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Corona Magazine #354: Juli 2020

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Z serii: Corona Magazine #354
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Kurzgeschichte des Monats

Liebe Kurzgeschichten-Freunde,

in unserer aktuellen Ausgabe gibt es gleich zwei Storys aus der Themenrunde »Diebe« zu lesen, beide von guten Bekannten. Nina Teller ist mit Von Superhelden und Superschurken diesmal auf dem dritten Platz gelandet, für Achim Stößer und Blauzahn gibt es die Silbermedaille. Den Sieger der »Diebe«-Runde präsentieren wir dann im kommenden Corona Magazine. Allen Lesern wünschen wir wieder viel Vergnügen bei der Lektüre und freuen uns genauso wie unsere Autoren über Rückmeldungen – ob per E-Mail oder in unserem Forum unter dem Dach des SF-Netzwerks (www.sf-netzwerk.de).

Die nächsten Themen unseres regelmäßigen Story-Wettbewerbs lauten »Narren« (Einsendeschluss: 1. November 2020) und »Alle Wege führen nach Rom« (Einsendeschluss: 1. März 2021). Wer Interesse hat, sich mit einer bislang unveröffentlichten Kurzgeschichte (Science-Fiction, Fantasy, Horror, Phantastik – keine Fan-Fiction) zu beteiligen, die einen Umfang von 20.000 Zeichen nicht überschreitet, schickt seine Story (möglichst als rtf-Datei, bitte auf keinen Fall als pdf) rechtzeitig per E-Mail an die Kurzgeschichten-Redaktion, die unter kurzgeschichte@corona-magazine.de zu erreichen ist. Die nach Meinung der Jury (meistens) drei besten Geschichten werden im Corona Magazine veröffentlicht.

Armin Rößler

Von Superhelden und Superschurken von Nina Teller

Blut tropfte aus James’ Nase und folgte dem Wasser in den Abfluss. Das weiße Porzellan des Waschbeckens spiegelte die Leuchtstoffröhre neben dem Badezimmerschrank. James zog die Clownsmaske ab. An seiner Wange klaffte ein Riss, dort hatte ihn ein Stiefel getroffen. Sein Kinn knirschte, wenn er es vorsichtig bewegte. Es schien nichts gebrochen zu sein.

Er befeuchtete die Hände, säuberte sein Gesicht und holte Tupfer und Jod hervor.

Als er die Wunde versorgt hatte und seine Nase nicht mehr blutete, steckte er das Kostüm in einen Müllbeutel, den er später heimlich in den Keller zur anderen Schmutzwäsche bringen würde. James sank aufs Bett, das zu dem Zweizimmerappartement gehörte, das er im Herrenhaus am Meerbuscher Golfplatz bewohnte.

Die Haustür knallte ins Schloss. »James?«, rief Christopher Pohlmann und ließ seinen Butler zusammenzucken.

James sprang auf, wischte die Blutreste aus dem Waschbecken und befreite seine Wange vom überschüssigen Jod. Die Wunde fiel auf. Natürlich. Wie sollte er sie erklären?

»James? Sind Sie da?«

»Ich komme.« Er streifte sich hastig das Hemd über und verknöpfte sich, hoffte jedoch, dass es nicht auffallen würde.

Zwei Minuten später trat er in die Eingangshalle. »Sie wünschen?«

Christopher sah weit weniger lädiert aus, als James angenommen hatte. Er stand Zigarillo rauchend an die Standuhr gelehnt und hatte sich die Maske abgenommen. Sein Kostüm war eine Anspielung an Batman, obwohl es — außer dem Butler — nicht viele Ähnlichkeiten gab. Christopher war kein Milliardärserbe, wenngleich seine Eltern vermögend waren, doch sie lebten noch und verbrachten diesen Sommer mit einer Reise durch Südamerika, weshalb das Herrenhaus ziemlich einsam war.

»James, ich habe wieder einen vertrieben!«

»Das ist wunderbar.« James nahm den Mantel entgegen, den Christopher — für einen Superheldennamen hatte er sich immer noch nicht entschieden — ihm entgegenstreckte. »Haben Sie ihn ordentlich vermöbelt?«

»Was ist mit Ihrer Wange passiert?« Selbst das schummrige Licht konnte James nicht vor dieser Frage schützen. Nur gut, dass Christopher beim Kampf gegen den Horrorclown nicht sehen konnte, wohin er ihn getreten hatte. Manchmal war das Leben ironisch; Christopher hatte ständig damit zu kämpfen, seine Unsichtbarkeit zu kontrollieren, James hingegen wünschte sich gerade nichts sehnlicher, als unsichtbar zu werden.

»Ich habe Kartoffeln für den Salat geschält, den es morgen zu Ihrem großen Dinner gibt und … äh … bin abgerutscht. Ich bitte um Verzeihung.«

»Das sieht übel aus, James.« Christopher bedeutete seinem Butler, ihm in das riesige Wohnzimmer zu folgen. »Vielleicht sollte sich das ein Arzt ansehen.«

»Das kommt nur vom Jod. Ich habe es desinfiziert. Es wird gut verheilen.« James räusperte sich. Die Müdigkeit holte ihn ein. Zurzeit schlief er nicht viel, weil er entweder seinen Aufgaben im Haus nachkam oder sich nachts als Bösewicht verkleidete, um Christopher ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Sein Körper beschwerte sich dagegen, schließlich war er nicht mehr der Jüngste. James hatte für Christophers Familie gearbeitet, als dieser noch ein Kind gewesen war, hatte ihn zeitweise betreut und war zu einem Freund geworden. Ohne es damals zu ahnen, hatte ihm der Junge über eine schwere Zeit geholfen, als James seine erste und einzige Liebe an Speiseröhrenkrebs verloren hatte.

»Setzen Sie sich«, sagte Christopher und deutete auf den Ohrensessel am Kamin.

»Das ist sehr großzügig.« James warf einen Blick auf den Ultra-HD-Fernseher und die Blu-ray-Sammlung, die er direkt morgen abstauben sollte. Im Herrenhaus trafen nicht nur bei den Bewohnern Generationen aufeinander, auch die Einrichtung war stilvoll zusammengewürfelt, manches davon stammte noch aus dem Baujahr 1832.

»Ich möchte meinen Sieg feiern.« Christopher ließ sich auf die graue Ledercouch hinab, schlug die Beine übereinander und griff die Flasche Single Malt, die er immer auf dem Beistelltischchen stehen haben wollte.

»Das haben Sie auch verdient. Die Stadt ist wieder ein bisschen sicherer geworden.«

Christopher goss zwei Gläser ein und reichte James eines davon.

In James’ Magen rumorte es, und wahrscheinlich war es keine gute Idee, sich Whisky auf sein Magengeschwür zu gießen, doch was im Leben, das sich gut anfühlte, war schon gesund?

»Wie haben Sie den Abend verbracht?«, fragte Christopher, nachdem er einen großzügigen Schluck getrunken hatte.

James’ schwitzende Finger glitten über das Glas. Hätte er sich doch nur die Zeit genommen, die weißen Handschuhe anzuziehen. Er griff nach seinem Kragen, zog ihn vom Hals weg. »Nachdem ich mit meinen Aufgaben fertig gewesen bin, habe ich gelesen. Harry Potter, der dritte Band. Ich kann einfach nicht genug davon bekommen.«

»Und die Kartoffeln?« Christopher schaute ihn an.

»Ja, die habe ich auch noch geschält.« Was war das nur für eine dämliche Ausrede gewesen? James versuchte, seinen Fuß stillzuhalten, doch es wollte ihm nicht gelingen. »Es hat ja nicht lange gedauert, wenn man von dem kleinen Unfall mal absieht.«

»Sie sind eine gute Seele. Eigentlich sind Sie der einzige Mensch, der es gut mit mir meint.« Christopher starrte wieder auf sein Glas. »Ich bin ein Versager, da hat meine Mutter recht.«

»Sie wissen, dass ich Ihre Mutter sehr schätze, aber ich muss ihr da widersprechen.«

»Sie wollen nur etwas sagen, das mich aufbaut. Das würdige ich, James, aber ich bin kein Kind mehr. Ich kann nicht mehr die Augen vor der Realität verschließen. Diese Kräfte … sie haben rein gar nichts verändert. Im Gegenteil! Alles ist den Bach hinuntergegangen.« Christopher stellte das Glas ab und stand auf. Seine unruhigen Schritte auf dem Eichenparkett spiegelten James’ rastlose Gedanken.

»Ich finde nicht, dass Sie Ihre Augen verschließen«, sagte James. Sein Frack drückte unangenehm am Bauch, weil die Knöpfe nicht richtig saßen, außerdem hatte er dorthin auch einen Tritt abbekommen. Sein Körper brannte an vielen Stellen. Er würde blaue Flecken bekommen, vielleicht sogar ein paar Schwellungen. Meistens tat er sich nicht viel, wenn er mit Christopher kämpfte, was zum einen daran lag, dass James die Flucht antrat, bevor es gefährlich wurde, aber zum anderen auch daran, dass Christopher nicht das Zeug zu einem Superhelden hatte.

Superkräfte allein reichten nicht.

»Mein lieber James, ich bin mittlerweile siebenunddreißig, und ich habe nichts erreicht. Die Leute haben recht, wenn sie sagen, dass ich ein Arschloch bin. Jahrelang habe ich mich nicht darum geschert, was andere machen, was andere wollen. Es ist doch nur logisch, dass ich keine Freunde habe — zumindest keine, die nicht an meinem Geld interessiert sind. Ich habe keine Kinder, immer noch nicht, weil es nie mit den Frauen klappen will. Ich habe einen Beruf, den ich nicht liebe, und eine Berufung …«

James biss sich auf die Zunge. Statt zu sprechen, schwenkte er den Whisky, wartete. Zugegeben, wenn er den Jungen nicht schon im Kindesalter lieb gewonnen hätte, würde es ihm hin und wieder schwerfallen, weiter für ihn zu arbeiten. Phasenweise war Christopher frustriert, wütend, saß nur noch vor dem Fernseher und ertränkte sein Selbstmitleid mit Alkohol.

Christopher schüttelte den Kopf. »Ich bin der schlechteste Superheld, den es jemals gegeben hat und geben wird.« Für einen Moment schaute er James an, dann setzte er seinen Weg durch das Zimmer fort. Hin und her. Her und hin. Immer wieder. »Es will einfach nicht klappen. Ich kann die verdammte Unsichtbarkeit nicht kontrollieren, dabei kann es doch nicht so schwer sein. Ich wollte etwas ändern, wollte Menschen helfen, wollte ein Held sein. Ich wollte endlich etwas anders machen! Meine Superkraft ist ein Witz. Es funktioniert nur dann, wenn es nicht funktionieren soll. Bei meinem letzten Date war ich so aufgeregt, dass ich, noch bevor der Kellner unsere Bestellung aufnehmen konnte, einfach verblasst bin. Puff und weg. Unsichtbar, in einer Situation, in der ich es ganz sicher nicht sein wollte. Stellen Sie sich das vor! Ich saß die ganze Zeit am Tisch, aber ich konnte nichts sagen, nichts machen. Ich konnte einfach nicht wieder sichtbar werden.«

 

»Sie werden es noch lernen. Es dauert eben seine Zeit.«

»Nein, nein, es … Ich hätte diese Kraft niemals annehmen sollen. Wissen Sie überhaupt, wie viel es mich gekostet hat?« Christopher setzte sich hin, trank einen Schluck, stand dann wieder auf. »Ich bin ein mieser Superheld. Ich sollte Diebe fangen, Schurken vertreiben, Bösewichte dingfest machen. Stattdessen kann ich nicht einmal kontrollieren, wann ich sichtbar bin und wann nicht.« Er deutete auf sein linkes Bein, das flackerte, immer wieder verschwand und dann wieder aufblinkte, als hätte es einen Wackelkontakt. »Sehen Sie. Ich hab nicht das Zeug zu einem Superhelden.«

James nahm einen Schluck Whisky. Seine Kopfhaut kribbelte. Was konnte er sagen? Was konnte er tun? Er konnte den Jungen nicht so niedergeschlagen sehen. Irgendwie musste James helfen können, wie er es immer dann tat, wenn er sich in ein Schurken-Kostüm zwängte und auf die Straße ging. »Aber Sie versuchen es«, sagte James. »Sie wollen etwas verändern.«

»Wollen ist nicht dasselbe wie es tun.« Christopher zündete sich einen Zigarillo an und reichte James das Etui.

»Danke, nein.« James starrte auf die Glut. Er fühlte sich gefangen in seiner Rolle als Butler und Ziehvater und seiner Rolle als Schurke. Irgendetwas musste er doch tun können, um Christopher glücklich zu machen.

»Ich bin ein selbstbezogener Trottel«, sagte Christopher schließlich.

»Mit Verlaub, aber das sehe ich nicht so.«

»Doch, Sie sehen es so. Jeder mit ein bisschen Verstand sieht es so, nur ich selbst wollte es nicht wahrhaben. Ich hätte das Geld, das ich diesem schmierigen Wissenschaftler gezahlt habe, damit er mir die Superkräfte überträgt, spenden können. Damit hätte ich wesentlich mehr Menschen geholfen als mit all meinen jämmerlichen Versuchen.« Christopher strich die Falten in seinem Kostüm glatt, zupfte daran. Der Zigarillo verglühte im Aschenbecher. »Darf ich Ihnen etwas beichten?«

»Alles, was Sie möchten.«

»Ich … ich weiß schon lange, dass Sie das sind.«

James lief es kalt den Rücken hinunter. »Verzeihung? Dass ich wer bin?«

»Alle. Die Diebe, die Einbrecher, die ganzen Superschurken, die die Stadt heimsuchen. Düsseldorf ist nicht Gotham City.« Christopher lachte trocken.

James schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, dass Sie mir nur eine Freude machen möchten, einen Erfolg geben. Aber wie gesagt, ich bin kein Kind mehr, man muss mich nicht beim Monopoly gewinnen lassen. Wenn ich Erfolg haben will, muss ich ihn mir verdienen.« Er kratzte sich am Kinn. »Das mit Ihrem Gesicht tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich hätte aufhören müssen, das weiß ich, aber wie gesagt, ich bin ein selbstbezogener Trottel. Es ging mir weniger darum, den Menschen zu helfen, als mich gut zu fühlen, weil ich es getan habe. Das muss aufhören, James.«

»Dann wollen Sie ab jetzt kein Superheld mehr sein?«

Christopher goss sich einen zweiten Whisky ein. »Ich war noch nie einer, und das habe ich begriffen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, einen neuen Weg zu finden. Ich bin immer für Sie da.«

»Das haben Sie bereits.«

»Darf ich fragen womit?«

»Ich werde lernen, mich aufzuopfern, so wie Sie es immer gemacht haben. Ich will ein netterer Mensch werden. Erinnern Sie sich noch daran, was Sie mir damals an meinem neunten Geburtstag erzählt haben? Sie haben mir gesagt, dass ich auf mein Herz hören soll, dass ich dann schon herausfinde, ob ich Lisa mag und ob sie mich mag.«

»Und jetzt wollen Sie Lisa aufsuchen? Hat sie nicht diesen Italiener geheiratet?«

»Nein, jetzt will ich kein Spinner mehr sein. Ich will auf mein Herz hören, will endlich leben und mich nicht für einen Helden halten müssen, der ich nicht bin. Ich habe mich in eine Fantasie verkrochen, die es nicht gibt. Es hat mir zu viel Zeit gestohlen und Ihnen ebenfalls. Der wahre Dieb war ich, und das tut mir leid.« Christopher stand auf. »Ich werde jetzt bei meinem Date von letzter Woche anrufen, ihr sagen, warum ich verschwunden bin, ihr erklären, was für ein Trottel ich bin, und fragen, ob sie mich noch haben will. Ich glaube, wir passen zusammen. Ich kann nicht schon wieder vor einer Frau weglaufen. Ich muss endlich Verantwortung für meine Gefühle übernehmen.«

»Das … nun, es freut mich, dass Sie sich dazu entschieden haben.« James versuchte zu lächeln, doch seine brennende und pochende Wange hielt ihn schnell davon ab.

»Sie sollten Ihr Gesicht kühlen«, sagte Christopher im Hinausgehen. »Und morgen nehmen Sie sich frei. Ach was, die nächste Woche.«

»Aber das Dinner. Ihre Gäste.«

»Die können auch mit einem Essen vom Lieferdienst glücklich werden.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Christopher.«

»Nein. Ich muss mich bedanken. Und ich muss mich entschuldigen. Ich habe Ihnen so viele Probleme bereitet. Ich habe Ihnen den Feierabend gestohlen, Ihre wohlverdiente Ruhe. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«

James ging in sein Zimmer und streifte das Hemd ab. Den Müllbeutel mit dem Kostüm würde er gleich morgen früh in die Tonne werfen, nie wieder waschen. Die Zeit, dass er sich verkleiden musste, war vorbei. Er würde auch so ein Auge auf Christopher haben können, würde immer versuchen, eine Hilfe zu sein.

James würde sich endlich wieder den Aufgaben widmen können, für die er ausgebildet worden war. Im Haus machte er eine bessere Figur als in dunklen Gassen. Sein Körper würde es ihm danken, denn er war kein Superschurke — und Christopher kein Superheld.

*

Über die Autorin:

Nina Teller wurde 1987 im Fichtelgebirge geboren und lebt jetzt im Teutoburger Wald, wo sie ihren Lebensgefährten mit der Ukulele terrorisiert, asiatische Gerichte ausprobiert und sich über jeden Schneetag freut.

Zu ihren Lieblingsgenres gehören Horror, Thriller, Fantasy und Sci-Fi. Sie veröffentlicht Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften, unter anderem Shinrais Gebet in: Michael Schmidt (Hrsg.), Das Schiff der Spione, 2019.

https://www.ninateller.de/

Blauzahn von Achim Stößer

Ankertau setzte Blaubohnenmilch für einen Pudding auf, als das Telefon klingelte. Er lief zur Wand, an der der Apparat hing, dunkelgrün mit hellgrün-transparenter Wählscheibe, und meldete sich.

»Weshalb ich anrufe, Tau …«, sagte Quarzerz unvermittelt, nachdem das Begrüßungsgeplänkel vorüber war. Endlich kam sie zur Sache.

»Augenblick«, unterbrach Ankertau, denn die Milch begann überzukochen und zischte auf der Herdplatte. Er sprang zum Herd, schob rasch den Topf von der heißen Platte auf eine kalte und verzog das Gesicht. Dann klemmte er den Hörer zwischen Kopf und Schulter, was nicht ganz einfach war, da das Spiralkabel sich straff quer durch die Küche zog, verrührte ein paar Esslöffel Steinrübenstärke und Süßrohrzucker und einen halben Teelöffel gemahlene Cremeblüten mit kalter Milch.

»Hast du heute Nacht schon etwas vor?«, fragte Quarzerz.

»Bislang nicht. Worum geht’s?«, erwiderte Ankertau. Wie er dieses um den Dorfplatz Mäandern hasste. Er goss die Mischung in den Topf zur heißen Milch, während er mit einer Gabel umrührte.

»Da ist dieser Springdrache.«

»Ja?« Der Pudding war angedickt, und Ankertau goss ihn in kalt ausgespülte Glasschälchen.

»Eingepfercht in einem winzigen Verschlag. Ganz in der Nähe, bei Ogersheim in der Ostpfalz.«

Ankertau hob die Brauen. So nah war die Ostpfalz nun nicht. Zwar waren Springdrachen beliebte Wach- und Hausdrachen; manche lebten fast wie Familienmitglieder oder Kinderersatz bei Leuten, die zugleich andere Drachen und Halbdrachen wie auch Oger, Engel, Kobolde usw. nur als Quelle für Nahrung, Kleidung, kurz: als Nutzgegenstände betrachteten. Doch viele Springdrachen wurden oft ihr Leben lang angekettet oder eingesperrt, nicht nur dort, überall. »Kommst du zur Sache, bitte«, sagte er nun direkt. »Ich koche gerade.« Eigentlich war der Pudding fertig und musste nur noch abkühlen, aber er hoffte, dass der Hinweis das Gespräch beschleunigen und somit abkürzen würde.

»Ich muss ihn da herausholen.«

»Dachte ich mir schon«, sagte Ankertau, während er kaltes Wasser in den Topf laufen ließ, um ihn zu spülen. »Und?«

»Ich kann das nicht allein, Tau. Würdest du …«

»Sicher. Du hast ja auch keinen Schreitwagen, glaube ich, oder?« Er nahm ein Schälchen des Puddings, der blassblau war wie seine bleiche Haut, und begann, ihn, obwohl er noch warm war, auf dem Weg ins Wohnzimmer auszulöffeln. »Gibt es denn scho…«, er schluckte, »… schon einen Aufnahmeplatz?«

»Leider nicht. Aber er muss ganz dringend da raus, verstehst du? Ich dachte, du könntest vorübergehend …«

Ankertau ließ sich in einen Sessel fallen, der so nah an der Küche stand, dass das Spiralkabel des Telefons gerade noch reichte, und seufzte. »Klar. Wann und wo treffen wir uns?«

*

Die bleichen Äste der Bäume wirkten in der Dunkelheit wie Knochenfinger, die nach den vorüberziehenden Schreitwagen griffen. Der Wagen vor ihnen wirbelte das trockene Herbstlaub auf, die Scheinwerfer verwandelten die fliegenden gelben, orangen und roten Blätter in stiebende Funken eines Lagerfeuers.

Die Fahrt zog sich auf der immer leerer werdenden Schreitwagenbahn dahin. Ankertau setzte gerade an, einen Lastschreitwagen zu überholen, als sich ohne Vorwarnung dessen Stoßstange löste und auf die Straße krachte. Ankertau warf rasch einen Blick in den Rückspiegel, stieg, als er sah, dass niemand ihnen folgte, auf die Bremse und brachte den Wagen fingerbreit vor dem Hindernis zum Stehen. Er fluchte. »Großartig«, sagte er. »Der Sohlenabrieb dürfte die Wagenbeine ruiniert haben.« Der Lastschreitwagen war verschwunden, weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen. Ankertau ließ den Wagen auf den Seitenstreifen gehen, stieg aus, holte die Stoßstange und warf sie über die Leitplanke ins Gebüsch. Dann fuhren sie vorsichtig weiter. Immerhin konnte der Wagen noch laufen.

Bald darauf verließen sie die Schreitwagenbahn an der Ausfahrt Steinbach, bogen ab und fuhren unmittelbar durchs Nichts. Dunkelheit, nur hin und wieder rissen die Scheinwerfer für einen Augenblick ein Wilddrachenwechselschild aus der Schwärze. Eine Landstraße, die den Namen kaum verdiente. Hier und da sahen sie im Dunklen schemenhaft eingepferchte Mastdrachen oder auch große Herden Schneedrachen, die noch ein paar Dutzendtage gemästet werden mussten bis zum Allerlichtertag, doch in den Pferchen, um die ein Elektrozaun lief, blieben, weil ihre Flügel gestutzt waren, sodass sie nicht davonfliegen und entkommen konnten.

»Da vorne nach dem Sägewerk musst du rechts«, unterbrach Quarzerz das Schweigen.

Das Scheinwerferlicht ließ Bretterstapel und Sägemehlhaufen aus der Dunkelheit auftauchen, Ankertau bog ab. Sie fuhren noch anderthalb Tausendschritt, dann rief Quarzerz: »Da! Da ist es.« Ankertau bremste und ließ den Wagen auf dem schmalen Seitenstreifen am Waldrand auslaufen. Quarzerz nahm ihren Rucksack, und sie stiegen aus.

Als Quarzerz die Tür zuschlug, zischte Ankertau ihr ein »Schsch!« zu, von einem Riesenbaum flogen Schwarzdrachen auf, die dort geschlafen hatten, um bei Tag Saat von den Feldern zu stibitzen, als der Lärm sie aufschreckte, und im Gehölz raschelte und knackte es, während wohl ein Ork oder ein Tatzelwurm sich davonstahl. Der herbstliche Wald roch modrig.

Ankertau schloss vorsichtig und fast geräuschlos seine Tür. Er versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Fast einen Tausendschritt entfernt schwebten ein paar schwach erleuchtete Fenster in der Schwärze. Nur der dunkelblaue Himmel, an dem keiner der Monde leuchtete, ließ die Silhouetten der hügeligen Landschaft und des Hauses erahnen. Immerhin waren sie selbst so auch kaum zu entdecken.

Wortlos überquerten sie die Straße und gingen querfeldein über die Äcker auf das Haus zu. Der Ackerboden war trocken, weil es schon länger nicht mehr geregnet hatte, dennoch sanken ihre Füße tief in die Erde ein, was das Gehen beschwerlich machte.

 

Nicht weit entfernt flohen ein paar gespenstisch weiße Engel, die sich ängstlich in eine Kuhle gedrückt hatten, als die beiden ihnen zu nahe kamen.

Auch ein Schleichdrache stakste über das Feld, zog aber unbeirrt weiter, nachdem er sie aus leuchtenden Augen kurz gemustert hatte.

Als sie sich dem Haus bereits gefährlich genähert hatten, flüsterte Ankertau: »Wie weit denn noch?«

»Hier muss es gleich sein«, antwortete Quarzerz ebenso leise. »Es ist ein Stück abseits, sie wollen wohl nicht durch das Fauchen gestört werden. Da!« Tatsächlich hörten sie in diesem Augenblick ein leises Geräusch, das von einem fauchenden Drachen stammen musste. Offenbar hatte das Tier sie bereits bemerkt.

Kurz darauf standen sie vor einem verwitterten hölzernen Geräteschuppen. Das Fauchen war nun deutlich zu hören. Sie gingen herum zur anderen Seite, wo sie die Tür fanden. Ankertau hob die Taschenlampe und bedeckte sie vorn mit der Hand, sodass nur ein winziger schwacher Lichtfinger herausstach. Dennoch blieb er darauf bedacht, das Licht mit seinem Körper in Richtung des Wohnhauses abzuschirmen. Einen Augenblick später schaltete er die Lampe schon wieder aus, er hatte genug gesehen. Die Tür war nur mit einem einfachen Riegel verschlossen, kein Schloss, das es aufzubrechen galt. Er schob den Riegel beiseite und öffnete vorsichtig die Brettertür, langsam, sodass das Knarzen der Scharniere sich in Grenzen hielt, und nur so weit, dass sie, als keine Drachennase im Spalt auftauchte, hineinschlüpfen konnten.

Quarzerz schaltete ihre Taschenlampe ein. Weiß leuchtete der aufgewirbelte Staub wie winzige Schneeflocken in der Luft. An der Wand hingen rostige Hacken, Spaten, Rechen und Schaufeln. Im hinteren Bereich erkannten sie einen Verschlag, mit einer Tür abgetrennt, die aus Maschendraht, der auf einen hölzernen Rahmen gespannt war, bestand. Darin saß ein fauchender Springdrache, der sich verängstigt an die Hinterwand presste. Der Verschlag, gerade mal eine Armlänge breit und tief war so eng, dass er sich darin kaum umdrehen konnte.

Aus dem Rucksack zog Quarzerz ein Gläschen Babybrei, Gelbwurz mit Kegelfrucht. Sie schraubte den Deckel ab, näherte sich vorsichtig dem Verschlag und hielt das Glas schräg an den Maschendraht.

Der Drache verstummte, fauchte noch einmal auf. Dann schob er vorsichtig den Kopf vor und schnüffelte. Springdrachen gab es in den unterschiedlichsten Größen, Formen und Farben. Dieser hier war mittelgroß, sein Widerrist kaum mehr als kniehoch.

Ankertau hatte unterdessen ebenfalls seine Lampe eingeschaltet, um die Maschendrahttür zu untersuchen. Der Gestank war kaum zu ertragen, als er sich ihr näherte, der ganze Boden des Verschlags war mit Drachenkot bedeckt, der auch an den verkrusteten Füßen des Drachen klebte. In einer Ecke standen zwei Blechnäpfe neben einer Luke, die nur eine mit Drahtscharnieren befestigte Klappe an einem ausgesägten Rechteck in der Bretterwand war, groß genug, um die Näpfe hindurchzuschieben.

Im Taschenlampenlicht sah Ankertau eine auffällige Zeichnung an der Flanke des grün schillernden Drachen, ein blaues Zackenmuster. Statt zu fauchen, züngelte der Drache nun. Seine Zunge schnellte heraus und fuhr wieder zurück, bis sie schließlich durch den Maschendraht ins Glas griff und den Brei herauszulecken begann.

Die Scharniere der Tür bestanden nur aus dickem Draht, der Verschluss war nichts als ein Haken, der in eine Öse an der Wand griff. Überall an der Tür hingen dichte Schleier staubiger Fadenwurmgespinste, offenbar hatte sie seit Langem niemand mehr geöffnet.

Ankertau hob den Haken aus der Öse und zog vorsichtig die Tür des Verschlags auf. Die Gespinstschleier dehnten sich ein wenig, dann zerrissen sie. Quarzerz hatte das Glas auf dem Boden abgestellt, nun legte sie dem Drachen, während dieser die Reste ausleckte, zu ihm hinuntergebeugt ein Geschirr um und sprach beruhigend auf ihn ein.

Sie löschten die Taschenlampen. Ankertau öffnete die Schuppentür einen Spalt breit und spähte hinaus. Dann öffnete er sie und sie gingen zu dritt hinaus.

Kurz darauf fuhren sie davon, Quarzerz saß mit dem Drachen auf der Rückbank. »Das lief einfacher als erwartet«, sagte Ankertau, als sie auf die Schreitwagenbahn auffuhren. In diesem Augenblick sprang der Drache nach vorn auf Ankertaus Schoß, sodass dieser das Steuer verriss und gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, bevor sie in die Leitplanke prallten, weil er wegen der abgeriebenen Sohlen besonders bedächtig gefahren war. »Ah«, sagte er in gespieltem Schrecken, während der Drache sein Gesicht ableckte. »Kannst du ihn bitte hinten behalten?« Gemeinsam bugsierten sie den zappelnden Drachen wieder auf den Rücksitz, und Quarzerz hielt ihn am Geschirr fest.

*

Ankertau lag am Dutzendtagende darauf halbwach im Bett. Singdrachengezwitscher hatte ihn geweckt, obwohl es draußen noch stockfinster und er todmüde war. Die nächtliche Aktion drei Tage zuvor hatte seinen Tag-Nacht-Rhythmus völlig durcheinander geworfen.

Blauzahn hatte es sich am Fußende des Betts bequem gemacht, den Kopf auf die nach einer Dusche, die sie widerstrebend über sich hatte ergehen lassen, nun vom Kot befreiten Vorderbeine geschmiegt, und betrachtete Ankertau stoisch, bis es an der Tür läutete – sofort sprang sie auf und stürmte, die strahlend weißen Zähne entblößt, fauchend davon.

»Ich komme«, rief Ankertau, während er seine Kleidung vom Boden aufsammelte und hineinschlüpfte.

Blauzahn hatte sich auf die Hinterbeine aufgerichtet, um fauchend mit den Krallen an der Tür zu kratzen. Ankertau hatte Mühe, sie zu öffnen. Quarzerz stand davor und stürmte sichtlich erregt herein.

Ankertau brummte missgelaunt mit zusammengekniffenen Augen, das Höchstmaß an Begrüßung, das er in diesem Zustand zustande brachte. Blauzahn dagegen hieß Quarzerz tänzelnd und schwanzwedelnd willkommen, während sie an ihr hochsprang. »Wir stehen in der Presse«, sagte Quarzerz scharf, während sie mit der einen Hand Blauzahn kraulte und mit der anderen Ankertau eine zusammengerollte Zeitung entgegenstreckte. »Seite zehn.«

Ankertau entfaltete die Zeitung umständlich. Es handelte sich um die Ogersheimer Ausgabe des Ostpfalzboten, nicht gerade Weltpresse. Noch immer verschlafen blätterte er, die Zeitung vor sich ausgestreckt, lustlos hin und her, ohne die angegebene Seite zu finden. »Was steht denn drin?«, fragte er, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder.

»Ein jammervoller Artikel über den dreisten Diebstahl eines geliebten Hausdrachen, den der Besitzer liebevoll vom Schlüpflingsalter an aufgezogen hat, die Kinder, die immer mit ihm gespielt hätten, seien nun todtraurig. Drei Spalten! Mit Bild!«

Endlich fand Ankertau den Artikel. Das grob gerasterte, zweispaltige Schwarzweißfoto zeigte einen Mann in dunkler Winterkleidung, neben ihm im Schnee an einer Leine einen Springdrachenschlüpfling, trotz fehlender Farbe am Zackenmuster unschwer, wenn auch noch kindlich, als Blauzahn zu erkennen. Ein neueres Foto hatten sie wohl nicht gehabt, es hätte auch nicht gut zu der rührseligen Geschichte gepasst.

Endlich wurde sein Blick so klar, dass er zumindest den Titel entziffern konnte. Offenbar handelte es sich um ein reißerisches Zitat des armen Diebstahlopfers, das der Reporter, wie den ganzen Rest des Ammenmärchens, unhinterfragt übernommen hatte: »Dem Dieb sollen die Finger abfaulen!«

*

Über den Autor:

Achim Stößer studierte Informatik an der Universität Karlsruhe, wo er anschließend einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, und hatte einen Lehrauftrag an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seit 1988 veröffentlicht er in Anthologien und Zeitschriften, darunter in einigen Bänden der Science-Fiction-Reihe Wolfgang Jeschkes und mehrmals im Corona Magazine (zuletzt Quiz, 2/19, Uberman, 1/18, Torpor, 8/17, Schwerer als Luft, 9/16). Sein Erzählband Virulente Wirklichkeiten erschien 1997 im dot-Verlag.

1998 gründete er die Tierrechtsinitiative Maqi. So sind Antispeziesismus (und damit Veganismus), Antitheismus, Antirassismus, Antisexismus, Antifaschismus usw. Hauptthemen seiner Erzählungen und auch seiner Cartoons. Blauzahn ist Teil einer (weitgehend autobiografischen) Fantasy-Reihe um die Tierrechsgruppe »Draqi«.