlich ein Ende zu machen und beiden die wohlverdiente Ruhe zu verschaffen.

Aber am nächsten Abend saß man wieder auf. Und begann sich in alter Eintracht den neuen Meinungsverschiedenheiten zu nähern.

Spreemann bewunderte die Sicherheit, mit der dieser sonnenverbrannte Blondbart nicht nur mit den gefährlichen Schießwaffen umging, sondern auch mit jungen lachenden Damen. Wie pfiffig parierte er die Spötteleien Ilkas, die so groß und schlank zurückgekehrt war und sich zu drehen und zieren gelernt hatte wie das vornehmste Fräulein. Und wie ruhig und Zigaretten rauchend ließ er sich von Annalise anschmachten.

Da man sich gern selbst als das Maß aller Dinge nimmt, sagte Spreemann bewundernd, daß er wirklich nicht wisse, woher der Junge das habe.

Madame Lieschen schob nachdenklich an dem Nachthäubchen aus Filigran und meinte dann, daß er das wohl in Paris gelernt haben werde. Wo doch die Amour zu Haus sein sollte.

Spreemann ärgerte sich, daß er darauf nicht selber gekommen und sagte brummig, daß hier von Amouren garnicht die Rede sei. Ilka wäre den Jungen wie eine Schwester und Annalise werde seine künftige Frau. Was schwätzte sie also von Amouren.

Madame Lieschen antwortete, daß sich Eheleute nicht jedes Wort auf die Wagschale legen sollten. Amour und Heirat hätten doch große Ähnlichkeit miteinander und sie habe damit nichts Böses sagen wollen.

Auch Sanftmut kann eine Waffe sein.

Madame Lieschen wollte keinesfalls, daß Spreemann jetzt schon wütend wurde und einschlief. Denn auch über Hans hatte sie mit ihm zu reden. Sie wollte wissen, ob ein englischer Herr, Gentleman nannte man das wohl, Gefallen an Erdbeerbowle finden würde. Und ob man ihn in dem breitgestreiften oder im kleingewürfelten Kleide zu bewillkommnen habe.

Sie sollte erreichen, was sie wollte. Erst das Kleingewürfelte wurde Spreemann zum Schlafmittel. Er schalt es ein wandelndes Schachbrett. Lieschen antwortete, daß sie nicht gewußt habe, daß Spreemann Schachbretter führe.

Und nun ergab sich alles Weitere von selbst.

Auf dem Weg zum Bahnhof aber trug Madame Lieschen doch das Kleingewürfelte unter dem schwarzseidenen Umhang.

Schließlich war auch eine Frau ein Mensch, und man konnte wohl auch einmal seinen Willen durchsetzen.

Charakterstärke belohnt sich.

Lieschen hatte den Triumph, daß die Müllerin den Stoff dreimal befühlte und die Elle auf fünf Groschen teurer taxierte, als er je gekostet hatte. Nicht einmal vor drei Jahren, als ihn Spreemann als Modeartikel geführt hatte . . .

Blau blitzte der Himmel über dem Bahnsteig.

Christian und Annalise wanderten Arm in Arm, neben den blanken, glatten Linien, deren Ende nicht zu sehen war. Das Gefühl der Ferne brachte sie einander näher.

Die Müllerin zählte die Sonnenblumen, die das Wärterhäuschen umzäunten.

Madame betrachtete die leeren Wagen auf einem Nebengleise. Sie stellte es sich vor, wie es sein mußte wenn man darin fuhr. Zwischen Leuten, die man nicht bei Namen kannte, an fremden Feldern und Häusern vorbei. Ein rechter Unsinn schien ihr das. Und noch weniger begriff sie, warum dies sonderbare Vergnügen in der ersten Klasse dreimal so viel kostete als in der vierten, wenn man doch nicht früher ankam als die weniger Zahlenden.

Sie ging zur Müllerin, um ihr diese Betrachtungen zugute kommen zu lassen. Denn die beiden Väter besprachen Geschäftliches. Das sah sie an ihren ruhigen, zufriedenen Mienen.

Sie irrte sich nicht. Der Müller erzählte, daß man seine Wiesen in eine Aktiengesellschaft umwandeln wollte. Aber da hatte man sich an den falschen Ochsen gewandt. Er wußte selber, wo das Futter wuchs. Berliner Boden war jetzt um nichts schlechter als französischer Wein. Je länger er lagerte, um so wertvoller würde er werden. Wenn man es auch selbst nicht erleben wird. Vor seinen Enkeln sollte man einmal katzenbuckeln.

Und da es nicht seine Art war, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nur in der Einbildung existieren, kam er jetzt auf das Brautpaar zu sprechen. Er riet zu einer baldigen Hochzeit.

Da schwenkte Madame Lieschen den Sonnenschirm und schrie, daß sie ein Wölkchen am Horizont sehe. Alle eilten zu ihr. Aber niemand konnte etwas Sonderliches entdecken. Nichts regte oder bewegte sich zwischen dem blauen Himmel und den grünen Wiesen.

Alles andre wäre auch unnatürlich gewesen. Denn der Zug hatte erst in zehn Minuten zu kommen. Man war pünktlich in Preußen. Gewiß. Aber nicht voreilig.

Madame Lieschen blieb unbeirrt auf ihrem Platz. Sie hielt den Sonnenschirm wagerecht und winkbereit und sagte, daß sie nicht begreife, was die andern für einen Horizont hätten. Sie sähe etwas.

Recht zu bekommen ist nur eine Sache der Ausdauer.

Schließlich sahen alle etwas. Nicht nur ein Wölkchen, sondern einen schwarzen Punkt, der geschwind zu einer laufenden Lokomotive anwuchs. Nun hörte man Räder und roch Rauch. Der Bahnwärter läutete feierlich die Glocke.

Lieschen und Spreemann begannen planlos hin und her zu laufen.

Christian und Annalise blieben eingehenkelt stehen.

Die Müllerin, die sehr stolz auf ihren Schwiegersohn war, sagte:

»Wie anders bei Christian. Ihm der Kaiser und Bismarck voran. Und hier die rauchige Poltermaschine.«

»Jeder Wind mahlt anders,« knurrte der Müller.

Inzwischen war der Zug herangerollt.

Aus einem Wagen jener ersten Klasse, über die Madame Lieschen eben noch ihre eigensten Gedanken gehabt, winkte ein eleganter Herr mit einem großen Taschentuch aus Seide.

Diese großen Formate werden nur in Prima-Qualität angefertigt, fuhr es freudig durch Spreemanns Kopf. Obwohl es sich hier nicht um seine eigne Branche handelte.

Hans hatte sich vorgenommen, mit der ganzen kühlen Ruhe des Briten aus dem Wagen zu steigen und seine Berliner Familie mit einer englischen Redewendung, formvollendet, zu begrüßen.

Aber das deutsche Herz machte ihm durch dieses vornehme Programm einen Querstrich.

Als seine guten Augen die einzelnen Gestalten der Wartenden unterscheiden konnten, schrie er ganz einfach:

»Mutter, Mutter.«

Und in den englisch gepflegten Bart kollerten jene ganz gewöhnlichen Salztropfen, die der ärmste Mensch jeder Nationalität kostenlos zur Verfügung hat.

Aber es ging auch so. Man küßte und umarmte ihn trotzdem in stolzester Freude. Und er war auch so vornehm genug.

Schon am Ausgang des Bahnhofs bemerkte Mutter Lieschen den karierten Reisemantel. Das große, prächtige Fernglas, das im hellgelben Futteral, am gleichfarbigen Lederriemen, an seiner Seite hing.

»Deine Augen sind doch nicht schlechter geworden, mein Junge,« fragte sie besorgt. »Daß du ein so großes Augenglas brauchst?«

Hans beruhigte sie. Das Glas gehörte zum modernen Reisekomfort. Mit der Beschaffenheit der Augen hätte es garnichts zu tun.

»Es macht sich aber gut an dir,« sagte Madame Lieschen und strich mit dem Zeigefinger über das glatte, angenehme Leder.

»Ich dachte du hast dir einen Futtertrog umgeschnallt,« sagte der Müller und erklärte seiner Frau mit einem gelinden Puff des Ellenbogens, daß er einen Witz gemacht hatte. Sie gehorchte und lachte. Aber sonst niemand.

Man war nicht unzufrieden, daß sich die Müllersleute nun verabschiedeten, und stieg in eine Droschke.

»So zu Vieren war man wie geschaffen für einen Wagen,« sagte Spreemann.

»Aber eigentlich gehört das Annalischen schon zu uns,« sagte Madame Lieschen. Und sie begann Annalise einige Straßen lang zu loben.

Hans und Christian beobachteten sich schweigend, prüfend. So wie sie als Kinder neue Bekanntschaften begonnen hatten.

»Wie geht es denn bei Slovitzkas,« fragte Hans. »Ich dachte eigentlich, daß sie auch zur Bahn kommen würden.«

Madame Lieschen belehrte ihn, daß zwischen Freundschaft und Verwandschaft ein kleiner Unterschied sei.

»Ilka ist sehr schön geworden,« sagte Christian.

Spreemann sah nur stumm auf diese beiden breitschultrigen Kerle.

»Und Co.,« dachte er.

Er mußte sich mitten auf der Fahrt eine Zigarre anzünden, um ruhiger zu werden.

Man schwenkte nun um den Dönhoffsplatz.

Madame Lieschens Augen streiften die Fenster der Häuserfronten. Vielleicht bemerkte man, wer da heimkehrte. Es konnte keinem schaden, jemanden im modernsten Reisekomfort zu sehen. Zum Glück war es Sonnabend, wo viele die Scheiben putzten.

Auch bei Slovitzkas war jemand am Fenster. Lieschens Augen waren nicht mehr scharf genug, um zu erkennen, wer es war.

Hans sprang aus dem Wagen und lief ins Haus.

Madame Lieschen konnte nicht mehr so eilen als früher. Aber sie erklomm die Treppen doch schneller als je. Denn sie wollte dabei sein, wenn Hans die Rosengirlande entdeckte, die sie um den alten Eßtisch gewunden, wo die duftende Bowle und der braungoldne Napfkuchen harrten.

Aber das Zimmer war leer. Hans war eine Treppe höher gelaufen.