Milchstraße

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Z serii: EDITION BLAU
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»Her damit!«

Das Bett quietscht. Ich versuche, seine Finger zu lösen. Aus dem Wohnzimmer droht Elvezia, uns die Ohren lang zu ziehen, wir sollen sofort aufhören.

Dann gebe ich auf, sein Griff ist eisern. Keine Chance.

Ich höre meinen Freund lauthals lachen und sehe, wie er mit dem Fläschchen wedelt, sehe die Bläschen der Kondensmilch und die roten Linien auf dem Plastik.

Stehe als Weichei da.

Ich positioniere mich neben dem Eingang der Bar und behalte die Ankommenden im Auge. Ein langweiliger Sonntagnachmittag ohne Sonne. Den Ball habe ich unter den Arm geklemmt. Von Zeit zu Zeit schaue ich hinein, das Gesicht an die Scheibe gedrückt. An der Wand hängt eine schwarze, rechteckige Tafel mit der Tabelle und den nächsten Begegnungen. Ich sehe die weißen, in Rillen befestigten Buchstaben. Die Meisterschaft der fünften Liga. Heute haben wir ein Heimspiel, aber der Sportplatz ist ein paar Kilometer entfernt. Ich warte auf die Abfahrt der Mannschaft, auf jemanden, der mich mitnehmen kann.

Es ist eine abenteuerliche Partie, der Platz eine Zumutung – überall Löcher und Steine, Schlamm, das Gras steht hoch, Sägespäne vor den Toren. Ich schaue von oben zu, zusammen mit anderen Kindern aus dem Dorf. Hinter dem Tor steigt man ungefähr zwanzig Meter auf eine erdige Fläche hinauf. In der Mitte eine Holzbank.

Beschimpfung des Schiedsrichters, neunzig Minuten lang:

»Arschgesicht!«

Gelbe und rote Karten wie Konfettiregen.

»Vollpfosten!«

So viele Tore!

»Hundesohn!«

Ich werde gut unterhalten, auch wenn unsere Mannschaft nur eine einzige Angriffstaktik kennt: den langen Ball zum rechten Flügel – zu unserem sogenannten Bomber. Auf seine Schnelligkeit ist Verlass, nur die wenigsten Verteidiger sind imstande, ihn aufzuhalten. Oft bringen sie ihn nicht einmal zu Fall.

»Runter mit ihm!«, hört man die gegnerischen Fans am Rande des Spielfelds schreien.

Aber er fällt nicht, und der Ball klebt ihm am Fuß.

Die Verteidiger werden überrannt.

Wir gewinnen.

Es ist langweilig hier, vor allem morgens. Meine Mutter und ihr Freund schlafen ewig. Hier habe ich niemanden zum Spielen.

Ich gehe ins Wohnzimmer und lege mich aufs Sofa.

Wie soll ich mir bloß die Zeit vertreiben?

Ich stöbere in den Schubladen. Papiere, Umschläge, Fotoalben, eine vierbändige Göttliche Komödie, Zierdeckchen, Teegeschirr und weiterer Kram. Im Fach unter dem Fernseher finde ich Videokassetten. Ein paar sind auf Arabisch angeschrieben, andere Etiketten sind leer. Ich greife zufällig eine heraus, stecke sie in den Videorekorder, schalte ihn ein und lege mich wieder hin.

Das lächelnde Gesicht eines Manns in Nahaufnahme. Der Bildausschnitt wird größer. Er ist nackt. Ich betrachte seinen Körper. Den schwarzen Busch um sein Geschlecht. Eine Frau kniet vor ihm und streichelt ihn vom Bauch zu den Schenkeln, vielleicht kratzt sie ihn auch.

Noch eine Nahaufnahme des Gesichts, der Mann schließt die Augen und flüstert in einer mir unbekannten Sprache. Arabisch ist es nicht.

Jetzt legt die Frau ihre Lippen an das Geschlecht des Manns. Sie küsst es und beginnt zu lecken. Um besser sehen zu können, trete ich näher an den Bildschirm heran. Ich drehe lauter. »Nimm sofort die Kassette raus!«, kreischt meine Mutter.

Das Klassenzimmer ist dasselbe, auch die Bänke stehen gleich. Ich habe mir den Platz gleich beim Lehrerpult ausgesucht. Dort sitzt der Lehrer und korrigiert Hausaufgaben. Ich sehe seine nervöse Hand, die ihm auch mal ausrutschen kann, wenn er wütend wird, und den einschüchternden dichten, braunen Bart. Er trägt ein helles Hemd. Meine Klassenkameraden sehe ich nicht, weder vor noch neben mir.

Ich schreibe einen Aufsatz. Ich wünschte, die Italienischstunde endete nie, oder dass mir der Lehrer erlauben würde, zu Hause weiterzumachen. Rastlos gleitet der Füller übers Papier. Seite um Seite. Inspiriert von Die tollen Fußball-Stars, aber auch von den Berichten auf Telelombardia und anderen Sportsendern, schreibe ich über ein unvergessliches Spiel. Ich verwende Ausdrücke wie »er flitzt über den ganzen linken Flügel«, »die Nerven liegen blank«, »ein Wunder von einem Torhüter«. Lasse Protagonisten und Situationen meiner Lieblingszeichentrickserie neu aufleben, genauso irre wie der Katapultschuss der Tachibana-Brüder und der Tigerschuss von Kojiro Hyuga. Es macht mir Spaß. Ich bin beim Elfmeterschießen angekommen, werde rechtzeitig fertig.

Auf dem weißen karierten Papier prangt ein lächelndes Gesicht, das der Lehrer in die untere Ecke gezeichnet hat.

Ich freue mich.

Die Piazza ist wie verwandelt. Im Schatten der Kiefer an der Mauer, wo sonst Autos parken, hat man den Kochherd und die Buvette aufgebaut. Ich sehe die roten Gazzosa-Kisten, den Kühlschrank, die Brotkörbe und den dunklen, dampfenden Topf. Die mit Plakaten tapezierte Mauer. Die Lautsprecher. Auf dem ganzen Platz stehen Holztische und Bänke.

»Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag Ja…«

Ich fische den Geldschein, den ich von Elvezia bekommen habe, aus meiner Umhängetasche, kaufe ein Getränk und beschaffe mir Besteck. Sitze mit den anderen Kindern am Tisch. Wir amüsieren uns. Warten, bis wir an der Reihe sind.

»Hörst du La Montanara? Die Berge, sie grüßen dich …«

An das Telefongespräch mit meiner Mutter und an ihre Ermahnungen erinnere ich mich erst, als sie mir den Teller reichen. Es sei ein ekelhaftes Tier. Wusstest du, dass es seine eigene Kacke frisst?

Ich frage, ob ich den Risotto auch ohne die Würste haben kann, per piasé, bitte schön.

Sie wollen wissen, warum. Verblüfft, fassungslos. Gibt’s so was? Immer diese Extrawürste. Ich hätte sie doch bisher immer gegessen, und zwar gerne. Ich denke an die Kacke. Behaupte, ich hätte keinen großen Hunger. Sie erwidern im Chor:

»Gib Ruhe und iss!«

Während ich zum Tisch zurücklaufe, betrachte ich die Würste. Beschnuppere sie. Ich denke an die Worte meiner Mutter. Es steht in unserem Heiligen Buch geschrieben, dem Koran. Ich bin unentschlossen. Frage mich, ob ich in der Hölle landen werde, welche Bestrafung mich erwartet.

Auf dem Asphalt ein schlecht gemaltes Himmel-und-Hölle.

Ich setze mich hin und esse alles auf.

Um meinem Ärger Luft zu machen – wohl weil Inter verloren hat –, gehe ich nach draußen. Ich knalle den Ball gegen das Garagentor, immer wieder, von nah und sogar von ganz nah, um das Ächzen des Holzes zu hören und weil ich will, dass der Ball, der zurück vom Tor quer über die Einfahrt fliegt, hinter mir an der Rückseite der Mauer abprallt und wieder bis vor meine Füße rollt. Kein leichtes Unterfangen, denn der Schuss muss kräftig sein, aber gerät er zu hoch, trifft er nicht die Mauer, sondern das Metallgitter darüber und wird abgefälscht.

Plötzlich taucht ein Auto auf. Der Ball prallt gegen die Vordertür. Der Fahrer bremst – eine richtige Vollbremsung –, es kommt zum Stehen. Der Ball fliegt hoch hinaus, springt auf, rollt weg. Ich befürchte, das gab eine Beule. Wie gelähmt bleibe ich stehen, starre auf die Autotür und warte darauf, zurechtgewiesen zu werden.

»Hab ich dir den Fußball kaputt gemacht?«, fragt er betroffen.

Elvezia hakt den Stab ein, öffnet die Luke und lässt die Leiter herunter. Ich höre, wie das Holz die Schiene herabgleitet. Schaue hoch. Sie drückt dagegen, um sich zu vergewissern, dass sie hält, mahnt zur Vorsicht, ich solle keine Dummheiten machen. Dann hängt sie den Stab wieder an den Haken. Katzenfuttergeruch. Ich klettere nach oben.

Da steht die braune Truhe, verkratzt und löchrig. Unter dem Deckel, den ich nur mit Mühe hochheben kann, finde ich die eingebundenen Primarschulhefte. Ich sehe die zerknitterten, mit Malfarben beklecksten Umschläge. Meinen Namen darauf. Sonst erkenne ich nicht viel mehr, nur einen zerfransten Teppich, verknitterte Tücher, Spinnweben, Staub und ein paar Balken. Durch das Klappfenster aber kann ich ein Stück Himmel sehen. Vom anderen Fenster aus einen großen Teil des Dorfs, wie Bäume und Felder verschwimmen. Durch die offene Luke die Küche.

Ich rufe nach ihr.

Elvezia schaut hoch.

Die Dachbalken, ständig stoße ich mich.

Von oben nach unten, lachend, die wundersamen blauen Augen weit aufgerissen. Er sagt, er würde es uns jetzt zeigen. Ohne jede Verlegenheit, ganz unbefangen lässt er die Hosen herunter. Und zeigt uns seinen braunen Flaum.

Er beginnt zu masturbieren.

Sein Penis ist prall, ein paar Venen sind angeschwollen. Er kommentiert die Bilder, die über den Bildschirm flimmern:

»Das ist eine spanische Massage.«

Cus’è?

Wir sind zu dritt, sitzen auf einem dunkelbraunen Sofa, seine Füße liegen auf dem Tischchen.

Das Wohnzimmer ist riesig, die Möbel sehen teuer aus. Hinter uns eine breite Fensterfront, die auf einen blühenden Garten geht.

Jetzt reibt er schneller, so wie wir mit dem Joystick, wenn die Athleten laufen und Medaillen gewinnen sollen.

Ich schaue auf seinen Penis, sein hochrotes Gesicht, den Schweiß, der ihm den Hals hinunterrinnt, den Fernseher.

Was ist los? Er stößt einen kurzen, spitzen Schrei aus, und ein milchiger Strahl ergießt sich über seine Beine. Ein paar Tropfen fallen auf die Fliesen.

Es ist keine Pisse. Warum?

Er bricht in ein lautes Lachen aus und fragt uns, ob wir gut hingeschaut hätten. Er scheint stolz auf die Reichweite seines Strahls zu sein. Wortlos lachen wir mit. Er fährt mit der flachen Hand ein paarmal über seinen Schenkel, dann springt er auf und läuft ins Bad.

 

Kommt mit einer Rolle Toilettenpapier zurück. Kniet nieder und wischt auf.

Wir sind selten bei der Sache, sitzen in der zweiten oder dritten Reihe, am Fenster mit Blick auf den Sportplatz. Die Rollläden sind halb heruntergelassen. Im hinteren Teil des Klassenzimmers stehen keine Bänke. Dort sehe ich Schränke und ein Waschbecken. Der Lehrer schreibt an die Tafel und erklärt Mathe. Immer wieder gibt er ein seltsames Geräusch von sich, wenn er durch die Nase ausatmet und den Mund dabei zuhält. Er trägt eine Brille mit eckigen Gläsern.

Ich halte das eine Ende des Füllers zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand, mit der Rechten ziehe ich am anderen Ende wie bei einer Steinschleuder, dann lasse ich los, und Tintenkleckse landen auf dem Blatt meines Tischnachbarn.

Wir amüsieren uns.

Jetzt ist der Moment gekommen, aufzustrecken und am Unterricht teilzunehmen. So sieht der Lehrer, dass ich interessiert bin.

Ich frage ihn, warum einige der U auf dem Kopf stehen. Er verzieht den Mund zu einem spöttischen Lächeln und nickt, legt die Kreide in die Rille unter der Tafel und kommt auf mich zu. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verspricht nichts Gutes. Mit dem Ellbogen überdecke ich die Kleckse auf dem Blatt.

Er bleibt nicht vor unserem Pult stehen, sondern dahinter.

Warum?

Ich blicke zu ihm. Er ist eindeutig wütend. Lächelt nicht mehr. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Er zischt durch die zusammengebissenen Zähne. Ich spüre seine linke Hand an meinem Kopf, die rechte liegt auf dem Genick meines Banknachbars.

Eine Runde Ohrenziehen? Eine Abreibung?

Nein, er verpasst uns eine Kopfnuss. Es tut höllisch weh, wir winseln. Doch es bringt nichts: Der Lehrer holt ein zweites Mal aus. Wir schaffen es, Widerstand zu leisten, Nein zu sagen, uns seinem Griff zu entziehen.

»A vereinigt mit B!«

Er ist rot und hat abgerundete Ecken. Ich nehme den Hocker, stelle ihn schräg in die Mitte des Zimmers und klappe die zwei Tritte heraus. Breitbeinig nehme ich auf dem zweiten Platz. Ich verfolge die French Open: Es spielt der unausstehliche Ivan Lendl. Neben dem Fernseher steht ein rechteckiger Spiegel. Weil dort meine Videospiele aufgestapelt sind, sehe ich mein Spiegelbild nicht.

Da kommt Elvezia. In der Linken hält sie das Besteck und eine Stoffserviette. In der Rechten das Mittagessen – eines meiner Lieblingsgerichte: panierte Pouletstücke mit Rösti. Inklusive Salatblatt und Zitronenschnitz. Sie stellt den Teller auf den oberen Tritt und reicht mir Messer und Gabel. Dann fragt sie, was ich trinken möchte.

»Tè frecc, Eistee«, sage ich, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

Sie geht in die Küche und füllt das Glas.

Das Publikum stört. Lendl protestiert.

Die Tante kommt mich besuchen. Auch heute hat sie mir ein Geschenk mitgebracht. Zu mir ist sie immer besonders nett. Sie zieht das Paket aus der Plastiktüte. Da stehen wir, vor der Anrichte.

»Ich hoffe, sie gefallen dir«, höre ich sie sagen.

Es ist leider kein Videospiel. Das sieht man schon an der Schachtel.

Meine Mutter und Elvezia sitzen am Tisch und beobachten uns. Ich rieche Kaffee und sehe Zigarettenrauch. Nehme das Geschenk und mache es auf, versuche dabei, das Papier nicht zu zerreißen.

Ein Paar Schuhe.

»Na?«, die Tante will sogleich wissen, ob sie auch dieses Mal ins Schwarze getroffen hat. »Die sind total modern.«

Ich finde sie grässlich. Weiße Ellesse mit grünen Punkten und Fransen. Sehen aus wie für Mädchen. Alle würden mich auslachen, wenn ich damit rumliefe, vor allem hier im Dorf.

Ich weiß nicht, ob ich es sagen soll. Elvezia nickt begeistert und sagt: »Wirklich schön.«

Die Frühlingssonne scheint. Ich renne gegen den Wind. Das blaue T-Shirt – die Nummer elf – bauscht sich auf.

Wir treten gegen die Tabellenführer an. Liegen zehn zu null im Rückstand. Sie sind technisch und konditionell stärker. In den Zweikämpfen, bei den Kopfbällen, im Antritt – sie dominieren das Spiel. Und geben sich nicht zufrieden. Greifen weiter an, unnachgiebig, gierig. Sie wollen Tore. Alle, auch die Verteidiger. Ihr Goalie rückt bis zum Strafraum vor.

Unser Trainer ruft uns Anweisungen und Befehle zu, fuchtelt mit den Armen.

Der Schiedsrichter hat gepfiffen: Elfmeter. Ein kleiner Trostpreis für diese Schmach. Die Gegner protestieren, der des Fouls Beschuldigte ist fuchsteufelswild. Einige meiner Mitspieler bieten sich an, strecken die Hände in die Höhe, wollen auf sich aufmerksam machen.

Der Trainer sagt meinen Namen.

Ich bin nicht erschöpft, aber wie gelähmt – der Schiedsrichter muss den Ball auf den Elfmeterpunkt legen. Sie haben den Ersatztorhüter eingewechselt, ich mustere ihn: die Mütze in die Stirn gezogen, blonde Haarbüschel, die an den Seiten hervorstehen. Schmächtig, sogar etwas kleiner als ich. Ich messe mit Blicken den Raum um ihn herum ein.

Der Ball fliegt im hohen Bogen über die Latte. Ein Fehlschuss, der hinter dem Tor aufschlägt.

Unter der Dusche weine ich.

Da ist zuerst das Blatt Papier voller Sterne auf dem Tisch: Einige sind schwarz, andere grün. Ich ziehe eine waagrechte Linie nach rechts, fahre nach links runter, rechts wieder hoch, in die gleiche Richtung runter und nochmals hoch, bis ich wieder am Anfangspunkt bin. Fünf Zacken, fünf Spitzen, fünf Dreiecke. Einige davon sind aber unregelmäßig geworden, unterscheiden sich in Form und Größe. Das Fünfeck in der Mitte wird zu groß.

Ich gerate durcheinander, komme vom Weg ab, und der Stern schließt sich nicht.

Neben dem Blatt liegen Farbstifte.

Dann sind da ihre Finger. Das funkelnde Gold, die glatte, gebräunte Haut. Die Armreifen.

Ich schaue auf. Meine Mutter sagt, ich müsse aufpassen, der Marokko-Stern habe nur fünf Zacken, nicht sechs wie der israelische.

Sie nimmt einen blauen Filzstift und malt einen sechszackigen Stern. Das ist eindeutig einfacher: Man muss bloß zwei gleichseitige Dreiecke übereinanderlegen. Ich probiere es auch, mit Grün.

Sie sagt, dass unserer grün sei, der israelische blau. Blau auf weißem Grund. Ich male ein Quadrat rot aus und lasse in der Mitte ein weißes Kreuz, das Schweizerkreuz.

Das Blatt ist voller Sterne und Kreuze.

Wer auf einer der Bänke sitzt, sieht die Berge, die Felder und die Straße, die zum Dorfplatz führt. Diejenigen, die mit dem Rücken zum Geländer stehen, haben die Hauptstraße im Auge.

Vom Balkonende aus kann ich sie sehen. Ich sehe sie und rufe: »Uela lì!«

Ich stoße zu ihnen. Es ist ein Treffpunkt geworden, vor allem in der warmen Jahreszeit, nach dem Abendessen.

Sobald wir etwas hören – Stopp –, verstummen wir und versuchen zu erraten, wer da kommt. Mittlerweile kennen wir jedes Geräusch. Fremde brettern hier selten vorbei. Besonders faszinieren uns die schweren Motorräder. Sie bremsen erst kurz vor der Kurve ab, genau auf der Höhe unseres Bänkchens, schalten einen Gang zurück, neigen sich, geben dann Gas, und das Motorrad richtet sich wieder auf. Die Biker schrecken vor nichts zurück, nicht einmal vor dem Postauto. Manchmal nicken oder winken sie uns zum Gruß zu. Wenn sie keinen Helm tragen, können wir sie lächeln oder sogar rauchen sehen. Wir unterhalten uns, wir Jungs über die Motorräder, die Mädchen über die Fahrer. Oder wir tratschen.

Sie wollen wissen, aus welchem Grund ich nicht bei meiner Mutter lebe.

Mir wurde erklärt, dass sie sich nicht um mich kümmern konnte, weil sie arbeiten musste. Ich sage es ihnen.

»Und was ist mit deinem Vater?«

Wir essen in einem Nobelrestaurant am See. Heute Abend durfte ich es aussuchen.

Ich sehe das Tagliolini-Nest mit Sahne. Wir sprechen über Fußball. Der Bekannte meiner Mutter erklärt mir, wie das von Arrigo Sacchi entwickelte Vier-vier-zwei-System funktioniert. Er sagt, dass Milan ein kleinmaschiges Rechteck bilde, das sich nach einem bestimmten Mechanismus hin- und herbewegt. Sie decken den Raum ab, greifen zu dritt an, erobern den Ball und spielen ihn schnell nach vorne. Eine ganz neue Art, auf dem Feld zu stehen. Ein Schauspiel mit erstklassigen Darstellern: Baresi, Gullit, Van Basten …

Doch ich kann es nicht ertragen, dass jemand von Milan spricht, als wäre es die beste Mannschaft auf dem Planeten, mit den besten Spielern und dem besten Trainer. Deshalb stimme ich eine Lobeshymne an auf die Paraden von Zenga, die Klasse von Scifo und die Tore von Altobelli. Er erzählt auch von seiner Firma, von seiner Frau und den zwei Töchtern, vor allem von den Töchtern. Sie besuchen beide das Gymnasium.

Nach dem Essen steckt er mir jedes Mal unter dem Tisch augenzwinkernd eine Hunderter- oder Fünfzigernote zu.

Er hat graue Haare, erste Anzeichen einer Glatze.

Als wir uns verabschieden, gibt er meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn.

Das Hin und Her geht weiter. Es herrscht ein Wahnsinnsverkehr. Ein schöner Frühsommerabend. Ich lehne am Geländer. Es ist noch hell.

Ein Pinzgauer taucht auf. Wir wollen Kekse. Und rufen:

»Biscuits! Biscuits!«

Die Soldaten werfen uns mehrere Packungen zu. Wir teilen sie untereinander auf.

Einer sagt, er wird sich ausmustern lassen. Weil man im Morgengrauen aufstehen muss. Weil man marschieren und den Zucchini gehorchen muss. Er wird es wie sein Cousin machen: Tickt man aus, wird man freigestellt, sie schicken dich zurück nach Hause. Ein anderer hingegen kann es kaum erwarten, einzurücken, wie Rambo Granaten zu werfen, wie Tackleberry das Gewehr zu schultern.

»Und du?«

Ich? Ich schüttle den Kopf, winke ab. Ich bin doch kein Schweizer. Ich habe den marokkanischen Pass. Kein Militärdienst. Was mir eigentlich recht ist.

»Auch nicht unten in Marokko?«

Meine Mutter hat mir erklärt, dass diejenigen, die im Ausland leben, nicht einberufen werden. Gott sei Dank. Sie hat mir nämlich auch gesagt, dass man dort in die Wüste in den Krieg geschickt wird. In den echten.

Nach der Kurve beschleunigt sie. Die Straße ist eng, aber übersichtlich. Jedes Mal schaue ich zu den Häusern meiner beiden Freunde – die blauen Gardinen, das Garagendach, der Gitterzaun, die beiden Gärten. Wenn alles frei ist, schert sich meine Mutter wenig um die Fahrspur. Sie fährt schnell und sicher, in gutem Abstand zu den Mauern. Ich höre die automatische Gangschaltung.

Ein grauer, mit Bordcomputer ausgestatteter Audi. Ein Torpedo.

Da ist die Bushaltestelle, das Regendach, die Hecke, das Gittertor, der Eingang, die Rutsche – oder ist es eine Schaukel? – die unverputzte Fassade die kleinen Fenster der Spielplatz die grünen Hänge.

Schnell geht es bis fast zur Sägerei hinunter, da muss man vor einer Kurve bremsen.

»Vor lauter Kurven dreht sich mir fast der Magen um«, beklagt sich meine Mutter.

»J’ai mal à l’estomac«, leiere ich herunter, »t’as mal à l’estomac …«. Dann werde ich abgelenkt. Denn die Französischlektion interessiert mich gar nicht. Nicht die Bohne, würde Elvezia sagen.

In den Sommerkurs Lingue e Sport habe ich mich nur eingeschrieben, um Tennis spielen zu können und mich mit meinen Freunden zu amüsieren. Wir sitzen den Vormittag ab, warten, bis wir uns endlich austoben können.

Ich sehe die roten Backsteine jenseits des Klassenzimmers. Den Schnauz des Lehrers. Den langen Korridor, durch den wir hinausströmen, sobald die Pausenglocke klingelt.

Der Boden ist grün. Blau der Rahmen meines Schlägers. Es weht ein nerviger Wind, der die am Zaun befestigte Plane bewegt und den Flug des Balls abfälscht. Trotzdem mache ich nur wenige Fehler.

Ich gewinne oft. Der Stoppball gelingt mir am besten. Ich spiele einen Ball mit starkem Rückwärtsdrall, der wieder in meine Spielfeldhälfte zurückspringt.

Die Tennislehrerin zieht einen imaginären Hut.

Ein einziger Scheinwerfer beleuchtet die Bühne. Vergnügt schaue ich den Faxen des Gorillas zu. Neben mir sitzt der Bekannte meiner Mutter. Sie ist draußen geblieben.

Von Zeit zu Zeit werfen wir uns komplizenhafte Blicke zu.

Was ist denn jetzt los? Plötzlich gerät der Gorilla in Rage und biegt die Gitterstäbe auseinander. Er kommt aus dem Käfig, direkt auf das Publikum zu. Ich überlege nicht lange, springe von meinem Platz auf und renne die Treppe hinunter zum Notausgang.

Bin als Erster an dem Rettung versprechenden grünen Schild. Ein Sicherheitsmann steht dort, hochgewachsen und stämmig. Die Arme vor der Brust verschränkt, sagt er Nein und grinst.

 

Es ist abgeschlossen. Immer wieder rüttle ich am Türgriff, ziehe daran. Es schubst von hinten, ich drehe mich um.

Ein Junge schreit, man solle endlich aufmachen.

Dann merke ich, dass die meisten Zuschauer sitzen geblieben sind. Und die Vorstellung vergnügt genießen.

Der Gorilla hat sich in Luft aufgelöst.

Vor dem Ausgang will meine Mutter wissen, ob ich hereingefallen bin. Ich kann nicht lügen.

Der Ball wird langsamer, s’ciao, na endlich. Ich entspanne mich, betätige den Joystick sogar mit der Rechten, schaue mich um, denke an was anderes.

»Primiera!«, rufen die Männer.

Beim Kartenspiel beschimpfen sie sich immer. Sagen, dass sie sich den Settebello sonst wo hinstecken können.

Der Fernseher ist aus. An der Theke wird ein Boccalino nach dem anderen geleert.

»Esel!«

Ich rieche Pfeifenrauch.

»Trottel!«

Manche bleiben beim Hocker stehen, um den Stummel im Aschenbecher auf dem Spielautomaten auszudrücken, andere, um dem Videospiel zuzusehen und mir zu gratulieren. Sie sagen, ich hätte eine unglaublich gute Reaktion. Sie könnten den Ball nicht einmal sehen.

Das Raumschiff dehnt sich aus.

Ich sammle Leben, bestehe das Level. Der Boss macht mir keine Angst, ich weiß, wie ich ihn mithilfe der Laserkanonen besiegen kann.

Das Quietschen von Stühlen auf den Fliesen. Der Rauch wird dichter.

Ich gewinne das letzte Gefecht und fange wieder von vorne an.

Das Rätsel ist gelöst: Die Zehn, die sie sich auf die Schuhsohlen gemalt hat, ist meine Position in der alphabetischen Reihenfolge der Klasse. Das bedeutet, dass ich ihr gefalle. Ich bin aufgeregt. Stelle mir vor, wie sie mich küsst. Wieder blonde Haare, diesmal gelockt. Schneeweiße Haut. Ein kleines Muttermal auf der Wange. Doch vor allem beeindrucken mich der Jeansminirock und die langen, nackten Beine.

Die Freundin, die als Botin fungiert, sitzt wartend auf der Mauer. Kaum sieht sie mich aus dem Schulhaus kommen, springt sie runter, läuft auf mich zu und stellt mir die langersehnte Frage.

Ich tue so, als müsste ich erst ein paar Sekunden überlegen.

Ja.

Auf Zehenspitzen schleichen wir uns heran. Mit jedem Schritt wächst die Aufregung. Wir haben keinen Plan. Rechts steht ein grauer Mercedes. Links eine Treppe, die zum Garten führt. Wir gehen geradeaus. Stehen vor der Tür. Schauen uns an. Und jetzt?

Mein Freund drückt auf die Klingel, läuft weg und jault auf wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten ist. Einige Sekunden lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, bis mir klar wird, dass ich gar nicht weiß, was ich sagen, wie ich mich verhalten soll. Also laufe auch ich weg. Hinter dem Auto ist eine Hecke. Dort verstecke ich mich, niedergekauert, den Kopf gesenkt.

Das Schloss surrt. Ich höre, wie die Tür aufgeht, Schlurfen auf dem Kachelboden.

Durch die Blätter hindurch sehe ich bloß den unteren Teil des Körpers bis zu den Hüften. Der Vater meiner ersten Freundin fragt, wer dort hinten sei.

Da hängen sie, die dicken, groben Seile, von einem Sonnenstrahl beleuchtet. Es ist eng, voller Spinnweben, staubig. Mein Freund steht im Halbdunkel. Im Lichtkegel sehe ich seine ausgestreckten Arme. Mit der linken Hand fasst er entschlossen das eine Seil. Den rechten Arm angewinkelt, blickt er prüfend auf die Zeiger seiner Armbanduhr. Dann beginnt der Unterricht.

»Campanón e campanìn«, mit der Rechten zeigt er erst auf die große Glocke und dann auf das kleine Glöckchen. »Zieh an diesem Seil da.«

Ich schaue nach oben, um zu verstehen, bis wohin sie reichen. So lange und so dicke, grobe Seile habe ich noch nie gesehen. Oben ragen sie bis in den Himmel, während sie sich unten fast über den ganzen Fußboden schlängeln.

Die Aufregung steigt.

Es sieht kinderleicht aus, aber trotzdem habe ich Angst, die Aufgabe nicht zu meistern, nicht stark genug zu sein. Ich greife mit der linken Hand nach dem Seil und ziehe es ein wenig nach unten.

»So?«

Er verneint, ich solle beide Hände nehmen, sonst sei es nicht zu schaffen. Ich befolge seinen Rat und versuche einzuschätzen, wie viel Kraft ich aufwenden muss.

Ich kann das. Wische mir den Schweiß ab und schaue auf die Uhr.

Dreimal, ermahnt er mich, wehe, ich mache einen Fehler.

Gleich ist der Moment da. Mein Freund tritt zur Seite. Ich greife das Seil mit beiden Händen und ziehe mit aller Kraft, runter runter …

»Gut so, zieh!«, ermutigt er mich. »Tira ammò!«

Doch jetzt zieht das Seil mich, und zwar nach oben, verflixt, und ich weiß nicht, ob ich festhalten oder loslassen soll. Keine Zeit zum Überlegen. Ich halte fest. Und hebe ab, höher und höher, wie viele Meter mögen es sein? Er flucht leise, ich solle ja nicht loslassen.

Als ich wieder lande, stoppt er schnell das Seil. Jetzt ziehen wir zusammen und müssen uns dabei fast hinknien. Ich soll loslassen, schreit er.

Ich lasse los. Jetzt bleibt er am Seil hängen und wird hochgezogen. Ich weiche aus, damit er nicht auf mir landet. Das Kruzifix rutscht ihm aus dem Hemd. Dann ist er wieder unten, geht noch einmal in die Knie und lässt los. Am Boden hockend, erschöpft, als wäre er eben einen Marathon gelaufen, schafft er noch die nötigen Handgriffe, dass die Glocke kein viertes Mal schlägt. Dann spuckt er auf ein Spinnennetz.

Es ist drei Uhr.

Ich würde es gerne nochmals probieren. Man darf einfach nicht vergessen, loszulassen.

Der Lehrer verlässt die Seitenlinie und geht zur Bank, wo ein Kollege mit einer anderen Gruppe Jugendlicher beschäftigt ist. Er will ihn auf meine Fortschritte aufmerksam machen, die wirklich beachtlich sind, wenn man bedenkt, dass ich erst seit kurzem spiele, und das nur einmal die Woche.

Meine Schläge sind gut, flüssig und präzise.

Kurze Jeans, schwarze Stulpen, ein buntes T-Shirt und ein Bandana: ich bin angezogen wie André Agassi. Es ist Sonntagmorgen. Zwischen zehn und zwölf. Der Sand ist rot. Der Platz am See mit der Nummer zwei.

Die Flugbahnen, sagt einer von ihnen, sind typisch Linkshänder.

Ich sehe sie nicken.

Jetzt warte ich vor dem Tor des Klubs auf meine Mutter.

Diese paar Höhenmeter machen den Unterschied. Die Erkennungsmelodie hallt in meinem Kopf nach. Ich denke an die Erzählungen meiner Klassenkameraden, male gedankenverloren Figuren vor mich hin. Alle sehen sich das an, sprechen immer darüber. Erdbeere und Zitrone. Sie schon und ich nicht. Ananas und Mandarine.

Die haben’s gut.

Ich will mich nicht damit abfinden. Vor dem eingeschalteten Fernseher probiere ich jede noch so kleine Verschiebung aus. Ich stelle die Antenne auf den Apparat. Auf die Kommode. Öffne eine Schublade und lege sie hinein. Halte sie in den Händen. Drehe sie hin und her und her und hin. Wische den Staub ab, liebkose und verfluche sie.

Ich brauche eine bessere. Ich werde meine Mutter fragen.

»Und wieder heißt es Cin cin … Herzlich Willkommen zu Tutti Frutti

Dampfender Milchkaffee, eine Packung Orangensaft, ein Haufen Msemmen, allerlei Gebäck, Croissants, ein Baguette, La vache qui rit, ein Päckchen Butter, Aprikosenmarmelade und hart gekochte Eier.

Das Frühstück bei der Großmutter.

Sie lächelt mir zu, sagt etwas, das ich nicht verstehe. Versucht es nochmals. Ich schaue sie ratlos an. Sie gibt auf und zeigt auf die Bank. Meine Mutter und die Verwandten schlafen noch.

Ich beginne Marmelade auf ein Msemmen zu streichen. Die Großmutter ermahnt mich: »Suchun!«

Das bedeutet heiß, jetzt weiß ich es. Ich muss warten, sonst verbrenne ich mir die Zunge.

Eile mit Weile, würde Elvezia sagen.

Ich sehe zwei Männer mit den Armen fuchteln, einer um die fünfzig, der andere jünger, beide ärmlich gekleidet. Sie treten auf die Fahrbahn und winken: Sie wollen einsteigen.

In unser Taxi?

Der Fahrer bremst, blinkt und fährt rechts ran. Der Ältere der beiden beugt sich vor und streckt den Kopf ins Auto. Genervt sagt die Tante etwas. Er gibt in gleichem Tonfall zurück. Dann wendet er sich an den Taxifahrer. Sie führen ein hitziges Gespräch, über die Destination oder den Tarif? Es klingt, als hätten sie Streit. Warum?

»Yalla!«

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