Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis

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7.


„Tanzen Sie eigentlich gern?“

Faust stand dicht neben dem Fräulein, das sich über ein Mikroskop gebeugt hatte und eben an einem Rädchen drehte, um das Bild noch schärfer zu stellen. Es handelte sich um ein Präzisionsgerät der Firma Wilhelm & Heinrich Seibert aus Wetzlar. Dieses Unternehmen baute schon im Jahre 1911 ein weltweit käufliches Vergleichsmikroskop, das es ermöglichte, zwei Objekte gleichzeitig zu betrachten und daraus Schlüsse zu ziehen.

Der Chemiker Philipp O. Gravelle entwickelte 1927 zusammen mit dem Arzt Calvin Goddard ein verbessertes Modell, das bei der Kriminalpolizei sofort begeisterte Aufnahme fand, denn man konnte damit zwei abgefeuerte Kugeln miteinander vergleichen und auf diese Weise die Verwendung derselben Waffe für verschiedene Taten nachweisen.

„Wir haben in der Münzstraße auch dieses Modell, Fräulein Keller“, antwortete Faust und deutete auf das Mikroskop. „Außerdem haben wir auch das erste Exemplar von Goddard/Gravelle erworben und damit schon erstaunliche Ergebnisse erzielt. Sie wissen sicherlich, dass die Ballistik damit in der Lage ist, die charakteristischen Spuren, die jede Kugel nach dem Abfeuern einer Waffe verursacht, zuzuordnen.“

Erstaunt sah Faust auf, weil ihm die Kriminalistin nicht geantwortet hatte.

„Wollen Sie mich jetzt über die Ballistik aufklären, Herr Faust? Sie beleidigen eine leidenschaftliche Forensikerin, Herr Polizeiagent! Und außerdem hatte ich nach Ihren Tanzvergnügungen gefragt!“

Sie schien beleidigt zu sein, jedenfalls verzog sie ihr Gesicht auf entsprechende Weise, und Faust beeilte sich mit seiner Auskunft.

„Nun, ich bilde mir zumindest ein, neben Foxtrott auch einen halbwegs ordentlichen Charleston auf das Parkett legen zu können!“

Fräulein Dr. Dorothee Keller, die noch einmal einen Blick durch das Mikroskop in ihrem Labor geworfen hatte, schenkte ihm jetzt wieder ein bezauberndes Lächeln.

„Sehr schön. Dann richten Sie sich bitte darauf ein, dass wir am kommenden Sonnabend gemeinsam zum Tanz gehen werden.“

„Oh, das trifft sich gut, Fräulein Keller. Ich habe noch nichts vor!“, antwortete Faust ironisch.

„Selbst wenn – Sie hätten es absagen müssen. Schließlich kann ich nicht allein in den Roten Elefant, oder?“

„Was zieht Sie denn bitte in ein derart anrüchiges Lokal, Fräulein Keller?“

„Sagen wir – das Publikum, Herr Faust!“

„Ausgerechnet!“, stöhnte der Polizeiagent. „Das ist so ziemlich das übelste Publikum der ganzen Stadt.“

„Mag sein. Aber es wird an dem Abend noch einen besonderen Gast geben. Da möchte ich dabei sein. Und das geht nun einmal nicht ohne männliche Begleitung. Charleston wäre für mich in Ordnung, Foxtrott mag ich nicht sonderlich.“

Damit war das Gespräch beendet. Faust hatte seine Taschenuhr herausgezogen und einen raschen Blick darauf geworfen.

„Zeit, mich zu verabschieden, Fräulein Keller. Wann wäre Ihnen meine Gesellschaft wieder angenehm?“

„Nicht vor zehn Uhr des Abends, wenn wir nicht sofort beim Betreten des Elefanten unangenehm auffallen wollen!“

Schon war sie wieder mit ihren Aufzeichnungen beschäftigt, die sie neben dem Mikroskop liegen hatte.

„Na, dann Adios!“, sagte Faust leise, ohne eine Antwort zu erhalten, nahm seinen Hut und verließ das Labor. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er sich viel zu viel von dieser jungen Frau gefallen ließ. Und natürlich war er wieder mit ihrem roten Sportwagen mitgefahren, anstatt sein eigenes Automobil zu benutzen. Missmutig machte er sich auf den Weg zur Jasperallee.

Dieser Loreley – wieso kann sie damit eigentlich durch die Gegend fahren? Gehört der nicht in die Asservatenkammer? Schließlich wurde das Fahrzeug von einem Verbrecher für seine Taten benutzt! Ich sollte mich mal erkundigen, unter welchen Umständen das gnädige Fräulein in den Besitz des Sportwagens kam!, überlegte Faust, als plötzlich ein Auto laut hupte und gleich darauf neben ihm anhielt. Verwundert sah er auf und blickte in das Gesicht seines Vaters, der die Tür zu seinem Opel Torpedo 8/25 geöffnet hatte. Sein Sohn fand den Wagen zwar angemessen für seinen Vater, aber schon 1921 war der Preis von hundertfünfzehntausend Mark viel zu hoch. Inzwischen war der Preis für das mit sechs Sitzen ausgestattete Modell sogar auf hundertsechsundfünfzigtausend Mark geklettert. Wenn sein Vater also sein eigenes Auto durch den Verkehr lenkte, dann war das mit einer besonderen Mission verbunden. Also stieg der Polizeiagent ein, sein Vater schaltete krachend und beschleunigte den Wagen auf der breiten Straße rasch und war wenige Minuten später in einer eleganten Kurve auf den Parkplatz hinter dem Präsidium gefahren, der nur für Dienstfahrzeuge vorbehalten war. Hier kannte jeder den Wagen des alten Präsidenten und wäre nie auf die Idee gekommen, ihn etwa nach seiner Berechtigung zu fragen.

„Wie kommst du mit Fräulein Keller voran?“, lautete die kurze Frage nach dem obligatorischen Räuspern. Sein Vater schenkte ihm einen kurzen Seitenblick, bevor er wieder durch die Frontscheibe des abgestellten Fahrzeugs starrte. Die Frage war durchaus doppeldeutig, und sein Sohn antwortete mit so gleichgültiger Stimme wie nur möglich: „Danke der Nachfrage, es geht sehr gut in unserem aktuellen Falle weiter. Fräulein Keller hat ein hervorragend eingerichtetes Labor mit den neuesten Geräten. Ich bin gespannt, zu welchem Ergebnis sie kommen wird.“

Sein Vater zog die Augenbrauen beachtlich in die Höhe, als er ihm das Gesicht erneut zudrehte.

„Du verlässt dich doch aber nicht nur auf ihre Ergebnisse, hoffe ich?“

Der Junior lachte fröhlich auf.

„Wo denkst du hin? Sie hat eigene Proben gesammelt, meine habe ich längst abgegeben und werde die Ergebnisse vergleichen. Aber, da du gerade bei der Dame bist – wieso hast du so ein Interesse an diesem alten Fall ‚Wilhelm Müller‘?“

Faust senior starrte wieder geradeaus, als er mit fast tonloser Stimme antwortete:

„Das war der erste Fall unter meinem Nachfolger, Thomas. Und damals gab es ein Gerücht, dem ich an seiner Stelle nachgegangen wäre. Es gibt immer noch Stimmen, die nicht schweigen, wenn man den Fall Müller erwähnt.“

„So? Nach so langer Zeit? Das wundert mich. Aber was war das für ein Gerücht?“, antwortete sein Sohn, wider besseres Wissen.

Der alte Herr antwortete mit fast tonloser Stimme.

„Ein großer Teil der Beute soll seinerzeit verschwunden sein.“

„Wie bitte? Davon habe ich noch nie etwas gehört!“

„Vielleicht mit Rücksicht auf mich. Ich war damals mehrfach bei Erich Bertram vorstellig und wollte ihn bewegen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aber er wimmelte mich immer wieder ab, sprach von einem Anfangsverdacht gegen die beiden Polizisten und davon, dass sie sich schließlich reinwaschen konnten, das Verfahren gegen sie wurde eingestellt.“

„Du sprichst von Gehrke und Hörstel?“

„Ja, Gehrke war damals Kommissar, Hörstel Inspektor. Beide waren schon mehrfach während ihrer Ermittlungen mit Wilhelm Müller zusammengekommen. Man verdächtigte ihn des mehrfachen Einbruchs. Bei einer Straftat kam es zu einer Schießerei, bei der ein Kumpan Müllers und ein Polizist erschossen wurden.“

„Das habe ich in den Unterlagen gelesen. Aber, wenn die beiden Kriminalbeamten unschuldig waren, wieso wurden sie dann später doch aus dem Dienst entlassen?“

Sein Vater sah ihn ernst an.

„Politische Gründe. Sie waren Mitglied im Stahlhelm. Und letztlich war alles zusammen zu viel geworden, man trennte sich von den beiden. Jetzt möchte ich dich ins Labor begleiten, um zu hören, was deine Spuren erbracht haben.“

„Wie du meinst. Vielleicht bist du erstaunt, was die Forensik inzwischen leisten kann!“

Anstelle einer Antwort ließ der alte Polizeipräsident nur ein Brummen ertönen. Auf dem Weg in die Kellerräume des Präsidiums konnte sich Faust junior nicht verkneifen, seinem Vater noch einen Brocken hinzuwerfen. An der Reaktion erkannte er, dass der alte Präsident nun alles daransetzen würde, Licht in den alten Fall zu bringen.

„Ich habe durch einen Zufall Unterlagen in die Hände bekommen, die ein vollkommen neues Licht auf den jungen Verbrecher Müller werfen. Und du wirst staunen, wenn du siehst, was der Mann damals bei der Schießerei bei sich führte. Aber ich kann mich jetzt nicht um diese alte Geschichte kümmern, die zudem ja auch durch den Tod des Betroffenen erledigt ist. Vorrangig gilt jetzt die Suche nach dem Mörder von Erich Bertram und seinen möglichen Hintermännern.“

Erneutes Brummen, dann stapfte der alte Präsident an seinem Sohn vorüber, der ihm die Tür aufhielt. Seinem entschlossenen Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn der alte Fall beschäftigte. Aber jetzt wollte er hören, was die Analyse der Spuren erbrachte.

 

„Was haben wir?“, rief Faust junior dem Mann zu, der ihm im weißen Laborkittel die Tür geöffnet hatte. Die Untersuchungen hier im Keller des Präsidiums waren nicht für alle bestimmt, nur wenige besaßen den direkten Zugang. Wer hier die Klingel betätigte, musste sich einen kritischen Blick durch das schmale und zudem vergitterte Türfenster gefallen lassen.

„Oh, Herr Präsident, welche Ehre!“, antwortete Bernd Kublai, Leiter der forensischen Abteilung. Er hielt den beiden Männern die Tür weit auf, und eilte dann zu einem Labortisch, auf dem neben zahlreichen Geräten auch eines der neuen Vergleichsmikroskope von Goddard/Gravelle stand. „Ja, es ist offenbar eine gute Qualität eines Bindfadens verwendet worden“, begann er dann seine Erläuterungen. „Ich habe mir das Vergleichsmaterial kommen lassen, es ist weitgehend identisch mit den Funden vom Tatort, die Sie mir gebracht haben!“

„Das hatte ich gehofft!“, antwortete der Polizeiagent. „Und konnten Sie etwas mit der Erde anfangen, die ich unter der Beleuchterbrücke fand?“

„Leider keine verbindliche Auskunft möglich, Herr Faust!“, antwortete Kublai achselzuckend. „Nichts anderes als gewöhnliche Erde, wie wir sie überall in der Stadt finden, an denen das Trottoir nicht verlegt wurde oder schadhaft ist. „Nur aus alter Gewohnheit habe ich auch eine Mahrsche Probe vorgenommen.“

„Eine Untersuchung der Erdklümpchen auf Gifte, Herr Kublai?“, warf der Senior ein.

„Das auch, Herr Präsident, und zu meiner großen Überraschung waren die Klümpchen stark arsenhaltig.“

„Vergiftete Erdkrumen – was soll ich mit dieser Information anfangen?“, wandte der Polizeiagent ein, aber bevor Kublai antworten konnte, unterbrach er ihn mit einer raschen Handbewegung. „Nein, halt, nichts sagen – ich glaube, ich habe eine Idee! Die arsenhaltige Erde stammt von einem Friedhof, richtig?“

Der Laborleiter lächelte.

„Zumindest kann das nicht ausgeschlossen werden, Herr Faust. Wenn Sie mir die Schuhe des Verdächtigen bringen, kann ich mehr dazu sagen. Vielleicht ist er erst kürzlich auf einer Beerdigung gewesen.“

Die beiden Männer neben ihm sahen sich an, dann nickte der Präsident.

„Ich glaube, wir vermuten beide das Gleiche, Thomas. Hast du noch Zeit, um mit mir zum Friedhof zu fahren?“

Sein Sohn zog erneut die Taschenuhr heraus, klappte sie auf und nickte.

„Michaelis-Friedhof?“

„Den meine ich. Ferdinand Lücke war schon 1921 aufgrund seiner Kontakte zu den Anarchisten und den Sozialisten unter Beobachtung. Und damals wohnte er in der Hugo-Luther-Straße.“ Der alte Polizeipräsident strich sich nachdenklich über seinen dunklen Delfs-Knebelbart. „Ich erinnere mich gut, dass man seinerzeit mehrfach aus der Bevölkerung nächtliche Besucher auf dem Friedhof bei der Polizei meldete. Man ging der Sache nach und fürchtete eine Störung der Totenruhe. Die Tür einer einfachen Familienkapelle stand offen, aber vermutlich hatte dort nur ein Obdachloser übernachtet. Man fand in der Umgebung einen Kriegsinvaliden, der ein Bein verloren hatte und bettelte. Beim Verhör räumte er ein, gelegentlich in der Kapelle genächtigt zu haben. Jedenfalls gab es keine Hinweise auf eine Straftat.“

„Und der dortige Friedhof ist alt genug, um eine von Arsen durchsetzte Erde aufzuweisen.“

Damit wollten Vater und Sohn den Raum verlassen, als sie nach einer Bemerkung Kublais noch einmal herumfuhren und den Laborleiter anstarrten.

„Kein Irrtum möglich?“, bellte der alte Präsident förmlich.

„Ausgeschlossen, Herr Präsident. Bei dem Bombenanschlag mit einem Paket auf die Post am Hagenmarkt wurde so eine Schnur verwendet.“

„Das wäre allerdings eine Sensation!“, bemerkte der trocken. „Die Folgen werden sehr weitreichend sein und sicher auch die höchsten Kreise erreichen. Nicht auszudenken, wenn die Presse davon Wind bekäme!“

„Ich denke, dass es sich um eine Schnur handelt, wie sie hundertfach überall verwendet wird, Herr Präsident!“, meldete Faust junior sich, aber sein Vater schüttelte energisch den Kopf. „Wir werden sehen, was die nächste Zeit ergibt. Ich möchte jetzt aber nicht mit dir zum Michaelis-Friedhof fahren. Es könnte gefährlich werden! Ich habe meinen privaten Revolver jedenfalls eingesteckt!“

Sein Vater musterte ihn kurz mit ungläubigem Blick, dann schüttelte er den Kopf, stieg in sein Auto und startete. So blieb dem Polizeiagenten nichts anderes übrig, als auf den Beifahrersitz zu steigen und darauf zu hoffen, dass der Besuch auf dem Friedhof zu dieser Tageszeit keine unangenehmen Folgen haben würde. Der Friedhof lag in der abgelegenen Hugo-Luther-Straße. Luther & Jordan oder kurz nur die Luther-Werke waren eine Fabrik für Mühlenbau, in den typischen Mietskasernen der unmittelbaren Umgebung lebten die Fabrikarbeiter in kleinen, einfachen Wohnungen und schlechten sanitären Bedingungen. Fast alle Häuser hatten noch die einfachen Plumpsklos auf dem Hinterhof, nur wenige der neu gebauten besaßen pro Etage eine Gemeinschaftstoilette im Treppenhaus, jeweils zwischen den Geschossen. Über dem gesamten Viertel hing ein unangenehmer Dauergeruch, eine Mischung aus ungewaschener Kleidung, Schweiß, Kohlsuppe und anderen Ausdünstungen, der sich noch beim Betreten eines der Häuser verstärkte und in den Kleidern hängen blieb.

Arndt- und Jahnstraße gehörten nicht gerade zur besseren Wohngegend. Und dahinter gab es weite, unbebaute Flächen. 1775 hatte man dort den Michaelis-Friedhof angelegt, und bei der Fahndung nach den für die Sprengstoffanschläge Verantwortlichen führte eine Spur direkt in die Arbeitergegend. Durch Beobachtungen stellte man eine erstaunlich rege Tätigkeit in den späten Nachtstunden in der Nähe des Friedhofs fest, und schließlich umstellte die Polizei das ganze Gelände und nahm tatsächlich ein paar Männer fest, die durch ihre mitgeführten Geräte mit den Anschlägen in unmittelbare Verbindung gebracht werden konnten.

Einer der Festgenommenen hatte in seinen Jackentaschen ein Bündel Zündschnüre, ein anderer Sprengkapseln, und der dritte Mann führte eine schriftliche Anweisung mit sich, die in verschlüsselter Form Anweisungen enthielt, die von den Experten eindeutig als Einsatzorte für die Anschläge entziffert werden konnten.

Sprengstoff fand man nicht, aber als die Kleidung der Festgenommenen untersucht wurde, ließen sich Spuren von Nitroglycerin und Kieselgur daran nachweisen. Beide Substanzen werden zur Herstellung von Dynamit verwendet. Die Täter waren überführt, die Hintermänner blieben jedoch zum großen Teil unerkannt.

Am Ende der Hugo-Luther-Straße hielt der alte Herr seinen Opel an und war im nächsten Augenblick schon ausgestiegen. Sein Sohn sah sich rasch um und entdeckte in einiger Entfernung einen Spaziergänger, der offensichtlich ebenfalls zum Friedhof wollte. Der Mann sah harmlos aus, wenn auch vielleicht eine Spur zu elegant für diese Gegend. Vater und Sohn gingen mit langsamen Schritten ebenfalls in die Richtung.

„Blumen! Frische Blumen für Ihre Liebsten!“, sprach sie eine unglaublich dicke Blumenfrau an, die so aussah, als würde sie jeden Moment vor der Friedhofsmauer mit dem wackligen Stuhl zusammenbrechen. Sie hatte vor sich einen alten und verbeulten Eimer stehen, in dem sich ein paar Nelken befanden, die so aussahen, als würden sie den heutigen Tag nicht mehr überstehen.

„Herr, nehmen ’se Ihren lieben Verwandten die letzten Blumen mit – ich mache Ihnen auch ’nen Sonderpreis!“, sprach die Dicke sie an. Sie hatte unter den Armen große dunkle Flecken auf dem billigen Stoff, aus dem ihr verschlissenes Sommerkleid geschneidert war. Auch lief ihr der Schweiß in kleinen Bächen die aufgedunsenen Wangen hinunter, obwohl es an diesem Tag nicht sonderlich warm war. Als der Polizeiagent einen kurzen Blick auf die unförmigen Beine der Frau warf, erkannte er, dass sie wohl an der Wassersucht (Oedeme) litt und dadurch ihr Körper zu diesen grotesken Formen aufgequollen war.

„Fuffzig Pfennige, der Herr, und ich gebe Ihnen alle dafür!“, sprach sie rasch weiter, als die beiden bei ihr stehen geblieben waren. Ohne ein weiteres Wort zog der alte Herr seine Geldbörse, gab der Frau eine Mark in die ausgestreckte Hand, ohne sie dabei zu berühren. Die Nelken nahm er selbst aus dem schon stark riechenden Wasser, ließ sie abtropfen, nickte der Blumenfrau freundlich zu und betrat den Friedhof.

Gerade wollte sein Sohn ihn auf das kleine Steinhaus hinweisen, in dem sich Geräte zur Grabpflege befanden, als der Präsident zur Seite trat und wie in tiefer Andacht den Kopf vor einem Grab in der Nähe der Umfassungsmauer neigte. Rasch trat der Polizeiagent neben ihn und vernahm die geraunten Hinweise, die sein Vater mit unbewegtem Gesicht flüsterte.

„Dreh dich nicht um, Thomas. Aber der andere Besucher ist zweifelsfrei Ferdinand Lücke. Er steht genau bei dem kleinen Steinhaus und tut so, als würde er dort eine Harke herausholen.“

Sein Sohn nahm ihm die Nelken ab, bückte sich über das Grab und drapierte sie vor dem Stein. Dabei nutzte er die Gelegenheit, einen Blick in die Richtung zu werfen, in der er das Steinhaus wusste.

Der Mann dort trug einen hellen, leichten Sommeranzug und einen Strohhut dazu. Er stützte sich auf einen kräftigen Stock und betrachtete interessiert das kleine Gerätehäuschen, dann wandte er sich ab und schritt den mit Kies bestreuten Weg zu einem weiter entfernten Friedhofsteil zu, wo ihn eine grüne Hainbuchenhecke den Blicken der beiden anderen entzog. Die Harke hatte er nach einem raschen Blick auf das Gerät zurückgelegt. Sein heller Anzug blitzte gelegentlich zwischen den Zweigen hindurch.

„Lass uns gehen, ehe er misstrauisch wird“, flüsterte Faust senior, und die beiden schlenderten ganz allmählich wieder zurück zum Ausgang. „Hinter der Hecke befand sich die kleine Kapelle, in der damals der Einbeinige übernachtete. Wenn Lücke dort zu tun hat, war damals vielleicht doch mehr hinter der Geschichte.“

Die Blumenfrau war nur wenige Schritte von ihrem Platz entfernt. Sie hatte den leeren Eimer neben den Stuhl gestellt und bemühte sich nun mit kurzen, wiegenden Schritten, den langen Weg zum ersten Mietshaus zurückzulegen.

Vater und Sohn fuhren zurück in die Stadt, parkten auf dem Hof des Präsidiums und gingen dann hinüber zum Bohlweg, um bei Café Tolle in aller Ruhe die Ereignisse zu besprechen.

„Wann wolltest du mir eigentlich berichten, was in dem Paket war, das du aus dem Waschhaus geholt hast?“, erkundigte sich der alte Präsident, nachdem beide ihre Zigarren entzündet hatten und den Rauch nach dem ersten Zug an die Decke bliesen.

„Herr Präsident, ich hatte schon angedeutet, dass der Inhalt des schweren Paketes eine Überraschung barg. Aber ich bin mit meinen Gedanken ständig bei dem aktuellen Fall und habe deshalb nichts weiter darauf gegeben. Ich denke mal, das Fräulein wird sich entsprechend kümmern, es ist ja ein Teil ihrer eigenen Arbeit, nehme ich an.“

Faust senior trommelte mit den Fingern der linken Hand ungeduldig auf der Tischplatte, zog die buschigen Augenbrauen hoch und als das alles seinen Sohn noch immer nicht dazu bewegte, seinen Fund zu beschreiben, fuhr er sich zweimal mit der Linken über die weißen Haupthaare, um dann den Delfs-Bart zusammenzudrücken. Sein Sohn musste schmunzeln, denn diese Zeichen zusammen genommen waren ein Alarmsignal – gleich würde der alte Präsident lospoltern. Aber der Polizeiagent kam ihm zuvor.

„Neben den persönlichen Dingen, die Wilhelm Müller zurückgelassen hatte und die von Gehrke vermutlich gefunden wurden, war in dem Paket ein dicker Brustpanzer etwa in der Art, wie ihn die Kürassiere benutzten.“

„Donnerwetter!“, entfuhr es seinem Vater. „Das könnte darauf hinweisen, dass Müller wusste, was ihm bevorstand! In dem Falle wäre eine Verbindung zu Gehrke und Hörstel nicht auszuschließen!“

Doch Faust junior blieb ganz gelassen, nahm einen weiteren, tiefen Zug von seiner Zigarre und stieß den Qualm in einer dicken, blauen Wolke aus.

„Oder er ist einfach auf Nummer Sicher gegangen, Herr Präsident. Ich hätte jedenfalls einen solchen Fall eingeplant, wenn ich einen Tresor im Kaufhaus ausrauben wollte! Noch dazu im Kaufhaus Frank, von dem jeder Straßenjunge wusste, dass man das Geld dort jeden Tag in einen Panzerschrank schloss!“

Vater und Sohn wechselten einen raschen Blick, dann nickte der alte Präsident und antwortete lapidar: „Ich glaube aber nicht, dass du so raffiniert gewesen wärst und dir über ein Liebchen einen Schlüssel für den Tresor besorgt hättest!“

Der Polizeiagent schüttelte den Kopf.

„Davon habe ich auch gelesen, aber eine Mitschuld der jungen Frau ist wohl ausgeschlossen! Dieser Wilhelm Müller hat sie doch als Geisel mitgenommen!“

 

Jetzt warf ihm sein Vater einen ironischen Blick zu und lächelte, als er antwortete:

„Junge, denk doch mal bitte scharf nach. Müller war mit dem Fräulein Elfie über längere Zeit ... liiert. Sie lebten zusammen, und das junge, verwöhnte Fräulein stammte aus einer guten Kaufmannsfamilie. Ihr Vater war Lieferant des Panzerschranks der Firma Braune & Roth, Leipzig. Er war damit auch verantwortlich für die Anlieferung, Aufstellung und künftige Wartung. Dazu bewahrte er von jedem verkauften Panzerschrank einen Schlüssel in seinem Heim – natürlich ebenfalls in einem Tresor.“

„Du hast eine erstaunliche Kenntnis der Dinge, Herr Präsident. Aber ich habe auch irgendwo gelesen, dass ein Anfangsverdacht gegen dieses ... Fräulein Elfie rasch wieder fallen gelassen wurde.“

Der alte Präsident lachte fröhlich auf.

„Ja, weil der Rechtsanwalt Dr. Eckebrecht die Interessen der Familie vertrat und der Lieferant, ein gewisser Bomfeld, eng mit meinem Nachfolger, Erich Bertram, befreundet war.“

„Interessant! Weiß das alles auch das Fräulein?“

Faust senior lehnte sich lächelnd zurück und schwieg.

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