Das Elend der Medien

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Wie aus Elend Zukunft wird

Das Elend sei »vielgesichtig«, schreibt Bourdieu, »unformuliert« und »unformulierbar«. Manchmal drücke es sich mangels legitimer Mittel nur in Hass oder Wahn aus.26 Dieses Buch zeigt viele Gesichter des Elends der Medien. Wir sammeln schlechte Nachrichten für den Journalismus – gefunden bei Bürgern, Medienprofis am Rande des journalistischen Feldes und bei denen, die in der Nähe des Machtpols arbeiten und dennoch nicht nur Gutes zu sagen haben. Indem wir Medienkritik aus unterschiedlichen Feldpositionen in ihrer habituellen Verknüpfung darstellen, betreiben wir Ursachenforschung. Wo liegen die Wurzeln der Medien- und Demokratie-Malaise?

Für dieses Buch treiben uns ein Reformgedanke und der Glaube an den »transformativen Einfluss« von Wissen an. Mit Anthony Giddens gehen wir davon aus, dass Akteure (Medienmacher, Medienpolitiker, Mediennutzer) Strukturen (also Regeln für soziale Praktiken sowie Ressourcen) im Handeln nicht nur reproduzieren, sondern auch modifizieren können.27 In der Strukturationstheorie ist die Veränderung gewissermaßen eingebaut – im Unterschied zur herkömmlichen Mediensystemforschung, die Strukturen wie die Mediengesetzgebung, Aufsichtsbehörden, die journalistische Berufsideologie oder soziale Tabus eher als restriktiv konzeptualisiert.28 Bei Giddens schränkt Struktur Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch (Dualität von Struktur). Außerdem (das ist für den Wunsch nach Reformen wichtig, der dieses Buch trägt) existiert Struktur nicht »unabhängig von dem Wissen, das die Akteure von ihrem Alltagshandeln haben«: »Handelnde wissen immer, was sie tun« – auch wenn dieses Wissen möglicherweise auf der Ebene des praktischen Bewusstseins bleibt, Grenzen hat (»uneingestandene Bedingungen und unbeabsichtigte Folgen des Handelns«) und auf der diskursiven Ebene keineswegs immer adäquate Entsprechungen findet.29 Bourdieu formuliert das so: »Was die Gesellschaft hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit einem solchen Wissen gerüstet auch wieder abschaffen.«30 In Kurzform: Wir müssen ein Bewusstsein für Missstände schaffen, um das Negative im Sinne des Friedensforschers Robert C. Jungk31 sowie des US-Soziologen Erik Olin Wrights in »reale Utopien«32 zu verwandeln.

Warum es nötig ist, Kritik an Medien zu sammeln, aufzuschreiben und in den Diskurs zu tragen, zeigt der folgende Blick auf die Kommunikationswissenschaft und auf das dominante politische Narrativ. Die substantielle Kritik am Bestehenden ist leise – viel leiser jedenfalls als ein Deutungsmuster, indem allzu oft a priori programmiert ist, wer die Guten und wer die Bösen im »Medienkrieg«33 sind.34

Orthodoxer Desinformations-Frame: der Feind im Internet

Wie die Geschichte über das Elend der Medien gewöhnlich beginnt, lehrt exemplarisch eine Regierungserklärung von Angela Merkel vom 29. Oktober 2020: Öffentliche Kritik an den Corona-Maßnahmen sei unverzichtbar, so Merkel, »aber Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus.« Die Bundeskanzlerin definiert damit das Problem im öffentlichen Kommunikationsraum – so, wie es unabhängig von Corona dem herrschenden Narrativ der vergangenen Jahre entspricht. »Wir müssen lernen, mit Fake News als Teil der hybriden Kriegsführung umzugehen«, sagte Merkel 2019 bei der Einweihung der BND-Zentrale in Berlin.35 Den »Kampf gegen Desinformation« führt Deutschland auf EU-Ebene gemeinsam mit Frankreich. Die Regierung von Emmanuel Macron, einst liberaler Wirtschaftsminister der sozialistischen Partei, warf Russland 2019 vor, durch Falschmeldungen über die sozialen Netzwerke die Proteste der Gelbwesten anzuheizen.36 »Putins Medien«, wie Macron Sputniknews und Russia Today nennt, hätten bereits 2017 im Präsidentschaftswahlkampf sein Privatleben thematisiert. Nach dem Wahlsieg Macrons folgte Frankreich dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz und erließ ein ›Fake-News-Gesetz‹, das nach Einschätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung »nicht grundlos« als »Anschlag auf die Pressefreiheit« bezeichnet werden könne.37 Legitimiert wurde das mit einem guten Grund: mit Wladimir Putin und dem Elend der Medien.

Auch Frank-Walter Steinmeier sieht die Demokratie »unter Druck« (wegen alternativer Wahrheiten)38 und warnt vor einer »Zersetzung«. Allerdings gibt der Bundespräsident eine andere Handlungsempfehlung als Macron: Die Gesellschaft brauche seriöse Medien dringender denn je!39 »Die Demokratie ist angewiesen auf freie, unabhängige und wahrheitsgetreue Information«. Das digitale Umfeld sei nicht »freundlich«, weshalb sich der Qualitätsjournalismus noch auf unbestimmte Zeit gegen Verflachung, Verzerrung und Glaubwürdigkeitsverlust behaupten müsse.40

In dieser Erzählung von Merkel-Macron-Steinmeier steckt der hegemoniale Frame westlich-liberaler Gesellschaften über das Elend der Medien. Wenn man so will: die offizielle Version der Geschichte aus einer unendlichen Reihe von Deutungsmöglichkeiten. In einem Frame sind Facetten eines Ereignisses so verknüpft, dass sie beim Empfänger eine bestimmte Interpretation aktivieren. Eine Meta-Story, die sich in die Sequenzen Problem, Ursache, Handlungsempfehlung und moralische Bewertung unterteilen lässt.41 Was Entman »Frame« nennt, ist bei Bourdieu ein Standpunkt über die »legitime Sichtweise über die Dinge«. Anders als bei Entman schweben die Deutungsmuster hier nicht im »luftleeren Raum«42, sondern sind an Feldpositionen gebunden. Entman macht über die vier Frame-Sequenzen klar, wie eine »legitime Sichtweise« analysiert werden kann.

In der Soziologie von Pierre Bourdieu haben die Felder Politik, Wissenschaft und Journalismus eines gemeinsam: Alle drei Felder beanspruchen, über die legitime Sichtweise der Dinge zu verfügen. Mit ihren Konstruktionen der Wirklichkeit üben sie jeweils symbolische Macht aus. Die entsprechenden Kämpfe werden einerseits innerhalb der Felder ausgetragen und andererseits im sozialen Raum. Den Wettstreit um Deutungshoheit gewinnt, wer über das meiste ökonomische, kulturelle und soziale Kapital verfügt. Ein Standpunkt, der sich über die Feldgrenzen hinweg durchsetzt, gilt als orthodox. Es ist die Sichtweise der Wirklichkeit, die gesamtgesellschaftlich mindestens unbewusst als gesetzt gilt.43 Kurz: der orthodoxe Frame. Konkurrierende Sichtweisen in einer deliberativen Demokratie44 nennt Entman »counter frames«. Mit Bourdieu können die unterlegenen Standpunkte als heterodox oder als häretisch bezeichnet werden. Während es Vertretern von heterodoxen Sichtweisen darum geht, innerhalb einer bestehenden Ordnung mit ihrem Standpunkt eine höhere Position zu erlangen, wollen Häretiker die Kapitaldistribution insgesamt verändern.45

Ich nenne die Erzählung von Merkel-Macron-Steinmeier den orthodoxen Desinformations-Frame, weil sich diese Sichtweise über das Elend der Medien mit dem Mehrheits-Konsens in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft deckt. Stephan Ruß-Mohl spricht zum Beispiel von der »Pest der Desinformation«. Die ›Feinde‹ der informierten Gesellschaft sind in seiner Lesart »Populisten und Propagandisten«, die die Digitalisierung nutzen, um mit Fake News, Konspirationstheorien, Halb- und Viertelwahrheiten zu punkten oder Verwirrung zu stiften«.46 Wolfgang Schweiger verbindet die Ursache Desinformation mit dem Aufstieg von digitalen Plattformen und nennt als Probleme den Bedeutungsverlust journalistischer Nachrichten, eine sinkende politische Informiertheit, die schwache Diskursfähigkeit der Bevölkerung sowie eine Polarisierung der Gesellschaft.47 Diana Rieger versucht nachzuweisen, dass Internet-Propaganda rechtsextreme Positionen stärkt,48 Nikolaus Jackob sieht das Internet mit aggressiven Kommentaren und Verschwörungstheorien geflutet,49 und Thorsten Quandt befürchtet wegen der »Missinformation« im Netz gar eine »Populismus-Pandemie«.50 Diese Beispiele vom Machtpol der Kommunikationswissenschaft dürften hinreichend sein, um zu zeigen, dass hier der Frame ›Desinformation‹ vorherrscht. Mit Entman gedacht ist dies die Meta-Story, die sich mit leichter Varianz auf die moralische Bewertung einzelner Akteure überträgt.51 In einem solchen Deutungsprozess wird immer mindestens implizit bestimmt, wer die Guten sind und wer die Bösen.

 

In dem von 36 Forschern und Praktikern erstellten Handbuch Fake News, Framing, Fact-Checking steht die Argumentationskette zur moralischen Beurteilung gleich im Vorwort: Weil »nichtjournalistische Kommunikatoren« im Internet zum Sender »nachrichtlicher Informationen« werden, steigt die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Da sich Fake News erfolgreicher als seriöse Meldungen verbreiten, so heißt es im nächsten Kettenglied, führt das auch bei etablierten Medien zu einem Glaubwürdigkeitsverlust. Folge: »Lücken- und Lügenpresse-Vorwürfe« sowie pauschale Kritik an »Mainstream-Medien«, »Systempresse« oder »Staatsfunk«.52 Die Moral dieser Geschichte: Schuld sind ›nichtjournalistische Kommunikatoren‹. Böse. Gut sind dagegen traditionelle Medien.

Der Journalist und Soziologe Marcus Klöckner, den wir in diesem Buch ausführlich zu Wort kommen lassen, beobachtet im Feld des Journalismus einen tiefen Graben zwischen Vertretern großer Medien und ihren Kritikern auf den Plattformen des Gegendiskurses.53 In der orthodoxen Kommunikationswissenschaft wird diese Spaltung meist in den Gegensatz ›alternative‹ versus ›etablierte‹ Medien gegossen. ›Alternative Nachrichtenmedien‹ sind Thorsten Quandt zufolge Angebote, die sich als kritische Gegenstimme und Korrektiv zu journalistischen ›Mainstream-Medien‹ verstehen und vor allem online aktiv sind. In einem Aufsatz, der im April 2020 ohne Peer-Review veröffentlicht und von vielen Medien zitiert wurde, haben Quandt und sein Team Angeboten wie RT Deutsch, Sputnik, Compact oder den NachDenkSeiten vorgeworfen, in Sachen Corona Verschwörungstheorien zu verbreiten. Fazit: »Die Alternativmedien […] vermischen in ihren Veröffentlichungen das Leugnen des Klimawandels, die Flüchtlingskrise, Weltuntergangstheorien und das Coronavirus«.54 Diesen Befund kann jeder selbst prüfen und sich zum Beispiel die NachDenkSeiten ansehen. Man würde dann schnell sehen, dass es wenig Sinn macht, alle Alternativmedien und staatlich finanzierte Medien aus dem Ausland analytisch zu einer Kategorie zusammenzufassen.55 Der Frame allerdings ist in der Welt: gute Traditionsmedien, böse Alternative.

Glaubwürdigkeit als Kern-Merkmal journalistischer Qualität

Durch das orthodoxe Desinformations-Narrativ werden die Kriterien ›Vertrauen‹ und ›Glaubwürdigkeit‹ zum Goldstandard in der Beurteilung journalistischer Qualität. Die Glaubwürdigkeit des Journalismus sei »die Essenz unserer Demokratie«56 und Medienvertrauen eine »demokratische Notwendigkeit«,57 heißt es in der Kommunikationswissenschaft. Auch Bundespräsident Steinmeier machte Medienschaffenden bei einer Tagung zur politischen Streitkultur Mut (Zeitungen und öffentlicher Rundfunk würden in der Bevölkerung großes Vertrauen genießen, »bei gut 80 Prozent nach einer neuen Studie«)58 und weist damit den Weg, wie die Ergebnisse der entsprechenden Studien moralisch einzuordnen sind: Gut für die Demokratie sind hohe Werte.

Steinmeier kann sich auf einen Boom der quantitativer Glaubwürdigkeitsforschung stützen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten führen regelmäßig Umfragen durch, und in der Kommunikationswissenschaft stehen das Reuters Institute der Universität Oxford sowie die ›Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen‹ an erster Stelle. Das Mainzer Institut für Publizistik hat Steinmeier im März 2018 sogar besucht, um über Medienvertrauen zu diskutieren. Sein Urteil: »Hier wurde gute Arbeit gemacht, die gebraucht wird in der Demokratie.«59 Ergebnisse der Welle von 2019: Gut 40 Prozent der Befragten vertrauen den Medien und rund 30 Prozent nicht. Dazu kommen knapp 30 Prozent Unentschiedene. Damit sind die Zahlen seit 2016 »recht stabil«, was in den Pressemitteilungen als positive Nachricht für die ›etablierten Medien‹ kommuniziert wird. »Das Vertrauen in öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Tageszeitungen ist weiterhin hoch, die Werte für das Internet sinken«. Und: Nur bei »einer Minderheit verfestigt sich das Misstrauen gegenüber Medien«.60

Ist damit wieder alles gut in Deutschland? Hat sich das Elend der Medien erledigt? Nicht ganz. Folgt man der Mainzer Langzeitstudie, dann hat sich der Anteil der Unentschiedenen seit 2008 von 63 Prozent auf 29 Prozent halbiert.61 Das heißt: Immer mehr Menschen haben zum Thema Medienvertrauen eine klare Meinung. Die Forschergruppe ruft deshalb das Zeitalter der Polarisierung aus.62 Ein Befund, der Sozialwissenschaftlern, Meinungsforschern, Journalisten und Politikern gut in die Argumentation gespaltene Gesellschaft passt.63

An dieser Stelle kann es weniger um die methodischen Unstimmigkeiten hinter solchen Befunden gehen und auch nicht um die These, dass Umfragen zum Medienvertrauen allenfalls die Zufriedenheit mit dem gesellschaftlichen System messen und ansonsten vor allem denen helfen, die sie bezahlen. Es soll lediglich erwähnt sein, dass der Fokus auf Glaubwürdigkeit andere Kriterien zur Beurteilung journalistischer Qualität wie Relevanz, Transparenz, Vielfalt oder die Diskussion um den Objektivitätsbegriff verdrängt.64 Und: Durch die Vielzahl an Befragungen kann sich der forschende Interpret mittlerweile selbst aussuchen, ob er steigendes,65 sinkendes66 oder stabiles67 Medienvertrauen in Deutschland erkennen mag.

Wichtiger ist an dieser Stelle, wie die Studien interpretiert werden. Punkt eins, das sei hier wiederholt: Hohe Glaubwürdigkeitswerte gelten als gut für die Demokratie. Punkt zwei: Eine Zunahme an Ja- oder Nein-Antworten (und nicht: »weiß nicht«) steht für eine Polarisierung der Gesellschaft. Und Punkt drei: Auch in der moralischen Bewertung ist man sich einig. Es gibt »gerechtfertigte« und »konspirative« Medienkritik.68 Gerechtfertigte Medienkritik äußern »Medienskeptiker« – Menschen, die sich »intellektuell zurückhaltend« und »rational begründet« äußern. Gute Bürger. Medienzyniker69 dagegen unterstellen Politikern niedere Motive und sprechen von »Lügenpresse«. Diese »verächtlichabwertende« und destruktive Haltung habe, so kann man das in einem der Texte aus Mainz lesen, keine rational-wissenschaftliche Basis. Das Forscherteam weiß auch, wo (sozial und politisch gesehen) solche Medienzyniker zu finden sind: »höhere Präferenz für die politischen Ränder AfD und Linke; niedriges politisches Interesse; hohe wirtschaftliche Zukunftsangst; häufige Nutzung alternativer Online-Nachrichtenseiten; häufiges Lesen von Nutzer-Kommentaren sowie niedrigere formale Bildung.«70 Der Frame: Formal gebildete Personen sind gut und Ungebildete böse.71

Der herrschende Desinformations-Frame lässt sich folglich so zusammenfassen: Böse sind das Internet, autoritäre Kräfte, nichtjournalistische Kommunikatoren, Alternativmedien und Medienzyniker. In anderen Worten: Schuld an der Krise der Demokratie sind Wutbürger, die Putins Medien glauben. Diesen Befund dürfte eigentlich auch der Bundespräsident nicht gutheißen. Als Außenminister sagte Steinmeier 2014 zur ›Glaubwürdigkeitskrise‹ der Medien:

»Die einfachste Erklärung wäre: Der Leser ist schuld, der ist halt dumm und frech. Der kapiert nicht, wie gut die Zeitungen sind. Aber mit dem Leser ist es wie mit dem Wähler. Man kann sich über ihn ärgern, aber man sollte ihn nicht ignorieren und am besten sehr ernst nehmen.«72

Wenn in der psychologisch-quantitativ orientierten Kommunikationswissenschaft73 nach den Ursachen der Medienkrise geforscht wird, geht es zum Beispiel um die Frage, ob Zukunftsangst stärker als die wirtschaftliche Lage bestimmt, wer Medienzyniker wird und wer ›Medienfan‹ (Antwort: nicht ganz klar), oder darum, wo Verschwörungstheoretiker Gleichgesinnte finden. Antwort: im Internet.74 Nur in einem Nebensatz heißt es bei den führenden Medienvertrauensforschern Deutschlands, die den Forschungsstand bestens im Blick haben: »Bisher ist vergleichsweise wenig untersucht worden, was Menschen konkret an Medien kritisieren.«75 Damit ist zur Relevanz dieses Buches alles gesagt.

Verstehen mit Bourdieu

Die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen steht hier ›nur‹ pars pro toto für das, was Pierre Bourdieu an der Markt- und Meinungsforschung insgesamt kritisiert hat.76 Bourdieu hat eine Wissenschaft abgelehnt, die Menschen erst über sozial zugeschriebene Kompetenzen und statistische Wahrscheinlichkeiten definiert, anschließend den Tatbestand der ungleichen Verteilung feiert oder beklagt und schließlich die Merkmalsträger anklagend beschreibt. Eine solche Wissenschaft laufe Gefahr, zum blinden Instrument einer rationalisierten Form von Demagogie zu werden.77 Die ist beim Desinformations-Frame gegeben, weil dort die Gründe für die Medien- und Demokratiekrise nicht bei Politikern, Journalisten oder Kommunikationswissenschaftlern verortet werden, sondern bei autoritären Kräften im Internet und bei unwissenden Bürgern. Der Desinformations-Frame gleicht so dem, was der Politikwissenschaftler Philip Manow »Demokratiegefährdungsdiskurs« nennt – ein Diskurs, der »zuletzt so zugenommen« habe und die Demokratie selbst gefährde, weil er kaschiere, dass der Populismus nicht Ursache, sondern Folge der Krise der Demokratie ist.78

Dass Menschen, die nicht über das Machtmittel Bildung verfügen, weniger zufrieden mit den symbolischen Machtmitteln sind (zu denen die Massenmedien zählen), ist nicht nur das regelmäßig wiederkehrende Ergebnis der Meinungsforschung,79 sondern auch ein fast schon selbsterklärender Befund. Doch die Evidenz, »die in die Augen sprang«, war für Bourdieu nur der Ausgangspunkt. Eine Sozialwissenschaft, die unter die Oberfläche offenkundiger Tatbestände gehen wolle, müsse die primäre Wahrheit zertrümmern und an die »wirklichen Ursachen des Leidens« gelangen80 – an die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Feldes und an die persönlichen Beschränkungen der Befragten. An ihre legitimen Ansprüche auf Glück, an die Zwänge des Arbeitsmarktes, an offene Sanktionen, schulische Verdikte oder Klassifikationen.

Aus dieser Forderung leitet Bourdieu die verstehende Methode ab, an der sich auch dieses Buch orientiert. Schritt eins: die Perspektive des Akteurs einnehmen. Schritt zwei: seine Position einnehmen. Damit ein Wissenschaftler die Perspektive eines Akteurs einnehmen kann, muss er manchmal »den Schirm von nicht selten absurden, ja oft widerwärtigen Projektionen durchbrechen«.81 Das methodische Werkzeug heißt in der Formulierung von Spinoza: »Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen.«82

 

Mit der Position des Akteurs ist das positionsbedingte Leid gemeint, das sich aus seiner Stellung im sozialen Raum ergibt. Dabei geht es um das absolute Gewicht seines ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitals sowie um die Beziehungen zu anderen Akteuren. Mit der verstehenden Methode ist die Hoffnung verbunden, eindimensionale Bilder durch eine komplexe, mehrdimensionale Vorstellung zu ersetzen – zugunsten einer Pluralität der Perspektiven, direkt konkurrierender und auch widersprüchlicher Standpunkte, die in der Gesamtschau eine große Not ergeben.83 Es geht in diesem Buch also nicht darum, das spezifische Elend der Medien zu untersuchen (etwa: sind die Medien glaubwürdig oder wer wird Medienzyniker), sondern um die vielen kleinen Nöte mit den Medien, die mit einer bestimmten Position im sozialen Raum einhergehen: als Ostdeutscher in einer westdeutschen Redaktion, als bayrischer Liedermacher im öffentlichen Kreuzfeuer, als Afrodeutsche ohne Chance, je die Tagessschau zu sprechen, als Mensch, den manche als Wutbürger bezeichnen würden, oder als westdeutscher Großbürger, der jede illusio in Sachen Medien verloren hat.

Um diese Menschen im sozialen Raum verorten zu können, sollen zunächst die ökonomischen und sozialen Bedingungen des journalistischen Feldes in Deutschland skizziert werden. Dazu nutze ich zwei weitere Frames, mit denen die Kommunikationswissenschaft das »Elend der Medien« erklärt, sowie Bourdieus Blick auf diesen Gegenstand (vgl. Tab. 1) – »counter frames« oder heterodoxe und häretische Sichtweisen.