Milchstraße

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Z serii: EDITION BLAU
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Es ist einer jener Sommernachmittage, an denen die Sonne den Asphalt zum Glühen bringt und es besser wäre, bei geschlossenen Fensterläden zu Hause zu bleiben. Eine Bruthitze. Aber ich will es versuchen – ich habe es ihr versprochen –, will zu ihr fahren.

Ich radle über die Brücke und bereite mich auf den steilsten Abschnitt vor. Beschleunige. Hier spenden Berge und Bäume Schatten. Ich drücke den Schalthebel herunter und nehme den letzten Kilometer zum nächsten Dorf in Angriff. Das Atmen fällt mir immer schwerer, ich spüre die Anstrengung vor allem in den Beinen, ein wenig auch in den Armen. Ich sporne mich selbst an, mache mir Mut, nicht aufzugeben. Heute will ich nicht absteigen und schieben.

Ich bin oben. Kann wieder Luft holen, mich aufrichten, in den zweiten Gang schalten.

Beim Hinunterfahren kitzelt der Wind auf meiner Haut. Ich brauche nicht mehr in die Pedale zu treten. Kann den Moment genießen. Ich muss nur auf die Schlaglöcher und die trockenen Kuhfladen aufpassen. Bilde ich mir das bloß ein, oder ist sie es …

Ein langer, blonder Zopf, die schon hervortretende Wölbung ihrer Brust …

Tückische Kurven, hoch und runter, kleine Pause, um mich zu erholen und einen Schluck Wasser zu trinken.

Vergebens. Weil kein Hund bellt, das Auto nicht auf dem Parkplatz steht, alle Rollläden heruntergelassen sind.

Es ist eine feste Verabredung zwischen uns geworden. Ich richte die Antenne für das optimale Bild, rufe Elvezia und lege mich wieder hin. Ich höre, wie ihre Zoccoli über den Teppich schleifen, auf den Fliesen und dann auf den Holzdielen klappern.

Die Fensterläden sind geschlossen. Der Fernseher taucht mein Zimmer in schummriges Licht.

Da kommt sie. Ich ziehe die Decke weg, damit sie es sich auf der Bettkante gemütlich machen kann.

Ihr Gelächter, das oft in Hustenanfälle übergeht. Vor allem die Komiker haben es ihr angetan, Zuzzurro e Gaspare und D’Angelo mit dem Lied Has Fidanken. Den Ohrwurm von Greggio hingegen, wenn er sagt cerrrto che è lui, kann sie nicht ausstehen. Sie schüttelt den Kopf und kommentiert:

»Skandalös! … Du Trottel! … Makkaroni! … Esel!«

Ich mag die Showgirls, am meisten Tini Cansino.

Irgendwann schlafe ich ein.

Dieses Weiß kenne ich! Wie weiß das Mattglas ist! Ich laufe durch den Korridor und reiße die Tür auf. Die Schneeschicht, die sich über Nacht gebildet hat, ist fast so hoch, wie ich groß bin. Der Hof ein unüberwindbares Hindernis. Ich sehe die Spitzen der Gitterstäbe, die Gartenmauer aber nicht. Von der Fußmatte aus atme ich die reine Luft ein. Frage mich, wie man jetzt wohl zur Postauto-Haltestelle kommt.

Ich rufe Elvezia, sie soll sich das ansehen.

Weil sie mich nicht hört, gehe ich zu ihr in die Küche.

Sie habe es schon gesehen, sie werde sich später ums Schneeschaufeln kümmern, sagt sie.

Wie das?

»Es pressiert nicht«, beruhigt sie mich. Die Schulen bleiben heute sowieso geschlossen.

»Was?«

Dann breche ich in Jubel aus, als hätte Kenta Johansson den Puck ins Tor gepfeffert.

Ich laufe über die roten Fliesen, vielleicht gehen wir in Zweierreihen. Links die Stufen zur Ecke, wo wir uns bei Regen die Pausen mit unserer Art Hockey vertreiben: Auf dem glatten Boden rutschen wir auf den Knien herum, in der Hand einen Pantoffel, der unser Schläger ist, und versuchen, den Gummiball zu treffen. Zur Rechten eine Reihe von Garderobenständern, die oft für ein anderes Spiel gut sind: Sobald die Pausenglocke klingelt, darf keiner mehr mit den Füßen den Boden berühren, sonst ist man tot, hat verloren.

Wir gehen die Treppe hinunter, auch hier sind die Fliesen rot. Hinter der Glasfront der Sportplatz, noch einmal Stufen, der Wald, ein Himmelsstreifen.

Ganz hinten, da, wo es auf den Korridor unserer Klasse geht, schaltet man besser das Licht ein, bevor man um die Ecke biegt, wegen der zweiten, engen Treppe ohne Fenster.

Es soll ein Holzauto werden. Ich hasse Laubsägearbeiten. Mir gelingt keine gerade Linie, der Rand wird wellig, unsauber. Sofort tut mein Handgelenk weh.

Ich rufe den Lehrer und bitte ihn, mir zu helfen.

Wenn er an meinem Brettchen herumwerkelt und erklärt, wie ich vorgehen muss, kommt mir immer derselbe Gedanke: Soll er dieses Auto doch alleine fertig machen, dann wird es sowieso schöner.

Ich springe vom Holzschuppen herunter und bringe mich in Stellung, sodass ich alles überblicken kann. Sie winken mir zu, ich soll kommen, rudern mit den Armen, ermutigen mich. Jetzt ist der richtige Moment.

Ich laufe über den Kies. Renne, so schnell ich kann, durch die Arkaden hinunter auf die Piazza. Es ist fast geschafft. Die Befreiung naht, Einzelne wagen schon kleine Schritte in Richtung der abgehenden Straßen.

Ich schieße kräftig – ohne die geringste Angst, mir wehzutun – mit dem linken Fußrist. Die Büchse fliegt, kreist und kreist und landet im Brunnen. Ich höre den dumpfen Aufprall, die Freude jener, die davonlaufen.

Freiheit für alle!

Motorengeräusch. Die übliche halbe Stunde Verspätung. Sie hält an, hupt zweimal und fährt weiter.

Als sie bei der Post gewendet hat, stehe ich bereits auf der Hauptstraße und erwarte den weißen Range Rover.

Wir lassen das Ortsschild hinter uns. Die Straße verläuft eben bis zur Brücke, zwischen dem Grün und dem Grau der Felswände. Dann beginnt sie anzusteigen und macht beim Schießstand eine scharfe Kurve. An der grauen Mauer haben unachtsame oder waghalsige Autofahrer Spuren hinterlassen – schwarze Streifen, zerbrochene Backsteine.

Ich blicke zur verlassenen Autowerkstatt. Sehe die Plakate am Holztor: Chilbi, Tombola, Fußballspiele.

Und manchmal passiert es, dass man genau dort, wo die Straße eng ist, dem Postauto begegnet. Wir halten den Atem an. Schweißtropfen perlen meiner Mutter von der Stirn, sie schaut sich unruhig um, macht ruckartige Bewegungen, dreht die Musik leiser und flucht auf Arabisch. Ich versuche ihr zu helfen und passe auf, dass sie der Leitplanke nicht zu nahe kommt.

Der Busfahrer bedankt sich und grüßt.

Ohne zu wissen, wo ich bin, wache ich mit einem Fuß auf dem Kissen auf. Ich mag dieses Bett nicht, so groß, so hart, so tief. Das Zimmer mag ich auch nicht, obwohl es viel größer ist als meins. Es gibt keinen Fernseher, keinen Schrank. Nur einen Nachttisch, einen Garderobenständer und einen Spiegel. An der Wand eine Fototapete mit einer exotischen Landschaft – kristallklares Ozeanwasser, Palmen und Sand. Es ist das Gästezimmer.

Ich habe Hunger. Schlüpfe in meine Hausschuhe und gehe zum Zimmer meiner Mutter. Die Tür steht weit offen.

Sie liegt auf der Seite zusammengerollt da, den Kopf auf dem Arm, hat das Bettlaken ganz für sich alleine. Ihr Freund hingegen liegt in Unterhosen, die Beine ausgestreckt, auf dem Rücken. Im Spiegel der Schranktür sieht man den Hund. Auch er schläft.

Ich gehe um das Bett herum, tippe meiner Mutter auf die Schulter und flüstere ihr zu, dass ich Hunger habe.

»Wie spät ist es denn?«, murmelt sie und reibt sich die Augen. Was sie sagt, verstehe ich nicht, vielleicht bittet sie mich, noch zehn Minuten zu warten, vielleicht schläft sie wieder ein.

Meine Hände zittern auf dem Ruder. Die Wasseroberfläche glitzert im Sonnenlicht, der See liegt ausgebreitet zwischen den grünen Hängen. Der Freund meiner Mutter kontrolliert die Geschwindigkeit und gibt mir die Richtung an.

Ich höre seinen strengen, leicht unzufriedenen Tonfall:

»Kurs halten.«

Sein kastanienbrauner Bart, das nasse, nach hinten gekämmte Haar, die Geheimratsecken, das kantige Gesicht, eine Goldkette auf seiner Brust.

Er korrigiert unseren Kurs. Auf seinen Bizeps hat er sich ein Herz mit dem Namen meiner Mutter tätowieren lassen.

Und wo ist sie? Hinter uns, am Sonnenbaden. Ich kann mich nicht umdrehen.

Alle wissen schon, wer an der Tür klopft.

»Herein!«, rufen wir im Chor.

Der Lehrer geht durch das Klassenzimmer und schüttelt ihm die Hand. Der Priester in seiner üblichen dunklen Soutane. Die Brille mit dicken rechteckigen Gläsern. Das Haar schütter, grau. Eine widerspenstige Strähne auf der Stirn. Vom schmalen, runzligen Hals hängt das Kruzifix herunter. Er blickt in die Runde und nickt uns mit einem kaum angedeuteten Lächeln zu.

Meine Klassenkameradin erhebt sich und geht zum Lehrerpult. Die Caran-d’Ache-Schachtel dient ihr als Tablett für Füllfeder und Tintenkiller. Ihr Gang ist anmutig und selbstsicher. Der Lehrer winkt mich mit dem Finger herbei, ich soll mitkommen und an mein Etui denken.

Ich stehe auf: Alle Blicke sind auf mich gerichtet, auch der des Priesters. Ich sehe ihre Verwunderung. Ein paar scheinen mich zu beneiden.

Der Lehrer führt uns in einen engen, spärlich beleuchteten Raum, gibt uns Aufgaben und geht zurück in den Religionsunterricht.

»Warum bist du hier?«, fragt mich meine Mitschülerin.

Sie wirkt eher erfreut als verwundert. Ich antworte, dass meine Mutter die Schulleitung kontaktiert hat, damit ich vom Unterricht mit dem Pfarrer befreit werde.

»Warum?«

»Weil ich Muslim bin.«

»Was ist ein Muslim?«

Ich weiß nur, dass sie an Allah glauben. Ich sage es ihr.

»Herrgott noch mal!«, knurrt Elvezia und packt mich am Ohr. »Ich zeig dir gleich, wo’s langgeht!«

Dann zieht sie mich, ohne ihren Griff zu lockern, in den Hof. Dort gelingt es mir zwar, mich von ihr loszumachen, aber nicht davonzulaufen. Mit einer Hand hält sie mich fest, mit der anderen zieht sie mir die Schuhe aus. Sie untersucht sie finster. Dann schleudert sie sie über das Gittertor auf die Hauptstraße.

 

»Da haben wir’s!«, ruft sie triumphierend aus.

Ihre Hände sind mit Scheiße verschmiert. Sie entdeckt einen braunen Fleck neben der Fußmatte. Wieder packt sie mich am Ohr – ich kann die Scheiße riechen –, drückt mich tief runter, bis ich fast den Beton berühre. Ich sage, dass ich es nicht absichtlich gemacht habe, es sei mir nicht mal aufgefallen.

»Das wär ja noch schöner!«, sagt sie und drückt noch fester.

Dann lässt sie mich los und geht ins Haus zurück.

Ich nutze die Gelegenheit, um mich davonzumachen und den Rest auf später zu verschieben, wenn sie sich beruhigt hat. Beeile mich, die Schuhe zu holen, bevor sie überfahren werden.

Verflucht, ich schaffe es nicht, sie anzuziehen, vor lauter Aufregung kriege ich den Knoten nicht auf.

Mitten im Hof steht Elvezia und holt Luft. Besen und Eimer in der Hand. Als sie begreift, dass ich ihr davonlaufen will, brüllt sie:

»Verfluchter Bengel!«

Sie stürzt sich auf mich, mit dem Besen bewaffnet. Ich lasse die Schuhe fallen und renne davon, schneller als Said Aouita.

Meine Fingerspitzen an ihren Hüften beim komplizierten Versuch, sie zu umarmen.

»Nona nona«, sagt sie und drückt, zerquetscht mich fast.

Ich versinke in ihrem üppigen Bauch. Muss lachen, nuschle was und warte darauf, dass sie wieder loslässt.

Es ist Abend. Wir sind bei der Tante, stehen im Gang. Links eine Kommode, wo sich Nippes, Briefumschläge und Postkarten stapeln. Auch wenn ich kein klares Bild habe, sehe ich um uns herum meine Mutter und mindestens drei ihrer Schwestern, die sich auf Italienisch, Arabisch und Französisch unterhalten, kichern und die Sprachen sogar im selben Satz vermischen.

»Fredo fredo«, sagt die Großmutter und erschauert in ihrer weiten, hellblauen Dschellaba. Dann zeigt sie auf den Schnee, der die Gehwege bedeckt, und kommentiert auf Arabisch.

Sie lachen. Weshalb?

Ich verstehe nur ein einziges Wort: Marokko.

Meine Mutter übersetzt: Sie möchte, dass du mit nach Marokko fährst.

Was soll ich dort?

Auch heute bin ich wieder hier. Ich lege den Ball mitten auf die Straße und mache ein paar Rückwärtsschritte, bis ich mit dem Absatz das Mäuerchen zum Garten der Nachbarn berühre. Von dieser Stelle aus verdecken die kleine Kiefer und ein Stück der Mauer zwei Drittel des Tors – ein Hindernis, das ich zu umgehen gelernt habe. Ich betrachte die Position, überlege. Die rechte Ecke will ich treffen, die schwierigste. So wie Maradona. Der Ball muss die richtige Höhe haben: hoch genug, um über die Kiefer zu fliegen, aber keinesfalls zu hoch, um die darüberliegenden Fenster nicht zu treffen.

Ein Hupen unterbricht mich. In der Kurve taucht ein grauer Maggiolino auf. Ich hole hastig den Ball und stelle mich wieder an den Straßenrand. Das Auto wird langsamer, hält an. Ein Mann steigt aus. Ich kenne ihn vom Sehen. Er ist nett. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, fragt er: »Wie steht’s?«

Heute aber fordert er mich auf, mich hopphopp ins Tor zu stellen. Eigentlich sei ich kein Torwart, gebe ich zurück, ich spiele im Sturm, schieße Elfmeter und Tore.

Er hängt sein Gilet an den Zaun und fordert mich heraus: Wenn ich drei von fünf Penaltys halte, kauft er mir ein Milky Way. Ich bin einverstanden, werfe ihm den Ball zu und platziere mich in der Mitte des Tors.

Mit der Handfläche poliert er seine Stiefel.

Ich halte nur einen einzigen. Trotz der Hechtsprünge auf dem Asphalt. Trotz der drei letzten Elfmeter, die er aus größerer Entfernung geschossen hat, praktisch ohne Anlauf zu nehmen.

Zu stark. Zu treffsicher. Gnadenlos.

Ich klopfe mir den Schmutz von den Hosen und vom T-Shirt. Kontrolliere, ob auch nichts zerrissen ist.

Das Milky Way kauft er mir trotzdem.

Die Krankenschwester ist auf den Kopf gestellt – ihr Clownlächeln erschreckt mich.

»Was ist dein Lieblingstrickfilm?«, fragt ihre honigsüße Stimme. »Magst du Remì? Meine Kinder lieben ihn. Süßer, kleiner Remì, la la la la … Das schaust du doch, nicht wahr?«

Ich will gerade antworten, aber Menschen zeigen auf Maschinen, gestikulieren, erklären Dinge, die ich nicht verstehe.

Na?

Meine Sicht wird trübe, die Umrisse verschwimmen, es vibriert. Ein hoher, unangenehmer Alarmton erklingt und spitzt sich zu einem Pfeifen zu. Ich sehe weiße und schwarze Ringe. Oder auch nicht, es ist eine Spirale mit einem kleinen, schwarzen Punkt in der Mitte. Pfiii…

Ich mag lieber Chobin. Und Lupin, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer, keiner so gewitzt wie du, Lupin. Und Margot. Wenn Katzenaugen glühen, wird euch nachts was blühen, wir nehmen nur, was uns gehört. Und Arnold.

»Weeen?«, fragt eine weibliche Stimme.

Grinsen. Brunga ist böse: Er befreit sie nicht. Grinsen und Nebel. Das Pfeifen wird schwächer. Danach nichts mehr: Alles schwarz still bis ich wieder aufwache.

Warum bin ich hier? Umgeben von diesem Weiß: ihr Kittel, mein Nachthemd, die Laken, der Nachttisch, die Wände. Mein Gehirn kommt nur langsam in Gang.

Die Krankenschwester hält eine kleine Schere in der Hand. Meine Kehle ist trocken, der Mund klebrig.

Sie lächelt. Fängt an, von meinem weißen Schniedel zu reden, und rollt behutsam die Gaze ab. Fragt, ob ich Schmerzen hätte. Ein bisschen schon, antworte ich, aber nicht allzu schlimm. Das sei normal am ersten Tag, sagt sie, morgen gehe es bestimmt schon besser.

Sie wirft die vollgesogene, blutverschmierte Gaze in den Mülleimer und beginnt, mich zu waschen. Kamille, es riecht nach Kamille. Manchmal trinkt Elvezia eine Tasse Kamillentee, bevor sie sich schlafen legt.

Da wäre er nun also, in seiner neuen Gestalt – taub, runzlig, kaum wiederzuerkennen.

Ich sehe Stiche: Schwarze Fäden durchziehen ihn in unregelmäßigen Abständen, heben sich vom Fleisch ab, diagonal und horizontal. Bleibt er für immer so?

Die Krankenschwester wickelt ihn wieder in eine saubere Gaze und befestigt sie mit einer Klammer. Alles in Ordnung, schön sauber, sagt sie und geht wieder.

War das wirklich nötig?

Wir gehen Hand in Hand. Ein sonniger Nachmittag, vielleicht ein Mittwoch. Der Himmel ist klar. Gewimmel, das Gedränge in der Stadt so dicht, dass wir uns ständig voneinander lösen müssen, um voranzukommen. Was wir uns sagen, höre ich nicht.

Ich blicke mich um: hohe Gebäude, Leuchtreklamen, meine Lieblingsläden – der Franz Carl Weber. Ich schaue die Leute an, die uns anschauen.

Warum glotzen die alle so?

Ich beobachte die Männer, die meine Mutter anstieren. Sie warten darauf, ihren Blick zu treffen, mustern sie von Kopf bis Fuß, als würden sie sie ausmessen. Wenn sie es merkt, erwidert sie den Blick ein paar Sekunden lang, dann entzieht sie sich wieder und schaut woandershin.

Im Café sagt jemand, wir könnten Geschwister sein, macht ihr Komplimente. Sie tut so, als wäre sie überrascht, lächelt ausweichend, streicht mir über die Locken.

Da ist der See. Das Schaufenster die Stühle die Spiegel. Man muss ein paar Stufen nehmen. Herzlicher Empfang. Der Friseur ist nett und sympathisch. Wir plaudern ein wenig.

Den üblichen Schnitt, den, der allen gefällt. Du hast aber schönes Kruselhaar, ein Negerchen, wie wunderbar, du hübsches Marokkanerköpfchen mit putzigen, schwarzen Löckchen …

Ich sehe sie beide im Spiegel. Er steht hinter mir, mit der Schere bereit. Sie sitzt auf einem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, in die Zeitschrift Novella Duemila vertieft.

Elvezia steht auf und durchstöbert den Papierstapel auf der Anrichte. Ich folge ihr, mit scharfem Blick. Meine Mutter sitzt aufrecht am Tisch und wartet. Sie trägt eng anliegende Bluejeans und hohe Schuhe. Auf dem karierten Tischtuch ihre Barclays und ihr Feuerzeug, der Aschenbecher, zwei bis zum Rand gefüllte Tassen Kaffee und die Zuckerdose. Sie hebt das Kinn, dreht den Kopf zum Fenster und bläst die Rauchwolke aus.

Der Aschenstab wird immer länger. Gefährlich lang. Ich habe Angst, dass er auf den Teppich fällt.

Elvezia reicht ihr das Zeugnisheft. Sie legt die Zigarette ab und beginnt zu blättern. Sie soll umblättern, das sind die Noten des ersten Halbjahrs, die neuen sind weiter hinten, sagen wir.

Ich sehe ihre strahlenden Gesichter. Sie sind da, ganz nah, ich spüre, wie sie mich küssen und streicheln, von der einen Seite und von der anderen. Hände gleiten durch meine Locken, auf meine Wangen.

Komplimente.

Elvezia, die in ihrem fehlerhaften Italienisch erzählt, auch vom Lob des Lehrers berichtet.

»Ein schlaues Köpfchen!«

Meine Mutter verspricht mir ein Geschenk: Ich darf mir etwas aussuchen.

Wir sitzen im Schneidersitz auf den Stufen vom Sportplatz. Vor mir der grüne Hang. Weiter oben der Wald. Heute wird nicht Fußball gespielt. Das Sammelalbum muss gefüllt werden.

Mein Klassenkamerad behauptet, Schwarze seien unfähig, ohne Talent, Nieten. Deshalb gäbe es für afrikanische Mannschaften keine Doppelseiten.

Vor lauter Irritation bin ich nicht schlagfertig genug, um zu erwidern:

Und was ist mit Südkorea? Und Kanada?

Ich will meine doppelten Bilder nicht mehr mit ihm tauschen.

Die Genugtuung, als Marokko die Vorrunde der Gruppe F gewinnt, vor all diesen Weißen auf den Doppelseiten.

»Schusch, tlata«, wiederhole ich ihr zuliebe.

Die Stube liegt im Nachmittagslicht. Auf dem Tisch die üblichen zwei Tassen Kaffee, die Zigaretten, der Aschenbecher, die Zuckerdose. Meine Mutter findet, ich sollte Arabisch lernen, und beginnt mit den Zahlen.

Soll das ein Scherz sein?

»Raba’a, chamza, sitta.«

Sie hat angeboten, einmal die Woche herzukommen, um mir die ersten Grundlagen beizubringen.

»Sagen wir Mittwochnachmittag?«

Nein.

»Saba’a, tamania, tisa’a.«

Ich sehe weder sie noch Elvezia. Ich höre bloß unsere Stimmen, Zahlen und Satzfetzen, meine Verweigerungsversuche – Mì a parli ur dialètt, ich spreche Dialekt! –, ihr Beharren – Es ist deine Sprache!

»Vün, düu, trii … Lern du lieber Dialekt!«

»Aschno?«, fragt sie.

Was?

Ein Lächeln entwischt ihr. Sie ist durcheinandergeraten, korrigiert sich und übersetzt:

»Was?«

Ich bringe ihr bei, dass asnón im Dialekt Esel heißt, sogar großer Esel.

Für sie bedeutet dar Haus. Für mich hingegen ist es bloß eine Präposition mit Artikel. Dar Elvezia. Bei der Elvezia.

Die Einladungen für das Fest sind auf weiße Karten gedruckt. Ich ziehe eine aus dem Umschlag und klappe sie auf. Die goldenen Schriftzeichen treten leicht hervor. Ich sehe mich, wie ich im Wohnzimmer auf dem roten arabischen Sofa mit den gelben Fransen sitze, die Füße baumeln in der Luft. Ich drehe die Karte in den Händen, versuche zu verstehen, wo oben und unten ist. Ich fahre mit dem Finger über die unebene Oberfläche, über die Linien, Buchstaben und unverständlichen Wörter, von rechts nach links und von links nach rechts. Halte inne, dieses Zeichen kenne ich: Neunzehnhundertsechsundachtzig.

Ein heller, runder Metalltisch. Im bleichen, trockenen Sand Zigarettenstummel. Ein paar blaue Sonnenschirme flattern im Wind. Ein stillstehendes Karussell, vielleicht ist es kaputt. Palmen. Wir treffen ihn in einem Park. Die grauen Haare. Seine Zähne, die weit auseinanderstehen. Weder hübsch noch jung.

Unterhalten wir uns? In welcher Sprache?

Beim Kaffee erzählt ihm meine Mutter, wer ich bin, er hört interessiert zu, nickt.

Die Markierungen auf dem Asphalt, die niemand beachtet, auch wir nicht. Der Taxifahrer lehnt sich aus dem Fenster und beklagt sich, es geht nur stockend voran, mehrmals drückt er auf die Hupe, deutet mit den Händen auf Auswege. Die rote Ampel scheint nur eine Empfehlung zu sein.

Ich betrachte die Autos – alt, verbeult, fast ausschließlich französische Marken –, die spazierenden Marokkaner, die Strandbäder. Dann blicke ich dorthin, wo Ozean und Himmel verschmelzen.

Sie schaut ins Leere und murmelt meinen Namen. Zwar kann sie mich nicht sehen, aber sie spürt meine Anwesenheit. Ich habe eine Urgroßmutter. Sie sagt:

»Eschi!«

Das heißt: Komm! Ich trete näher. Sie merkt es, legt die Gebetskette auf den Nachttisch und will nach meinen Fingern greifen. Ich setze mich neben sie und strecke ihr meine Hände hin. Sie beginnt, langsam mit einer kreisenden Bewegung darüberzufahren.

 

Ich betrachte ihre glasigen Augen, den zahnlosen Mund, die Haare am Kinn. Sie sieht älter aus als Elvezia.

Wie alt ist sie wohl?

Einen Moment lang hält sie inne, tastet meine Hände mit den Fingerkuppen ab, dann streichelt sie fester weiter, auch mit dem Handrücken. Und sie redet, obwohl sie weiß, dass ich sie nicht verstehen kann.

Wieder hält sie inne und wartet darauf, dass ich etwas sage. Wartet …

Sie fährt fort, jetzt gibt sie einen so schwachen und matten Ton von sich, dass nicht einmal die anderen sie verstehen würden.

Ich studiere ihren müden Körper, höre ihr zu. Hoffe, dass jemand kommt, mich zu erlösen.

Die Palmen bilden einen Trichter. Dazwischen eingezwängt die blasse Sonne.

Die Vorbereitungen für das abendliche Fest sind in vollem Gange, ein hektisches Hin und Her, vom Schlafzimmer ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer. Meine Mutter und die Tanten wühlen im Schrank und in den Schubladen, drehen und wenden die Stücke auf der Suche nach der elegantesten Kombination, beraten sich. Auch meine Meinung wollen sie hören.

»Zuina?«

Sie fragt, ob sie schön sei. Ich bejahe, sie ist zuina, très zuina.

Die Tante setzt sich auf die Bettkante und lackiert sich die Fingernägel rubinrot. Sie trägt einen weißen Bademantel, ihre Haare sind in ein blaues Handtuch eingewickelt. Ein paar nasse Haarsträhnen hängen heraus, die sie vergeblich versucht hat, wieder zurückzustopfen. Sie hat tolle Kurven, steht Sabrina Salerno in nichts nach. Aber jetzt trägt sie keinen BH, sodass die Wölbung ihrer Brust nicht so stark ist.

Ich spiele Nintendo auf dem mir zugewiesenen Bett. Muss Leute retten, die aus einem brennenden Haus springen, bewege die Trage.

Die Tante steht auf, zieht den Gürtel des Bademantels enger und nimmt das Necessaire aus dem Schrank. Sie fragt:

»Gagni?«

Ich lasse jemanden sterben, antworte oui, bien sûr und bringe ihr bei, wie man »gewinnen« auf Italienisch sagt. Sie schmunzelt und wiederholt es:

»Vincere, vincere.«

Als sie sich hinunterbeugt, um das Necessaire auf das Kissen zu legen, schiele ich verstohlen in ihr Dekolleté.

Sie sind bereit: elegant, parfümiert, im Geschmeide. Bevor sie gehen, kommen sie zu mir und drücken mir zum Abschied ein Küsschen auf die Wange.

Ich folge ihnen bis ins Wohnzimmer. Dann höre ich das Hallen ihrer Absätze und einige unverständliche Wörter meiner Mutter und des Portiers.

Ich klettere aufs Sofa, schiebe die Vorhänge zur Seite und schaue hinunter. Ein beiger Mercedes wartet mitten auf der Straße.

Die Blinker gehen aus, und er fährt los.

Der Fernseher empfängt einen einzigen Sender. Einen arabischen.

Die Großmutter ist mit ihrem Gebet fertig. Sie folgt mir ins Wohnzimmer und setzt sich auf einen Pouf.

Dann steckt sie sich die Finger in den Mund, um mich zu fragen, ob ich noch Hunger habe. Ich verneine, la. Sage es noch einmal und schüttle dabei den Kopf.

»Suchun«, fährt sie leicht klagend fort.

Cus’è, was soll das sein?

Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Vielleicht möchte sie sagen, dass es in Marokko sehr heiß ist. Ich pflichte ihr bei:

»Ja, ja«, und zupfe wie wild an meinem T-Shirt.

Sie lacht und gestikuliert. Mir bleibt schleierhaft, warum.

Das Treiben vor dem Haus wird immer lebhafter. Scharen von Jungen in abgerissenen Kleidern eilen herbei. Sie verfolgen einander, prügeln sich, schreien aufgeregt herum. Ich sehe junge Männer und alte Frauen, die lautstark mit der Zunge trillern. Autos bahnen sich einen Weg durch die Leute, die es nicht kümmert, dass sie die Straße versperren.

Sind die alle wegen mir hier?

Kennt die jemand?

Auch das Pferd ist da, ich gebe sofort meiner Mutter Bescheid.

»Yalla!«, ruft der Onkel vom Korridor aus.

Auf Dialekt würde man des’ciólati sagen, beeil dich.

Wir gehen Hand in Hand hinunter. Sie sehe ich nicht. Ich bin in Grau gekleidet – eine maßgeschneiderte Dschellaba und die Babuschen.

Als wir aus dem Haus treten, wird das Getriller noch lauter. Jemand macht Fotos, andere klatschen Beifall.

Meine Mutter führt mich zum Pferd. Nun sehe ich sie: das kastanienbraune Haar, das ihr über die Schultern fällt, die blonden Strähnen, der blaue Lidschatten.

Sie sagt etwas zum Reiter. Er sieht mich mit großen Augen an. Dann streckt er den Arm aus und hilft mir in den Sattel. Das Pferd scharrt mit den Hufen, wiehert und sträubt sich. Mir ist unwohl, ich habe Angst. Meine Mutter ruft etwas, das ich nicht verstehen kann. Winkend bedeutet sie mir, ruhig zu bleiben.

Langsam schreiten wir los. Die Menschenmenge klatscht zu den ersten Schritten mit.

Jetzt habe ich keine Angst mehr. Aber Schmerzen. Die Pferdemähne peitscht mir ins Gesicht, und ich kann nichts dagegen tun. Ich muss es meiner Mutter sagen. Ich drehe mich um und versuche, sie herbeizuwinken. Diese verflixten Juhu Juhu übertönen meine Worte. Ich rufe nach ihr, gestikuliere.

Endlich versteht sie, wurde auch Zeit.

Der Reiter rückt nach hinten und zieht mich näher zu sich heran. So ist es besser, auch wenn mir die Mähne ab und zu trotzdem noch ins Gesicht klatscht.

Überall sind Menschen, sogar an den Fenstern der umliegenden Häuser.

Die Feierlichkeiten gehen auf der Terrasse weiter, wo ein Festzelt aufgebaut worden ist. Ich sehe die roten und grünen Rechtecke, die gelben Linien, Tische voller Tabletts süßer und salziger Speisen – nie zuvor gesehene Köstlichkeiten. In einer Ecke spielt ein Orchester arabische Melodien.

Die Tante erklärt mir, dass dieses Instrument Oud heißt.

Es gibt Marokkaner mit Krawatte und auch ärmlich gekleidete Gäste, die sich eingeschlichen haben.

Sie plaudern, essen und tanzen.

Nun bin ich ganz in Weiß. Weiß der Fes, an dem eine Krone festgemacht ist, weiß die Dschellaba, mit goldenen Nähten und Knöpfen, weiß und silbern der karierte Mantel und weiß die Babuschen.

Ich werde auf einen vorbereiteten Thron gesetzt: Auf dem Sofa steht ein Stuhl ohne Beine, auf dem Stuhl ohne Beine liegt ein Kissen und auf dem Kissen ein buntes Tuch.

Da sitze ich, stumm, posiere für die üblichen Fotos und muss mir die Kopfbedeckung jedes Mal, wenn sie wegen der zu schweren Krone verrutscht, wieder zurechtrücken.

Küsschen, Foto und der Nächste, bitte.

Jetzt werde ich auf einer wackeligen Holzscheibe von vier sich in den Hüften wiegenden Frauen herumgetragen. Der Reihe nach treten die Gäste heran und legen zusammengerollte Geldscheine auf die Scheibe.

Ich in einem Meer aus Dirham denke an die vielen Spiele, die ich mir kaufen werde.

Ich bin müde, möchte runter, die Musik geht mir auf die Nerven. Mit einer Hand muss ich die Krone festhalten, damit sie nicht runterfällt, und ich habe Angst, dass die Frauen durch dieses ganze Hüftgeschwinge ins Straucheln geraten.

Da kommen andere Frauen: Sie lösen einander ab.

Das Geld geht an das Orchester.

»Öllapeppa, meine Güte!«

Elvezia macht ein verdutztes Gesicht.

»Wofür soll denn das gut sein?«

Sie hat das Klebeband durchgeschnitten, das Füllpapier aus der Schachtel genommen, ein halbes Bettlaken abgewickelt, und nun hält sie das Geschenk in den Händen.

Ich hebe den Deckel und führe es ihr vor. Ich erkläre, dass es zum Kochen von Fleisch oder Fisch benutzt wird, »und Couscous kannst du da auch reinmachen«.

»Cus’è?«

Sie hat nicht verstanden. Dreht den Tontopf in den Händen und betrachtet ihn aufmerksam. Ich sage es noch einmal und versuche, die Silben voneinander abzuheben:

»Cous-cous.«

»Cus’è?«, fragt sie stirnrunzelnd. »Sprich deutlich!«

»Cous!«, Pause. »Cous!«

Sie lacht von Herzen. Ohne etwas zu sagen, läuft sie in die Küche und sucht einen Platz für die Tajine. Von dort aus ermahnt sie mich, die Kleider ordentlich in den Schrank zurückzulegen. Dann wird sie wütend, weil ich das Geschenkpapier zerrissen habe. Ich entgegne, dass es schon ein bisschen zerknittert war. Sie wird laut:

»Du lügst, dass sich die Balken biegen!«

Das Milchfläschchen entdeckt mein Freund, als er sein letztes Leben verloren hat und sich rücklings auf die Bettdecke fallen lässt.

Weil er etwas Hartes im Nacken gespürt hat. Ich hätte es wie üblich unters Kopfkissen schieben sollen. Ich dachte, es wäre ein sicheres Versteck. Wie peinlich. Ich lasse den Controller fallen und stürze mich auf ihn – in einem Wutanfall versuche ich, ihm das Fläschchen zu entreißen. Ich drücke ihn nieder, wir kämpfen. Als ich wieder sprechen kann, zische ich: