Die Kameliendame

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III

Am Sechzehnten, um ein Uhr, begab ich mich in die Rue d'Antin.

Schon am Eingangsportal hörte man die lauten Stimmen der Taxatoren. Die Wohnung war voll Neugieriger. Alle stadtbekannten Erscheinungen der Lebewelt waren anwesend. Sie wurden verstohlen von einigen vornehmen Damen gemustert. Noch einmal hatten sie die Auktion zum Vorwand genommen, um, ohne sich etwas zu vergeben, die seltene Gelegenheit wahrzunehmen, jene Frauen, die sie vielleicht insgeheim um ihre leichtfertigen Freuden beneideten, aus der Nähe zu sehen.

Die Herzogin von F... berührte mit ihrem Ellenbogen fast Fräulein A..., eine der betrüblichsten Erscheinungen unter den derzeitigen Kurtisanen; die Marquise von T... zögerte, ein Möbelstück zu erwerben, als Frau D..., die zur Zeit eleganteste und bekannteste Ehebrecherin, mehr dafür bot; der Herzog von Y..., der in Madrid lebte, um sich in Paris zu ruinieren und umgekehrt, der sogar sein Geld für die Rückreise verschleuderte, plauderte mit Frau M... Als eine unserer geistvollsten Erzählerinnen schrieb sie von Zeit zu Zeit gern das nieder, was sie gesagt hatte, und sah ihren Namen gerne unter dem von ihr Geschriebenen. Gleichzeitig wechselte der Graf aber auch vertrauliche Blicke mit Frau N..., der elegantesten Müßiggängerin auf den Champs-Elysées. Ihre Kleider hatten fast immer die Farben Blau oder Rosa. Zwei kräftige, schwarze Pferde, die Toni ihr für zehntausend Francs verkauft hatte und die sie auch bezahlt hatte, zogen ihren Wagen. Endlich war noch Fräulein von R... anwesend, die sich mit ihren Verführungskünsten das Doppelte von dem verdient hatte, was eine reiche Frau allgemein als Mitgift erhält, und das Dreifache von dem, was ihre Gefährtinnen sich erwarben. Trotz der Kälte war sie gekommen, um einiges zu ersteigern, und wurde nicht wenig beachtet. Viele der Anwesenden, die sich gegenseitig mit erstaunten Blicken maßen, konnten wir noch mit Namen nennen, müßten wir nicht befürchten, den Leser damit zu ermüden. Wir wollen nur noch die merkwürdig anmutende Heiterkeit aller Anwesenden erwähnen, und daß viele von ihnen die Verstorbene gekannt hatten, sich ihrer jetztaber nicht mehr zu erinnern schienen. Überall wurde laut gelacht. Die Taxatoren schrien aus vollem Halse. Die Händler hatten die Bänke vor den Verkaufstischen überflutet und bemühten sich vergebens um Ruhe, um ihre Geschäfte ungestört abwickeln zu können. Eine buntere und lärmendere Gesellschaft ließ sich nicht denken.

Bescheiden schob ich mich in den für mein Gefühl unangemessenen Tumult hinein und mußte daran denken, daß gleich nebenan in dem Gemach das arme Wesen, dessen Mobiliar hier zur Deckung seiner Schulden versteigert wurde, sein Leben ausgehaucht hatte.

Da ich nicht gekommen war, um zu kaufen, sondern um zu beobachten, betrachtete ich die Gesichter der Lieferanten, die versteigern ließen. Jedesmal, wenn ein Gegenstand einen höheren Preis erzielte, als sie gedacht hatten, hellten sich ihre Züge auf. So also sahen Vertreter des ehrbaren Handelsstandes aus, die mit der Käuflichkeit dieser Frau spekuliert hatten. Cent um Cent hatten sie an ihr verdient, sie bis in die letzte Stunde ihres Lebens mit Wechseln verfolgt und waren nun nach ihrem Tode gekommen, um die Früchte ihrer Spekulationen und die Wucherzinsen für ihre Anleihen einzutreiben. Mit Recht hatte man in der Antike für die Händler und für die Diebe ein und denselben Gott.

Die Kleider, die Schale und der Schmuck waren rasch verkauft. Ich wartete noch, denn von diesen Dingen hatte mich nichts interessiert. Plötzlich hörte ich rufen: »Ein Buch, wundervoll gebunden, mit Goldschnitt, Titel: Manon Lescaut. Es ist etwas hineingeschrieben, auf die erste Seite: Zehn Francs!«

»Zwölf«, sagte eine Stimme nach kurzer Pause. »Fünfzehn«, ich.

Warum? Ich wußte es selbst nicht. Vielleicht deshalb, weil etwas hineingeschrieben war.

»Fünfzehn«, wiederholte der Taxator. »Dreißig!« rief der erste Interessent, in einem Ton, der zum Mehrbieten herausforderte. Es wurde ein Kampf.

»Fünfunddreißig!« rief ich im gleichen Ton. »Vierzig.« »Fünfzig.« »Sechzig.« »Hundert.«

Ich muß gestehen, daß es mir mit diesem letzen Gebot gelungen war, alle zu beeindrucken. Es folgte eine Stille, und man musterte den Mann, der sich um jeden Preis in den Besitz des Buches setzen wollte. Es schien so, als ob der Ton, in dem ich das letzte Wort gesagt hatte, meinen Gegner weit mehr besiegte als die Höhe der Summe: er gab den Kampf auf, der für mich damit endete, daß ich das Buch zu dem zehnfachen Preis seines Wertes erwarb. Mein Gegner verbeugte sich und sagte sehr höflich, wenn auch ein wenig spät: »Ich verzichte, mein Herr.«

Niemand überbot mich, und das Buch wurde mir zugesprochen.

Da ich einen erneuten Kampf fürchtete, der, dessen war ich gewiß, wieder zu meinen Gunsten entschieden würde, dem aber mein Geldbeutel nicht gewachsen war, so ließ ich meinen Namen einschreiben, das Buch zurücklegen und ging fort. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich die Gedanken der Menschen hätte lesen können, die der Szene beigewohnt hatten. Sicher fragten sie sich, weshalb ich für ein Buch hundert Francs zahlte, das ich für zehn, höchstens fünfzehn Francs in jedem Laden kaufen konnte.

Eine Stunde später ließ ich mein ersteigertes Buch abholen. Auf der ersten Seite stand mit Tinte in eleganter Handschrift eine Widmung, zweifellos von dem, der ihr das Buch geschenkt hatte.

Sie bestand nur aus diesen Worten:

Manon für Marguerite In Demut

Unterschrieben war: Armand Duval. Was sollte das Wort »Demut« bedeuten? War Marguerite nach Ansicht des Herrn Armand Duval Manon an Verworfenheit oder an Empfindsamkeit überlegen? Die zweite Deutung war die wahrscheinlichere. Die erste wäre eine Ungezogenheit gewesen, die Marguerite sich niemals hätte gefallen lassen, trotz der Meinung, die sie von sich selber hatte.

Ich ging noch einmal aus und beschäftigte mich mit dem Buch erst wieder am Abend vor dem Einschlafen. Oh, gewiß, »Manon Lescaut« ist eine rührende Geschichte. Jede Einzelheit ist mir vertraut. Aber da ich das Buch nun einmal in der Hand hielt und es mich immer wieder anzieht, öffnete ich es und erlebte zum hundertsten Male die Ereignisse im Dasein der Heldin des Abbe Prevost mit. Diese Manon ist so lebendig, daß mir oft so ist, als habe ich sie gekannt. Unter diesen veränderten Umständen, der Möglichkeit eines Vergleiches zwischen ihr und Marguerite, hatte diese Lektüre für mich eine neue, unerwartete Anziehungskraft. In meine Nachsicht mischte sich Mitleid, fast muß ich sagen: Liebe für dieses arme Kind, aus dessen Nachlaß der Band stammte. Manon war in der Wüste gestorben, ja, aber in den Armen des Mannes, der sie mit allen Fasern seines Herzens geliebt hatte, der der Toten mit seinen Händen ein Grab aushöhlte, es mit seinen Tränen netzte und sein eigenes Herz mit in die Erde legte. Marguerite indessen, Sünderin wie Manon und vielleicht wie diese reuig bekehrt, war, wenn ich dem glaubte, was ich gesehen hatte, umgeben von Glanz und Pracht gestorben, auf dem Lager einer bewegten Vergangenheit, aber dennoch auch in einer Wüste, in der Wüste des Herzens nämlich, die noch viel rauher, viel verlassener, viel mitleidsloser ist als die, in der man Manon begraben hatte.

Tatsächlich hatte Marguerite auf ihrem Lager in den zwei Monaten ihres langsamen und schmerzvollen Dahinsiechens keinen wirklichen Trost erfahren, wie ich von Freunden gehört hatte, die über die letzte Zeit etwas wußten. Von Manon und Marguerite wanderten meine Gedanken weiter zu allen denen, die ich kannte und die ich heiteren Gemütes einem Tod entgegengehen sah, der fast immer der gleiche ist.

Arme Wesen! Wenn es ein Irrtum ist, sie zu lieben, so muß man sie doch wenigstens bedauern. Bedauert man doch den Blinden, der nie das Tageslicht sah, den Tauben, der niemals die Laute der Natur vernahm, den Stummen, der niemals seine Seele in Worte fassen konnte. Und aus falscher Scham will man nicht diese Blindheit des Herzens, diese Stummheit der Seele, dies Schweigen des Gewissens bedauern, die diese armen Unglücklichen verwirren, die sie, gegen ihren eigenen Willen, unfähig machen, das Gute zu sehen, den Erlöser zu hören und die Sprache der reinen Liebe und des reinen Glaubens zu sprechen.

Victor Hugo hat eine Marion Delorme geschaffen, Musset eine Bernerette, Alexander Dumas eine Fernande, die Dichter und Denker aller Zeiten haben der Kurtisane das Opfer ihrer Barmherzigkeit gebracht. Manchmal hat ein vornehmer Mann sie rehabilitiert und ihnen seine Liebe, ja sogar seinen Namen gegeben. Wenn ich diesen Punkt so wichtig nehme, dann deshalb, weil viele, die mein Buch zu lesen begonnen haben, im Begriff sind, es schon wieder zur Seite zu legen, da sie fürchten, nur eine Verteidigungsrede des Lasters und der käuflichen Liebe zu finden. Das Alter des Autors ist zweifellos dazu geeignet, diese Befürchtung zu bekräftigen. Ich wünschte, wer so denkt, möge seinen Irrtum einsehen und in der Lektüre fortfahren, falls diese Furcht allein ihn daran hindern sollte.

Ich bin ganz einfach davon überzeugt, daß Gott für die Frau, die nicht zum Guten erzogen wurde, fast immer zwei Wege, die wieder zu ihm führen, bereithält: das Leid und die Liebe.

Beide sind mühselig, und die auf ihnen wandeln, stoßen sich die Füße wund und blutig, zerreißen sich die Hände, aber sie lassen gleichzeitig an den Dornen am Wege das Laster zurück und stehen endlich rein und ohne erröten zu müssen vor dem Herrn.

Alle, die diese tapferen Wanderinnen treffen, müssen sie ermutigen und allen Menschen von ihrer Begegnung erzählen, denn wenn sie es laut aussprechen, weisen sie damit auf den Weg hin.

Es kann sich nicht darum handeln, an den Anfang des Lebens zwei Tafeln zu stellen, auf denen der Hinweis »Der Weg zum Guten« und die Warnung »Der Weg zum Bösen« stehen und nun jedem Vorübergehenden zu sagen: Wähle! Man muß wie Christus denen, die auf Abwege gerieten, die Pfade vom zweiten zurück zum ersten zeigen, und es wäre gut, wenn diese Pfade zu Beginn nicht allzu beschwerlich wären oder allzu unbegehbar erschienen. Das Christentum predigt uns mit seinem wundervollen Gleichnis vom verlorenen Sohn Nachsicht und Verzeihen. Jesus war voller Liebe für die von menschlichen Leidenschaften verwundeten Seelen. Er linderte den Schmerz oft dadurch, daß er den Balsam zur Heilung den Wunden selbst entnahm. So sagte er zu Magdalena: »Es wird dir viel vergeben werden, weil du viel geliebt hast«, eine erhabene Verzeihung, die einen erhabenen Glauben erwecken muß. Warum wollen wir unversöhnlicher sein als Christus? Warum wollen wir hartnäckig die Haltung dieser Welt einnehmen, die sich unbarmherzig zeigt, um stark zu scheinen? Warum die blutenden Seelen zurückstoßen, aus deren Wunden, dem schlechten Blut eines Kranken vergleichbar, eine böse Vergangenheit ausströmt und die nur auf eine lindernde und heilende Freundeshand warten?

 

Ich wende mich an meine Generation, weil die unglückseligen Theorien des Herrn von Voltaire für uns nicht mehr gelten, und an alle jene, die mit mir begreifen, daß seit fünfzehn Jahren die Menschlichkeit einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Die Lehre vom Guten und vom Bösen ist für immer abgetan. Der Glaube ist wieder erwacht, die Achtung vor heiligen Dingen ist wieder zurückgekehrt, und wenn die Welt auch nicht absolut gut wird, so wird sie doch besser werden. Die Bemühungen aller denkenden Menschen haben das gleiche Ziel, und alle, die guten Willens sind, haben den gleichen Grundsatz: Wir wollen gut sein, wir wollen rein sein, wir wollen wahrhaftig sein! Das Böse ist nur ein Wahn. Wir müssen mit Stolz das Gute verfechten und dürfen nie verzagen. Wir dürfen nicht die Frau verachten, die weder Mutter noch Schwester noch Tochter noch Gattin ist. Wir dürfen nicht Achtung und Familie, Nachsicht und Egoismus gleichsetzen. Denn im Himmel herrscht mehr Freude über einen reuigen Sünder als über hundert Gerechte, die nie gesündigt haben. Versuchen wir also, dem Himmel Freude zu bereiten. Er kann es uns vielfältig vergelten. Wir wollen das Almosen unseres Verzeihens denen schenken, die durch irdische Begierden gefallen sind, die vielleicht aber durch himmlische Güte gerettet werden können. Es verhält sich damit wie mit einem Heilmittel alter Frauen, die, wenn sie es uns empfehlen, sagen: Wenn es auch vielleicht nicht hilft, so kann es doch nicht schaden. Es mag sicher sehr kühn von mir erscheinen, all das aus den unbedeutenden Tatsachen, die ich hier berichte, abzuleiten. Ich tue es, weil ich glaube, daß in kleinen Dingen alles enthalten ist. Schon das Neugeborene birgt den Mann in sich. Das winzige Gehirn umschließt den kühnen Gedanken. Und das Auge, ein Punkt nur, erfaßt die Weiten des Himmels.

IV

Zwei Tage später war die Auktion abgeschlossen. Hundertfünfzigtausend Francs hatte sie eingebracht. Die Gläubiger teilten sich in zwei Drittel, die Familie, eine Schwester und ein kleiner Neffe erbten den Rest. Die Schwester traute ihren Augen nicht, als der Notar ihr schrieb, sie habe fünfzigtausend Francs geerbt.

Die Geschwister hatten sich sechs oder sieben Jahre lang nicht gesehen. Marguerite war eines Tages spurlos verschwunden, und auch von anderen hatte man nicht das geringste über sie erfahren.

Die Erbin war eilends nach Paris gekommen, und alle, die Marguerite gekannt hatte, sahen als Schwester der Verstorbenen mit Erstaunen ein kräftiges, schönes Landmädchen, das bisher noch nie sein Dorf verlassen hatte. Das Vermögen fiel ihr in den Schoß, und sie ahnte nicht, aus welchen Quellen es ihr unverhofft zugeflossen kam.

Man erzählte mir, sie sei tief betrübt über den Tod ihrer Schwester in ihr Dorf zurückgekehrt, doch linderte das geerbte Geld den Schmerz bald.

Alle diese Ereignisse beschäftigten Paris, die Metropole der Sensationen, einige Zeit, gerieten dann aber in Vergessenheit, und auch ich selbst interessierte mich kaum noch dafür. Da ereignete sich plötzlich etwas, was mich von dem ganzen Leben Marguerites in Kenntnis setzte. Die Einzelheiten sind so erschütternd, daß ich dem Bedürfnis, alles niederzuschreiben, nicht widerstehen kann - und so schreibe ich denn. Seit drei oder vier Tagen war Marguerites leere Wohnung zu vermieten. Da läutete es eines Morgens an meiner Tür. Mein Diener, oder besser, mein Hausmeister, der auch mein Diener war, öffnete und brachte mir eine Visitenkarte. Die Person, die sie ihm gegeben habe, sagte er, wolle mich gerne sprechen. Ich blickte auf die Karte und las die beiden Worte: Armand Duval. Ich überlegte, wo ich diesen Namen schon einmal gelesen hatte, und erinnerte mich: es war auf der ersten Seite von »Manon Lescaut«.

Was konnte der Mensch, der Marguerite dieses Buch geschenkt hatte, von mir wollen? Ich befahl, ihn sofort hereinzuführen.

Vor mir stand ein junger Mann: blond, groß, blaß, in einem Reiseanzug, den er offenbar seit einigen Tagen nicht gewechselt und nicht einmal abgebürstet hatte, denn er war voller Staub.

Herr Duval war sehr bewegt und bemühte sich keineswegs, das zu verbergen. Er hatte Tränen in den Augen, und seine Stimme zitterte, als er mir sagte:

»Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich Sie aufsuche und noch dazu in diesem Aufzug. Aber junge Menschen genieren sich voreinander nicht sehr. Ich wünschte so sehnlich, Sie zu sehen, daß ich mir nicht die Zelt nahm, vorher das Hotel aufzusuchen, in das ich meine Koffer geschickt habe. Ich bin sofort zu Ihnen geeilt, denn trotz der frühen Stunde fürchtete ich, Sie nicht zu Hause anzutreffen.«

Ich bat Herrn Duval, am Kamin Platz zu nehmen. Er tat es, während er aus seiner Tasche ein Tuch zog und für Augenblicke sein Gesicht darin verbarg.

»Sie werden sich nicht denken können«, fuhr er mit einem traurigen Lächeln fort, »was dieser unbekannte Besucher, in diesem Aufzug und weinend, wie Sie mich sehen, zu dieser Stunde bei Ihnen sucht? Ich komme ganz einfach mit einer großen Bitte zu Ihnen.«

»Bitte, sprechen Sie nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« »Sie waren auch auf der Versteigerung bei Marguerite Gautier?«

Bei diesen Worten geriet der junge Mann, der sich einen Augenblick gefaßt hatte, erneut in eine so heftige Gemütsbewegung, daß er seine Augen mit den Händen bedecken mußte.

»Ich muß Ihnen sehr lächerlich erscheinen«, fügte er rasch hinzu, »entschuldigen Sie, bitte, und glauben Sie mir, ich werde niemals vergessen, mit wieviel Geduld Sie mich anhören.«

»Wenn der Dienst, den ich Ihnen offenbar erweisen kann«, erwiderte ich, »dazu beiträgt, Ihren Kummer auch nur ein wenig zu mildern, so sagen Sie mir rasch, wie dies geschehen kann, und ich werde mich glücklich schätzen, Ihnen behilflich zu sein.«

Der Schmerz Herrn Duvals weckte meine Sympathie, gern hätte ich ihm etwas Erleichterung verschafft. Darauf sagte er zu mir:

»Sie haben auf der Auktion bei Marguerite etwas gekauft?« »Ja, ein Buch.« »Manon Lescaut?« »Genau das.«

»Haben Sie das Buch noch?« »Es ist in meinem Schlafzimmer.« Armand Duval schien durch diese Nachricht um vieles erleichtert zu sein. Er dankte mir, als hätte ich ihm schon durch den Kauf des Buches einen Dienst erwiesen. Ich erhob mich sogleich, holte das Buch aus meinem Schlafzimmer und gab es ihm.

»Ja, das ist es«, sagte er, als er die Widmung auf der ersten Seite sah, und, weiterblätternd: »Ja, das ist es.« Zwei große Tränen fielen auf die Seiten.

Dann versuchte er nicht mehr, sein Weinen vor mir zu verbergen. Er hob sein tränenüberströmtes Antlitz und fragte mich:

»Liegt Ihnen an diesem Buch sehr viel?«

»Warum?«

»Weil ich Sie bitten möchte, es mir zu überlassen.« «Verzeihen Sie meine Neugier«, sagte ich, »aber: haben Sie es Marguerite geschenkt?« »Ja, ich.«

»Das Buch gehört Ihnen, nehmen Sie es, ich bin glücklich, es in Ihre Hände zurückgeben zu können.« »Aber«, fuhr Herr Duval verlegen fort, »das Geringste, was ich tun kann, ist, Ihnen das Geld zu erstatten, das Sie dafür bezahlt haben.«

»Erlauben Sie mir, es Ihnen zu schenken. Der Preis eines einzelnen Buches bei einer derartigen Versteigerung ist eine Bagatelle. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel ich dafür bezahlt habe.« »Sie haben hundert Francs bezahlt.«

»Das stimmt«, sagte ich, nun meinerseits verlegen. »Woher wissen Sie das?«

»Das ist sehr einfach. Ich hoffte, noch rechtzeitig zur Versteigerung in Paris zu sein, aber ich bin erst heute morgen eingetroffen. Ich wollte um jeden Preis eine Erinnerung an sie haben. Ich eilte zum Auktionator und erbat Einsicht in die Listen der versteigerten Gegenstände und der Namen der Käufer. Ich stellte fest, daß Sie dieses Buch gekauft haben, und entschloß mich, Sie zu bitten, es mir zu überlassen. Ich glaube aber beinahe, auch Sie wollen es zur Erinnerung an Marguerite, weil Sie es für einen so hohen Preis erworben haben.« Als er dies sagte, schien mir, Armand befürchte, ich könne mit Marguerite so gut bekannt gewesen sein wie er. Ich beeilte mich, ihn zu beruhigen.

»Ich kannte Fräulein Gautier nur vom Sehen. Ihr Tod beeindruckte mich, wie eben ein junger Mann durch den Tod einer schönen Frau, der er gerne begegnet ist, beeindruckt wird. Ich wollte auf der Versteigerung etwas erwerben und hatte mir dieses Buch in den Kopf gesetzt. Vielleicht nur deshalb, um einen Herrn in Eifer zu bringen, der es darauf abgesehen hatte und es mir anscheinend nicht gönnte. Ich wiederhole, das Buch gehört Ihnen, und ich bitte Sie, es anzunehmen. Aber ich möchte nicht, daß Sie es in der Form von mir in Empfang nehmen, wie ich es beim Auktionator erwarb, vielmehr möge es der Anlaß einer Freundschaft sein und engere, persönlichere Bande zwischen uns knüpfen.« »Gut«, sagte Armand und drückte mir kräftig die Hand. »Ich nehme es an und werde Ihnen mein ganzes Leben dafür dankbar sein.«

Ich hatte gute Lust, Armand über Marguerite zu befragen, denn die Widmung des Buches, die Reise des jungen Mannes, sein Wunsch, dies Buch zu besitzen, all das vergrößerte meine Neugier. Aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als habe ich das Geld deshalb nicht genommen, um mir das Recht zu erwerben, mich um die persönlichsten Angelegenheiten meines Besuchers zu kümmern.

Scheinbar erriet er meine Gedanken, denn er fragte mich:

»Sie haben das Buch gelesen?«

»Ja, von der ersten bis zur letzten Seite.«

»Und was haben Sie von den zwei Zeilen gedacht, die ich hineinschrieb?«

»Ich sah sogleich, wie wenig in Ihren Augen das arme Kind, dem Sie dies Buch schenkten, seinen Gefährtinnen glich. Für mich waren die zwei Zeilen mehr als nur ein banales Kompliment.« »Und mit Recht. Das Mädchen war ein Engel. Hier, lesen Sie diesen Brief.«

Er reichte mir ein Schriftstück, das er offenbar schon unzählige Male gelesen hatte. Ich entfaltete es; hier ist sein Inhalt:

»Mein lieber Armand, ich habe Ihren Brief erhalten, Sie schreiben mir so gütig wie früher, und dafür danke ich Gott. Ja, mein Freund, ich bin krank, ich habe ein Leiden, für das es keine Hilfe gibt. Aber die Anteilnahme, die Sie mir beweisen, hat meine Schmerzen um vieles gemildert. Ich werde wohl nicht mehr lange genug leben, um noch einmal beglückt die Hand drücken zu dürfen, die mir den gütigen Brief schrieb, den ich soeben erhielt, und dessen Worte mich heilen würden, wenn mich etwas heilen konnte. Ich werde Sie nicht wiedersehen, denn mein Ende ist nahe, und Hunderte von Meilen trennen uns. Armer Freund, Ihre Marguerite von einst ist sehr verändert. Vielleicht ist es besser, sie nicht wiederzusehen, so wie sie jetzt aussieht. Sie fragen mich, ob ich Ihnen verzeihe? Oh, von ganzem Herzen, mein Freund, denn der Kummer, den Sie mir bereiteten, war ja nur ein Beweis der Liebe, die Sie für mich empfanden. Seit einem Monat hüte ich schon das Bett und rechne so fest mit Ihrer Achtung, daß ich täglich mein Tagebuch führe, seitdem wir uns verlassen haben, bis zu dem Augenblick, an dem ich nicht mehr die Kraft haben werde zu schreiben.

Wenn Ihre Anteilnahme echt ist, Armand, dann gehen Sie nach Ihrer Rückkehr zu Julie Duprat. Sie wird Ihnen mein Tagebuch aushändigen. Sie werden darin die Ursache und die Entschuldigung für das finden, was zwischen uns vorgefallen ist. Julie ist gut zu mir. Wir sprechen oft von Ihnen. Sie war bei mir, als Ihr Brief ankam, und als wir ihn lasen, haben wir geweint. Sie war beauftragt, auch wenn ich keine Nachricht von Ihnen erhalten hätte, Ihnen die Aufzeichnungen zu übergeben, sobald Sie nach Frankreich zurückkehren. Sie brauchen mir nicht dafür zu danken. Die tägliche Erinnerung an die einzig glückliche Zeit meines Lebens bedeutet mir so viel! Wenn Sie in dem Tagebuch die Entschuldigung für Vergangenes finden, so bedeutet das für mich eine immer neue Erleichterung.

 

Ich würde Ihnen so gerne einige Kleinigkeiten hinterlassen, die mich immer wieder an Sie erinnern. Aber bei mir ist alles gepfändet, und mir gehört nichts mehr. Begreifen Sie, mein Freund? Ich werde sterben, und von meinem Schlafzimmer aus höre ich die Schritte des Wächters im Salon, den meine Gläubiger beauftragt haben aufzupassen, daß man nichts forttrage und damit mir nichts bleibe, für den Fall, daß ich nicht sterbe. Ich kann nur hoffen, daß man mit der Auktion bis nach meinem Tode wartet.

Oh, die Menschen sind mitleidslos! Oder vielmehr, Gott ist gerecht und unnachsichtig.

Nicht wahr, lieber Freund, Sie werden zu meiner Auktion kommen, und Sie werden das eine oder andere für sich kaufen. Denn wenn ich nur den kleinsten Gegenstand für Sie zur Seite legte, und man würde es bemerken, so wäre man imstande, Sie wegen Unterschlagung gepfändeter Sachen zu verklagen.

Es ist ein trauriges Leben, aus dem ich scheide! Möge Gott mir gnädig sein und mir erlauben, Sie, bevor ich sterbe, noch einmal zu sehen. Auf jeden Fall jedoch: Adieu, mein Freund. Verzeihen Sie, daß ich nicht länger schreibe. Aber die mich gesund machen wollen, rauben mir alle Kraft, weil sie mir so oft zur Ader lassen, und meine Hand verweigert weitere Dienste. Marguerite Gautier.«

Die letzten Worte waren wirklich kaum mehr lesbar. Ich gab Armand den Brief zurück, der offenbar, während ich die Worte auf dem Papier las, in Gedanken mitgelesen hatte, denn er sagte, als er den Brief wieder an sich nahm: »Wer würde je glauben, daß ein ausgehaltenes Mädchen dies geschrieben hat?«

Tiefbewegt von seinen Erinnerungen starrte er eine Weile auf die Schriftzüge des Briefes und preßte ihn dann an die Lippen. »Wenn ich bedenke, daß sie starb, ohne daß ich sie wiedersah, daß ich sie nie wiedersehen werde! Wenn ich bedenke, daß sie mehr für mich tat, als eine Schwester je für mich tun könnte, dann kann ich mir nicht verzeihen, daß ich sie so sterben ließ. Tot! Gestorben, in Gedanken an mich, mit meinem Namen auf den Lippen! Arme, geliebte Marguerite!« Armand ließ seinen Gedanken und seinen Tränen freien Lauf, reichte mir die Hand und fuhr fort:

»Man wird mich sehr kindisch finden, weil ich diese Tote so innig beweine. Aber nur, weil man nicht wissen kann, wieviel Leid ich dieser Frau zugefügt habe, wie grausam ich zu ihr war und wie gut und entsagend sie dagegen gewesen ist! Ich glaubte, ihr etwas verzeihen zu müssen. Heute halte ich mich ihrer Verzeihung nicht für würdig. Oh, ich würde zehn Jahre meines Lebens geben, wenn ich eine Stunde zu ihren Füßen weinen dürfte.«

Es ist immer schwer, jemanden zu trösten, dessen Kummer man nicht kennt. Aber der junge Mann war mir so sympathisch, so freimütig sprach er zu mir von seinem Schmerz, daß ich glaubte, meine Worte könnten ihm nicht gleichgültig sein. Ich sagte deshalb: »Haben Sie keine Eltern, keine Freunde? Fassen Sie Mut, gehen Sie zu ihnen, sie werden Sie trösten, denn ich kann Sie nur bedauern.«

»Es ist wahr«, sagte er, erhob sich und ging mit großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab, »ich langweile Sie. Verzeihen Sie, aber ich bedachte nicht, daß mein Schmerz Ihnen wenig bedeuten muß, daß ich Sie mit Dingen belästige, die Sie nicht interessieren können,«

»Sie haben mich falsch verstanden. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Ich bedauere nur mein Unvermögen, Ihren Schmerz zu lindern. Wenn meine Gesellschaft und die meiner Freunde Sie zerstreuen kann, wenn Sie mich in irgendeiner Weise brauchen können, so seien Sie überzeugt, daß es mir eine Freude sein wird, Ihnen behilflich zu sein.« »Verzeihen Sie, verzeihen Sie«, antwortete er, »Kummer macht überempfindlich. Lassen Sie mich noch einige Minuten hier verweilen, bis ich meine Tränen getrocknet habe. Die Gassenbuben sollen mich nicht wie ein Wundertier angaffen, mich, den großen Jungen, der geweint hat. Sie haben mich sehr glücklich gemacht, weil Sie mir das Buch überlassen haben. Ich weiß nicht, wie ich mich Ihnen jemals dafür erkenntlich zeigen kann.«

»Indem Sie mir ein wenig Ihre Freundschaft schenken«, sagte ich zu Armand, »und mir die Ursache Ihres Kummers erzählen. Es ist schon trostreich, wenn man über das, was einen bedrückt, sprechen kann.«

»Sie haben recht, aber heute würden die Tränen alles ersticken, und ich würde nur Unzusammenhängendes stammeln können. Eines Tages werde ich Ihnen alles erzählen, und Sie werden sehen, wie berechtigt meine Trauer um das arme Mädchen ist.«

Während er sich die letzten Tränen trocknete und in den Spiegel blickte, fügte er hinzu:

»Und jetzt sagen Sie mir noch, daß Sie mich nicht zu kindisch finden, und erlauben Sie mir, wiederzukommen.« Traurig und bewegt blickte der junge Mann mich an. Ich hätte ihn gerne umarmt.

Abermals verschleierten Tränen seine Augen. Er sah, daß ich es bemerkte und wandte sein Gesicht ab. »Nicht doch«, sagte ich, »fassen Sie Mut.« »Adieu«, antwortete er nur.

Und mit einer heftigen Anstrengung, um nicht erneut in Tränen auszubreiten, rannte er mehr, als er ging, davon. Ich hob den Fenstervorhang und sah, wie er in den Wagen stieg, der ihn vor der Tür erwartete. Aber kaum hatte er Platz genommen, als er von neuem zu weinen begann und sein Gesicht im Taschentuch verbarg.