Das Elend der Medien

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Orthodoxe, Heterodoxe und Häretiker in der Kommunikationswissenschaft

Dass ein orthodoxer Frame nicht zwingend ›richtig‹ sein muss, zeigt ein Blick auf den ›Ur-Frame‹ der Kommunikationswissenschaft, der mehr als nur Parallelen zum heutigen Desinformations-Frame aufweist: Wenn in einem Feld oder einer Gesellschaft Überzeugungen und Meinungen als selbstverständlich und offensichtlich gelten, spricht Bourdieu von einer Doxa84 – von einem nicht weiter hinterfragten Glauben, der sich auch unbewusst in Grundannahmen ausdrückt. Dem Desinformations-Frame liegen die westlichen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster des Kalten Krieges zugrunde. Man muss dazu nur Robert Entmans Buch Projections of Power lesen. Die Ikone der Framingforschung beschrieb 2004 vor dem Hintergrund der Anti-Terror-Maßnahmen nach dem 11. September 2001, wie US-amerikanische Medien und Eliten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Welt blickten:85 kommunistische Aggression mit der Intention, die Welt zu erobern (Problem), eine Ideologie, in der Atheismus mit einer totalitären Diktatur verschmilzt (Ursache), Wachsamkeit (Handlungsempfehlung) sowie die moralische Verurteilung der kommunistischen Seite, verbunden mit einer Idealisierung der Verbündeten in der ›freien Welt‹ (Bewertung).

TABELLE 1

Eine Doxa und vier Frames in der Kommunikationswissenschaft


Vgl. Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Konstanz: UVK 2004; Robert M. Entman: Projections of Power. Framing News, Public Opinion, an U.S. Foreign Policy. Chigago/London: The University of Chicago Press 2004; Nikolaus Jackob, Tanjev Schultz, Ilka Jakobs, Marc Ziegele, Oliver Quiring und Christian Schemer: Medienvertrauen im Zeitalter der Polarisierung. In: Media Perspektiven (5) 2019; Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C.H. Beck 2016; Siegfried Weischenberg: Medienkrise und Medienkrieg. Wiesbaden: Springer 2018

Faktisch war dieser Frame falsch. Der britische Historiker Eric Hobsbawm schreibt: Die Idee einer »gottlosen kommunistischen Weltverschwörung« halte keiner rationalen Analyse stand.86 Die öffentliche Hysterie um eine mögliche kommunistische Aggression half US-Präsidenten, die wiedergewählt werden wollten, und den militärisch-industriellen Komplexen auf beiden Seiten (Kollektiven von Menschen, die von der Vorbereitung eines Krieges lebten). Im »ideologischen Tennismatch« des kalten Krieges, so Hobsbawm, sei der apokalyptische Ton aus Washington gekommen.87 Wie zur empirischen Bestätigung im Detail zeigt Robert Entman für die 1980er Jahre eine »ziemlich hohe« Korrelation zwischen den Berichten der Washington Post über eine sowjetische Gefahr und der öffentlichen Unterstützung für höhere Militärausgaben.88

Erstaunlich ist: Das Framing-Konzept ist heute populärer denn je und hat im Fake-News-Zeitalter auch den Sprung aus der Kommunikationswissenschaft in die Öffentlichkeit geschafft. Aber nur in der Theorie. Die inhaltliche Medienkritik Entmans (große US-Medien framen weltpolitische Ereignisse konsequent west-seitig und erzeugen im Verbund mit der Meinungsforschung »öffentliche Stimmung«) diffundiert seltener mit. Wie es einem Journalisten geht, der nach medienkritischer Literatur sucht, beschreibt David Goeßmann89 in einem unserer Interviews so: »Es gibt hier und da mal eine Studie, dass es in der Berichterstattung über den Afghanistankrieg oder die Ukraine eine Schlagseite gibt. Aber das ist viel zu wenig Futter, um in der Öffentlichkeit klar zu zeigen, wo es falsch gelaufen ist.«

Dass die deutsche und die US-Kommunikationswissenschaft Herrschaft kaum infrage stellen, erklärt sich auch mit ihrer historischen Entstehung. In den USA war das Fach nach dem zweiten Weltkrieg von Subventionen der Regierung abhängig90 und führt bis heute ein Außenseiter-Dasein abseits der Ivy-League-Universitäten. Im Kampf um Anerkennung macht die Disziplin das, was in einem Feld Erfolg verspricht, das von den ›harten‹ Naturwissenschaften dominiert wird: zählen, messen, rechnen.91 In der Denktradition der Kommunikationswissenschaft geht es darum, Medien als Werkzeuge zu optimieren und nicht als Herrschaftsmittel zu hinterfragen. In Deutschland hat die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann das US-Paradigma an die Universitäten gebracht und politisch besetzt. Die Anhänger ihrer Mainzer Schule hatten mit der »empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende«92 deutlich bessere Berufungschancen als Vertreter der Frankfurter Schule – obwohl es bei Adorno, Horkheimer und Co. ausdrücklich um die ›Kulturindustrie‹ und damit auch um Medien geht.93

Jenseits der Historie gibt es weitere Gründe, warum die deutsche Kommunikationswissenschaft in der öffentlichen Debatte »merkwürdig still« ist: Die Forscher neigen dazu, die gesellschaftlichen Effekte von Medien kleinzureden, scheuen eindeutige Aussagen, weil ihre Analysen auf Komplexität angelegt sind, und halten sich auch deshalb lieber heraus, um ihre Kontakte mit Medienmachern und Öffentlichkeitsarbeitern nicht zu gefährden.94 Wenn man so will, ist dieser modus operandi die praktische Anwendung oder Umkehrung der in Mainz publizierten Theorie der Schweigespirale:95 Erst die öffentliche Meinung erforschen und sich dann nach der Mehrheit richten, um Ausgrenzung zu vermeiden. Dabei hatte Noelle-Neumann bereits 1973 in ihrem Aufsatz Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeit96 an die eigene Zunft appelliert: Sie könne nicht glauben, dass Medien keine Wirkung haben sollen oder nur so schwache, wie sie die Forschung bisher nachgewiesen hat. Starrt nicht nur auf die Empfänger der Botschaft, sagt die Gründermutter der Disziplin hier, sondern schaut euch auch die Kommunikatoren an – weil diese eine soziale Kontrolle erzeugen, die jeder spürt, der von dem abweicht, was die anderen für die Meinung der Mehrheit halten müssen.

Es gibt Medienkritik in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft. Punktuell etwa beim ersten Corona-Lockdown im April 2020. So lautstark, dass Werner d’Inka, von 2005 bis Ende März 2020 FAZ-Herausgeber, die Medienforscher Ottfried Jarren, Klaus Meier, Claus Eurich, Stephan Ruß-Mohl und Vinzenz Wyss der Lächerlichkeit preisgab. Zitat: Ihre Rügen »spotten jeder Beschreibung«.97 Auch unabhängig vom Thema Corona finden sich Forscher, die den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien nicht mit Wladimir Putin oder ungebildeten Bürgern erklären, sondern es für »nachvollziehbar« halten, »warum sich der Unmut des Publikums über die Massenmedien allmählich aufgebaut hat«: Siegfried Weischenberg zum Beispiel, Vertreter einer systemtheoretisch geprägten Journalismusforschung,98 oder Uwe Krüger,99 einer der Köpfe des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft.100 Als hätten sie Bourdieu im Ohr, gehen Weischenberg und Krüger ausführlich auf ökonomische und soziale Bedingungen des Journalismus ein. Weischenberg, von 1999 bis 2001 Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes, ordne ich dem Kommerzialisierungs-Frame zu, und Krügers Deutung nenne ich Mainstream-Frame. Beide dienen als Protagonisten, um heterodoxe und häretische Deutungen über das Elend der Medien zu skizzieren. Abschließend folgt die Deutung von Bourdieu.

Der Kommerzialisierungs-Frame

Bei Weischenberg »leiden« die Medien an der »amerikanischen Krankheit«.101 Damit ist die Kommerzialisierung des Mediensystems gemeint, die seit Einführung des Privatrundfunks in den 1980er Jahren in der politischen Kommunikationsforschung bis zum Aufkommen des Desinformations-Frames das dominierende Thema war.102 Als Folgen der ›Amerikanisierung‹ gelten Phänomene wie ›Horse-Race‹-Journalismus, Boulevardisierung, Sachthemenverlust, Personalisierung von Wahlkämpfen, die Demontage der Politik103 oder Politainment.104 Zu den Problemen, die mit der Kommerzialisierung des Mediensystems verknüpft werden, zählen auch die »langfristige Machtverschiebung zwischen Journalismus und Public Relations«,105 »stetig wachsende Lobby-Einflüsse«, »verstärkte staatliche Einflussnahme«, die »Verknappung des journalistischen Personals« und generell »schlechtere Arbeitsbedingungen« in den Redaktionen.106

 

Das ist das Thema von Siegfried Weischenberg, der ja einst eine Gewerkschaft leitete: Wie wirken sich die »entfesselten Medienmärkte« auf die Arbeit von Journalisten aus? Weischenberg beobachtet zum Beispiel »sinkendende Wahrhaftigkeitsansprüche« einer Journalisten-Generation, die »schnell was raushauen will.« Die Folgen: »fehlende Transparenz«, »inkompetente Berichterstattung«, »fehlendende Selbstreflexion«, »keine kritische Distanz zur Politik« sowie eine »Tendenz zur Pädagogisierung«. Statt das Verhältnis zu den Lesern zu überdenken, werde in den »Newsrooms« nur das aufgesaugt, was das Publikum auf digitalen Plattformen und den Forumsseiten der Medien »absondert«. Das Wenigste davon sei Journalismus – bei Weischenberg verstanden als »Kommunikation, die informiert und orientiert in unübersichtlichen Zeiten.«107

Dass Kommerzialisierung ein weltweites Medienphänomen ist, haben Daniel Hallin und Paolo Mancini 2004 in ihrem Buch Comparing Media Systems gezeigt.108 Und dass die Digitalisierung diesen Trend noch einmal verstärkt hat, habe ich selbst untersucht – in meiner Dissertation über Online-Journalisten in Argentinien, China, Deutschland und die USA. Selbst im Kommunismus made in Peking gehen Journalisten im Netz auf Jagd nach Klicks.109 Florian Rötzer, den wir für dieses Buch interviewt haben, hat Online-Journalisten schon kurz vor meiner Veröffentlichung als »epidemische Verstärker kollektiver Trends« beschrieben und befürchtet, dass die Vielfalt freien Marktes durch eine neue Form der sozialistischen Planwirtschaft ersetzt wird. Unsere Aufmerksamkeit, so Rötzer, werde in der schönen neuen Onlinewelt nur auf das gelenkt, was bereits Aufmerksamkeit gefunden hat«.110 Michael Meyen denkt dieses Phänomen noch einen Schritt weiter und sagt, dass die (kommerzielle) Medienlogik nicht nur Nachrichteninhalte verändert, sondern sich auch in unsere Lebensstile einschreibt. In seiner Lesart folgen wir auch in Kneipe, Religion, Museum, Universität, Militär, Familie oder beim Fußball dem Imperativ der Aufmerksamkeit.111

Bei Ruß-Mohl wird aus der Aufmerksamkeitsökonomie112 eine »Desinformationsökonomie«, angetrieben von der »pubertären Hybris weltumspannender Internet-Konzerne«.113 Auch Bundespräsident Steinmeier hat 2020 die »Logik der Plattformökonomie« verurteilt: Ihr treibendes Element seien die »größtmögliche Erregung« und der »größtmögliche Lärm«. Wenn es in der öffentlichen Kommunikation nur noch um Klicks, Likes und Shares gehe, so Steinmeier, dann sei eine Grundvoraussetzung der Demokratie bedroht.114 Weischenberg, Ruß-Mohl und Steinmeier, so lässt sich das zusammenfassen, werben für die traditionellen journalistischen Normen. Relevanz, Ausgewogenheit, Neutralität – am besten umsetzbar in einem starken öffentlichrechtlichen Rundfunk.115 Das ist die Handlungsempfehlung im Kommerzialisierungs-Frame. Und die Moral der Geschichte lautet: Böse ist die Quote, gut sind die Ideale des Journalismus. Mit ihrer Kritik an den ökonomischen Bedingungen des Journalismus befinden sich Medienforscher wie Weischenberg oder Ruß-Mohl im legitimen öffentlichen Bereich. Sonst hätte der Bundespräsident diesen Frame nicht benutzt. Uwe Krüger dagegen kommt der Rolle des Bösewichts, des Häretikers, der an Machtverhältnissen rüttelt, schon näher.

Soziale Bedingungen: Mainstream-Frame

Krügers Dissertation Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten wurde 2014 in der ZDF-Sendung Die Anstalt vor einem Millionenpublikum diskutiert. Durch eine Netzwerkanalyse zeigt Krüger, dass die Verbindungen zwischen leitenden Redakteuren der Leitmedien (SZ, FAZ, Zeit, Welt) und einem US- und Nato-affinen Elitenmilieu Effekte auf die außenpolitische Berichterstattung haben.116 Josef Joffe, Herausgeber der Zeit, verklagte das ZDF auf Unterlassung. Christoph Neuberger, einer der führenden Medienforscher, warf der Studie »mangelnde Wissenschaftlichkeit« vor.117 Das ZDF gewann allerdings den Prozess gegen Joffe vor dem Bundesgerichtshof und Krüger auch dadurch an Renommee.118

Uwe Krüger interessiert sich für die sozialen Bedingungen des Journalismus. Er zeigt zum Beispiel anhand der Ukraine-Krise von 2014, dass der deutsche »Meinungsmainstream« eine »Reihe an Falschinformationen« und »Schwarz-Weiß-Bilder« lieferte, »Putin-Versteher« als Verschwörungstheoretiker diffamierte, einen »frappierenden Gleichklang« bei bestimmten Themen aufwies und überhaupt nur ein »sehr enges Meinungsspektrum« spiegelte. Dabei kann er sich ebenfalls auf Frank-Walter Steinmeier berufen,119 der 2014 (noch als Außenminister) feststellte:

»Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.«120

Das führt direkt zum Indexing – zu einer Hypothese des US-Politologen Lance Bennett, auf die sich Krüger stützt. Bennett beobachtete in den 1980er Jahren, dass die großen Medien in der Regel nur das abbilden, was gewissermaßen offiziell im politisch-parlamentarischen Raum diskutiert wird. Das heißt: Wenn die Opposition zu einem Thema oder einer Position schweigt, kommt keine Kritik in die Medien. Kein Bericht, kein Kommentar. Obwohl Journalisten ›frei‹ sind, binden sie sich nach Bennett an den Diskurs in Parlament und Regierung, da sie auf diese Weise Ärger vermeiden und ihre Berichterstattung legitimieren können – sowie Ressourcen sparen.121

Uwe Krüger hat mehrere Themen genannt, bei denen sich die großen Medien seit den 2000er-Jahren an die Deutungsmuster der politischen Eliten klammern und nur Details kritisieren: die EU-Osterweiterung, die Einführung von Hartz IV oder die Finanzmarkt-Deregulierung. Der Journalismus falle folglich »als Frühwarnsystem für Fehlentwicklungen regelmäßig aus – und nach dem bösen Erwachen gibt es dann stets ein bisschen Selbstkritik in Branchenmagazinen und auf Medientagen.« In Krügers Ursachenzuschreibung sieht die massenmediale Wahrheitsproduktion so aus: Themen-Agenda und Meinungsspektrum geben die Eliten über informelle Absprachen auf einer politisch-medialen Hinterbühnen vor – für das »Gros der Berichterstatter« eine Art »Magnet«, an dem sie sich »wie Eisenspäne« ausrichten.122

Der Mainstream-Frame kennt eine zweite Ursache – ausformuliert von Noam Chomsky, der 1988 mit Edward Herman einen Meilenstein der akademischen Medienkritik veröffentlichte: das Buch Manufacturing Consent.123 Während die Indexing-Hypothese den Journalisten unterstellt, unbewusst oder freiwillig einer Art Daumenregel zu folgen, schaut Chomsky auf die Tiefenstrukturen des Journalismus.124 In seinem Propaganda-Modell kontrollieren die großen Medien keineswegs die Eliten, wie es auf einem »freien Marktplatz der Ideen«125 oder in der deliberativen Demokratie der Fall sein sollte, sondern organisieren Zustimmung. Bei Herman und Chomsky durchläuft jede Nachricht fünf »Filter«. Neben den Interessen von Medieneigentümern und Werbekunden, die antikapitalistische oder systemkritische Aussagen verhindern, ist hier vor allem auf die Macht der Quellen hinzuweisen (vor allem: Behörden und staatlich finanzierte Experten) sowie auf das Gegenfeuer, das sofort einsetzt, wenn doch einmal etwas durchrutschen sollte (»Flak«). Der Entstehungszeit (1980er-Jahre) geschuldet ist die Benennung des fünften Filters (»Antikommunismus«).126

In der Kommunikationswissenschaft nimmt Siegfried Weischenberg einige Elemente dieses Modells auf, wenn er »kungelnde Elite-Journalisten« und »Alpha-Tiere in der Medienwelt« beobachtet127, die auch mit Hilfe der PR-Branche eine »Medienrealität« kreieren, die sich immer öfter an »Pseudo-Ereignissen« und nicht an Wahrhaftigkeit orientiert. »Hier geht es um Macht und Einfluss, um Images und professionelle Tricks.« Trotzdem distanziert sich Weischenberg ausdrücklich von Chomsky. Von einer »gezielten Manipulation« könne keine Rede sein, weil die Menschen noch immer selbst entscheiden könnten, was sie glauben. Dass die großen Medien nicht die Ansichten der Mehrheit repräsentierten und deswegen die Empörung in der Bevölkerung wächst, erklärt er mit der »Selbstreferenz des Journalismus«: Die Medienmacher würden sich stärker an der Arbeit ihrer Kollegen orientieren als am »wahren Leben« der »normalen Bevölkerung«.128

Bei Uwe Krüger ist das homogene Milieu der Journalisten die dritte Ursache für das »Mainstreaming«. Marcus Klöckner hat ein sozial ziemlich homogenes Feld beschrieben, das vom »Habitus der Mittelschicht« dominiert wird und »auf Anpassung« sowie auf »Akzeptanz der Herrschaftsverhältnisse« programmiert sei. Bei Klöckner wird daraus eine »sozialstrukturell ausgeformte Zensur«.129 Zumindest seine Angaben zur Sozialstruktur lassen sich mit Daten belegen. 2005 (bei der letzten großen Repräsentativbefragung) stammten zwei Drittel aller Journalisten aus gut abgesicherten Angestellten- oder Beamtenhaushalten. Damals hatten rund 70 Prozent einen Hochschulabschluss (Bevölkerungsschnitt: 14 Prozent). Mehr als ein Drittel stand den Grünen nahe. Zum Vergleich: 2005 kam diese Partei bei den Bundestagswahlen auf fünf Prozent.130 Das homogene Milieu spiegelt sich in den Wohnorten: Viele Journalisten leben in bürgerlichen Vierteln wie Berlin-Prenzlauer Berg, Hamburg-Eppendorf oder München-Glockenbach. In der Medienrealität wird daraus ein rot-grüner oder »grüner Mainstream« mit den Leitlinien Multikulturalität, Vielfalt, Weltoffenheit, Toleranz, Gleichstellung und Gender-Mainstreaming. Zum »pluralistischen Relativismus« gehört, dass gleichzeitig alles abgelehnt oder sogar bekämpft wird, »was in diesem Sinne nicht ›politisch korrekt‹ ist.«131

Kurioserweise ist der Mainstream-Frame auf den ersten Blick gar nicht so weit weg von der Medienkritik aus der Mainzer Schule. Elisabeth Noelle-Neumann und Hans-Mathias Kepplinger zeigten bereits Mitte der 1970er-Jahre, wie sich die »Homogenität des Weltbildes der Journalisten« auf ihre Berichterstattung auswirkt.132 In dem Sammelband Angepasste Außenseiter sagt Kepplinger 1979, dass keine andere Berufsgruppe in politischen Fragen derart übereinstimme wie Journalisten. Selbst bei den Eliten im kleinen Mainz sei das Meinungsspektrum deutlich breiter. Als Ursachen für den »eng begrenzten Gruppenstandpunkt« nannte Kepplinger damals die Nachwuchsrekrutierung (Selbstselektion und »Kooptation«) sowie »komplexe Anapassungsmechanismen«. Journalisten seien links, weil sie sich (oft als Studienabbrecher und Langschläfer) gegen eine Karriere in Staat und Wirtschaft entschieden haben und somit »zweckrationale Entscheidungen« ablehnen.133 Noelle-Neumann-Schülerin Renate Köcher sprach wenig später von »Missionaren«.134

 

Diese Gemeinsamkeiten sind erstens deshalb kurios, weil sich Weltbild und Handlungsempfehlung unterscheiden. Wo Krüger Netzwerke sieht (Lobbyisten und Transatlantiker), beobachtet Nolle-Neumann 1978 auf einem Sommerfest eine »dunkle Gruppe, wie zusammengeballt« – der Journalismus als »geschlossene Gesellschaft«.135 Und wo Krüger Transparenz und Offenheit vorschlägt, um das Meinungsspektrum zu erweitern, setzt Noelle-Neumann auf kommerziellen Rundfunk.136 Das führt direkt zu zweitens. Uwe Krüger kommt von links und Elisabeth Noelle-Neumann von rechts. Während der eine die Nato- und US-Nähe der Journalisten thematisiert, arbeiten die anderen ihre »Russen«- und Kommunisten-Nähe heraus.137 Während Kepplinger kritisiert, dass sich Journalisten ihrer Verantwortung nicht bewusst sind sowie Wirtschaft und Staat ablehnen,138 spricht Krüger von einer »Verantwortungsverschwörung«139 der polit-medialen Eliten pro Staat und Wirtschaft. Weischenberg stellt in seinem Überblick zum Forschungsstand fest, dass viele Muster der Medienkritik regelmäßig wiederkehren: »Neu ist aber das Ausmaß der Wut vieler Menschen auf Journalisten des ›linksliberalen Mainstreams‹.«140 Was ist passiert?

Die Antwort steckt im Beginn dieser Einleitung: Die »Links«-Parteien in Frankreich (Sozialisten), Deutschland (SPD-Grüne), Großbritannien (Labour) und den USA (Demokraten) haben ab den 1990er-Jahren in Regierungsverantwortung die neoliberale, »rechte« Wirtschaftspolitik entscheidend vorantrieben. Blickt man in Deutschland auf die Nähe der Journalisten zur SPD in den 1970er-Jahren141 und den Grünen in den 2000er-Jahren142, dann lässt sich sagen: Sie haben nicht nur den Kurswechsel mitgemacht, sondern auch den gleichen gesellschaftlichen Aufstieg erlebt: vom Schmuddelkind der westdeutschen Nation zur Zeitgeist-Domina. Bourdieu spricht von einer Homologie der Lebenslagen, wenn Menschen mit ähnlichem Kapital ganz unabhängig von ihren Berufen die gleiche gesellschaftliche Position innehaben. Aus seinen Studien weiß man, wie eine vormals häretische Avantgarde nach ihrem Sieg im Kampf um Anerkennung die Herrschaftsmittel selbstgewordener Orthodoxie nutzt.143 Ein Beispiel: Gabor Steingart saß als Student Ende der 1980er-Jahre für die Grünen in der Marburger Stadtversammlung und trieb als Leiter der Spiegel-Wirtschaftsredaktion die Agenda 2010 voran. Die »Reform« lobpreist er später als Herausgeber des Handelsblatts und jetzt als Gründer der Plattform ThePioneer. Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, um ein zweites Beispiel zu nennen, wurde 1999 (mit Anfang 30) erst eine der jüngsten Professorinnen Deutschlands (in Münster) und dann 2001 Sprecherin von NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD). Den wirtschaftsliberalen Kurs von damals verteidigt sie heute als Herausgeberin der Wirtschaftswoche.