Allgemeine Staatslehre

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II. Wie entstehen Staaten, welche staatlichen Wandlungsprozesse lassen sich unterscheiden und wie
und wann gehen Staaten unter?

Während die heutige Welt im Wesentlichen von Nationalstaaten überzogen ist, war das aus historischer Perspektive anders. Der Status Quo ist das Ergebnis einer dauerhaften, bisweilen wellenmäßigen Entwicklung, die sich auch zukünftig fortsetzen wird. Der Blick auf die bisherige Entwicklung und damit auf die Entstehung und Veränderung der Staaten ist auch für die Allgemeine Staatslehre im Hinblick auf die Einordnung heutiger Geschehnisse von Interesse.

|65|1. Entstehung von Staaten

Mit der originären und der derivativen Form der Staatsentstehung lassen sich zwei grundlegende Arten unterscheiden, wie sich staatliche Strukturen auf einem Gebiet ausbilden können.

a) Originäre Staatsentstehung

Die Entstehung staatlicher Strukturen auf Territorien, wo zuvor keinerlei Staatlichkeit oder staatsähnliche Strukturen existierten wird als originäre Staatsentstehung bezeichnet. Originäre Staatsentstehungsprozesse sind heute praktisch nicht mehr denkbar – der gesamte Erdball ist von Staaten besetzt, allenfalls partiell finden sich innerhalb dieser Staaten abgeschiedene (und geduldete) Regionen, wo Staatsentstehungen theoretisch denkbar wären.[366] Auch die Entstehung von Staaten aus vorstaatlichen Herrschaftsgebilden, die immerhin noch bis ins 19. Jahrhundert zu beobachten war, ist keine originäre Staatsentstehung in diesem Sinne, sofern sie sich unter dem Einfluss und nach dem Vorbild anderer Staaten vollzieht, da ein bestehendes Staatensystem dann bereits vorausgesetzt wird.[367]

Auch wenn es schwierig ist, den genauen Anfangspunkt entsprechender „erster“ staatlicher Entwicklungen zu bestimmen,[368] da dieser im Dunkel der Frühzeit liegt und nur archäologisch erschlossen werden kann, steht fest, dass die neolithische Revolution[369] einen zentralen Wendepunkt |66|einleitete.[370] Mit der (ebenfalls prozesshaften)[371] Domestizierung von Pflanzen und Tieren und der damit einhergehenden Sesshaftwerdung – Jagen und Sammeln spielten allerdings zunächst weiterhin eine große Rolle – wurden zwischen 10.000–5000 v. Chr. weltweit Prozesse in Gang gesetzt,[372] die in einem mehrere Jahrtausende währenden komplexen, keineswegs geradlinigen und nicht immer erfolgreichen Prozess[373] zur Entstehung der ersten „staatlichen“ Hochkulturen als Vorläufer der heutigen modernen Staaten führten.[374] Zu Beginn der neolithischen Revolution handelte es sich vornehmlich um kleinere Dorfgemeinschaften, deren Zusammengehörigkeit auf verwandtschaftlichen Beziehungen und daraus resultierenden Lineages[375] beruhte und bei denen die Versorgung des je eigenen Haushalts im Vordergrund stand.[376] Auf diese Weise entwickelten sich segmentäre Gesellschaften[377] mit unterschiedlichen verwandtschaftlichen Verbindungen, die im Laufe der Zeit (nicht zuletzt über beachtliche Heiratsregelungen) eine erstaunliche Komplexität erreichen konnten und deren Fortbestand zudem von gemeinsamen Ritualen und Erzählungen, mithin von sprachlichen Narrativen[378] abhängig war. |67|Wichtig ist die Erkenntnis, dass diese segmentären Gemeinschaften weder als starr, noch als unpolitisch[379] angesehen werden können.[380] Sie unterlagen einem steten strukturellen Wandel, der mit den Reproduktionsproblemen der Sesshaftwerdung ebenso zusammenhing, wie mit wandelnden Einflüssen einzelner Lineages (Familien und Personen) und sich vor allem in veränderten Macht- und Herrschaftsstrukturen niederschlug. Einmal etablierte Strukturen waren nie von Dauer, weil sie angesichts der mit ihr einhergehenden sozialen Asymmetrie innerhalb der Gemeinschaft stets verletzlich blieben. Folgt man diesen Erkenntnissen der modernen politischen Anthropologie dürfte es vollständig egalitäre Gesellschaften entgegen früheren Vorstellungen zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte gegeben haben,[381] was den heutigen Versuch entsprechende Gesellschaften errichten zu wollen aus historischer Perspektive fragwürdig erscheinen lässt. „Kurz gesagt: es gibt keine Gesellschaft ohne politische Macht und keine Macht ohne Hierarchie und Beziehungen der Ungleichheit zwischen den Individuen und den sozialen Gruppen.“[382] Schon Hans Kelsen hat zutreffend betont, dass „die Tendenz zum Zwang schon der die primitivste Gruppe konstituierenden sozialen Ordnung“ immanent sei.[383] Was daraus zugleich folgt, ist die Historisierbarkeit der ersten segmentären Gesellschaften; sie sind nicht geschichtslos und können und müssen aus einer prozesshaft-historischen Perspektive beleuchtet werden, was denn auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt geschieht. Der entscheidende Sprung dieser Gesellschaften zur staatlichen Hochkultur hängt damit aber nicht an ihrer seit jeher vorhandenen Politisierung,[384] und erst recht nicht an einem wie auch immer gearteten Monopol |68|legitimer Gewaltausübung, wie in Nachfolge Max Webers[385] bisweilen angenommen wird,[386] oder aber an der Existenz von Zwang überhaupt, da diese jeder sozialen Ordnung jedenfalls latent immanent ist.[387] Entscheidend ist vielmehr ihre veränderte mitgliedschaftliche Struktur. Während vorhochkulturelle Gesellschaften zwar komplex aber gleichwohl verwandtschaftlich organisiert waren, gelang es den staatlichen Hochkulturen auch nicht-verwandte Personen in das Gesellschaftssystem als ordentliche Mitglieder (und nicht als reine Sklaven) zu integrieren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft wurde von der verwandtschaftlichen und positiven Reziprozität gelöst,[388] der Führungsanspruch des Häuptlings beruhte nicht mehr auf familiär-traditionellen, sondern anderen Kriterien und konnte dadurch auch von nicht verwandten Mitgliedern akzeptiert werden (balancierte Reziprozität).[389] Dass die Verwandtschaft im Hinblick auf die soziale Stellung weiterhin eine bedeutende Rolle spielte, versteht sich von selbst (und ist in vielen modernen Staaten, bisweilen auch in Demokratien,[390] bis heute der Fall). Im Übrigen aber lösten sich die Herrscher aus den Bindungen der Verwandtschaftssysteme und gewannen an Entscheidungsfreiheit und Bestimmungsgewalt. Diese in der veränderten Mitgliederstruktur neuartige Integrationsleistung wird man im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entstehung moderner Staatlichkeit kaum überbewerten können. Umso beachtlicher ist der Umstand, dass sich solche hochkulturellen Gesellschaften praktisch auf allen Erdteilen unabhängig voneinander herausbildeten, wenn auch zeitlich auseinanderliegend. Es handelte sich also mitnichten um eine europäische Entwicklung:[391] Zunächst in Mesopotamien (in den sumerischen Städten bereits um 3500 v. Chr.), sodann in China und Südamerika.[392] Ägypten dürfte ebenfalls als Beispiel einer unabhängigen originären Staatsentstehung anzusehen sein, wenngleich wohl bereits frühzeitig Handelsbeziehungen zu Mesopotamien bestanden.[393] Im Industal ist die archäologische Forschung nicht ganz |69|eindeutig, gleichwohl wird man der Harappa-Kultur[394] (um 2300 v. Chr.) Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in der Entstehung zusprechen können. Die genauen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Entwicklung sind weiterhin nicht umfassend geklärt.[395] Am wahrscheinlichsten dürfte eine Mischung aus institutionell-organisatorischen Herausforderungen der neolithischen Revolution (vor allem im Hinblick auf die nunmehr begrenzte Territorialität der Anbauflächen) und eines sich daraus ergebenden kognitiven Wandels sein,[396] mithin eines veränderten Weltbildes, bei dem vor allem die frühen Tempelanlagen und die Tempelwirtschaft eine entscheidende Rolle spielten. Hinzu kommt die zuerst in Mesopotamien zu beobachtende Urbanisierung,[397] eine Knappheit an Großwild sowie die Bevölkerungsstruktur. Unabhängige Hochkulturen entwickeln sich nur in wenigen Kerngebieten mit hoher Bevölkerungsdichte, in denen ein größeres Netzwerk politischer Herrschaftsgebilde („Cluster“) entsteht,[398] die in einem permanenten auch kriegerischen Wettbewerb zueinander stehen.[399] Hier wird die archäologische Forschung weitere Erkenntnisse liefern, die neben der (politischen) Anthropologie und der historischen Soziologie vornehmlich gefordert ist. Hinzu kommt die Sozio-Biologie, die erhellende Einblicke liefern kann, wie unlängst Mark W. Moffett gezeigt hat.[400] Die Allgemeine Staatslehre, die sich nicht als genuin historische Wissenschaft ansehen sollte und dem Anspruch, das Wesen der Staatlichkeit auch in geschichtlicher Perspektive zu ergründen von vornherein nicht gerecht werden könnte, kann dazu nur wenig beitragen. Gleichwohl kann sie bei einer Beschreibung der heutigen Staatenwelt und der heutigen Herausforderungen in zumindest drei Bereichen von den Erkenntnissen |70|bezüglich der Entstehung der ersten staatlichen Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit profitieren:

 Erstens im Hinblick auf den Begriff des Politischen, der in seinem Inhalt nicht vorschnell mit den politischen Institutionen des modernen europäischen Staates oder wie bei Georg Jellinek überhaupt mit dem Begriff des Staates verknüpft werden sollte.[401] Politisches Handeln in Form von Herrschafts- und Machtausübung[402] im Weber’schen Sinn und darin begründeter sozialer Schichtung hat es seit jeher und nicht nur in Europa gegeben. Das Politische[403] wird insofern durch den Bezugspunkt der Herrschaft konstituiert. Adressat und Autor der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist das öffentliche Gemeinwesen, auch wenn lediglich Einzelne durch die Entscheidung betroffen sind oder die Entscheidung durch Einzelne getroffen wird. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn des Begriffs, der auf die Polis und damit auf die überindividuelle öffentliche, nicht ausschließlich private Bedeutung von Entscheidungen verweist.[404] Die Bestimmung des Politischen ist daher auch von den Betroffenen und den Akteuren des Gemeinwesens abhängig und damit von den Anschauungen der politischen Gemeinschaft geprägt.[405] Damit ist die verbindliche Entscheidung individueller Konflikte durch ein Gemeinwesen nichts anderes als politische Herrschaftsausübung – und die findet sich in allen frühen Gesellschaftsformen, die daher als politisch angesehen werden können und müssen. Politische Herrschaft ist nicht zwingend an ein bestimmtes, fest umgrenztes Territorium gebunden, wenngleich sie sich regelmäßig dort auswirkt,[406] hängt aber auch nicht an einem irgendwie gearteten Gewaltmonopol.[407] Wie solche Entscheidungen zustande kamen und woraus sie ihre Legitimität schöpften ist auch für eine moderne Allgemeine Staatslehre bedeutend. Der Staat, erst recht der moderne Staat, ist dagegen eine spätere Entwicklungsstufe, die in komplexeren Gesellschaften entstehen |71|kann und durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsfunktionen und -strukturen gekennzeichnet ist. Er ist natürlich politisch, bildet aber nicht den gesamten Raum des Politischen ab.

 

 Zweitens im Hinblick auf das Verständnis des Wandels von Staatlichkeit. Solche transformatorischen Prozesse lassen sich auch in vorstaatlichen Strukturen nachweisen und machen nachgerade das Wesen jeder (politischen) Gemeinschaft aus. Darüber, wie ein solcher Wandel unter welchen Voraussetzungen friedlich ablaufen kann, lassen sich durch diesen Blick zurück auch heutige Transformationsprozesse besser einordnen und verstehen. Hier werden zu einem gewissen Grad wohl auch genuin menschliche Eigenschaften wirksam, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Jedenfalls wäre es verfehlt zu glauben, dass die ersten Gemeinschaften bis zur Ankunft der Europäer keine solchen Prozesse durchlaufen hätten.

 Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht. Wir brauchen mit Danielle Allen auch heute eine „Kunst des Brückenbauens“,[408] um eine „Interaktionskultur zu schaffen, die dazu beiträgt, dass den Menschen soziale Verbundenheit gelingt.“[409] Kunst und Kultur könnten hier eine wichtige Rolle spielen.

b) Derivative Staatsentstehung

Während originäre Staatsentstehung ein historischer Vorgang ist, sind Formen derivativer (abgeleiteter) Staatsentstehung auf Territorien, die schon zuvor zu einem Staat gehörten, immer wieder auf der Tagesordnung. Jüngere Beispiele sind der Südsudan (2011), das Kosovo (2008), Montenegro (2006) oder Osttimor (2002). Somaliland sieht sich nach seiner Abspaltung von Somalia im Jahr 1991 als eigenständiger Staat, wird völkerrechtlich allerdings (bisher) nicht anerkannt. Nordmazedonien existiert zwar erst seit Anfang 2019, Hintergrund bildete jedoch lediglich die mit Griechenland nach langen Verhandlungen vereinbarte Umbenennung der bereits seit 1991 bestehenden Republik Mazedonien (eine Veränderung der politischen Organisation oder gar eine derivative Staatsentstehung war damit nicht verbunden). |72|Die aktuelle Staatenwelt präsentiert immer eine Momentaufnahme, die steter Veränderung unterliegt. Aus völkerrechtlicher Perspektive – und diese ist in dieser Hinsicht zentral – lassen sich fünf Formen derivativer Staatsentstehung unterscheiden. Für alle lassen sich historische Beispiele angeben:

 Dismembration. Diese bezeichnet den Zerfall eines modernen Staates in zwei oder mehr neue Staaten, die umfänglich an die Stelle des bisherigen Staates treten.[410] Der alte Staat geht vollständig unter. Als Völkerrechtssubjekte sind die neuen Staaten mit dem alten Staat nicht mehr identisch (ohne dass damit etwas über mögliche völkerrechtliche Haftungsfragen ausgesagt wäre). Historisch unumstrittene Beispiele bilden der Zerfall der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn in die Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien (1918), der Tschechoslowakischen Bundesrepublik in die Staaten Tschechische und Slowakische Republik (1993) sowie der Untergang der ehemaligen UdSSR Ende 1991. Umstritten ist die Einordnung des Zerfalls Jugoslawiens (1992).

 Sezession. Bei der Sezession spaltet sich ein Teilgebiet eines bestehenden Staates ab, auf dem sodann ein neuer Staat gegründet wird. Der alte Staat bleibt in veränderter territorialer Gestalt bestehen. Die Voraussetzungen unter denen eine solche Abspaltung zulässig ist – nicht zuletzt die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker –, sind völkerrechtlich umstritten und hängen auch von der konkreten Verfassungsordnung ab. Historische Beispiele sind die Errichtung des Staates Griechenland durch Abspaltung vom Osmanischen Reich (1830), die Sezession Belgiens vom Königreich der Niederlande (1830) oder die Gründung des Irischen Freistaats durch Abspaltung vom Vereinigten Königreich (1922). Aktuelle Sezessionsbewegungen finden sich in Katalonien (zu Spanien gehörend) und – vor dem Hintergrund des nunmehr vollzogenen Brexit – in Schottland (zum Vereinigten Königreich gehörend).[411]

 Annexion. Die Annexion meint die erzwungene (einseitige) Eingliederung eines fremden Staatsgebiets (entweder vollständig oder teilweise) in das Territorium eines anderen Staates; es geht um gewaltsamen Gebietserwerb auf Kosten eines anderen Staates.[412] Völkerrechtlich ist ein solches Vorgehen |73|stets unzulässig, was nicht dazu führt, dass es in der Staatenpraxis unterbleiben würde. Bei einer teilweisen Annexion bleibt der Rest-Staat neben dem annektierenden Staat bestehen. Bei einer vollständigen Annexion geht der annektierte Staat (faktisch) unter. Historische Beispiele finden sich zahlreich, erwähnt sei die Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich im Jahr 1939 sowie die Annexion der Krim (der Ukraine zugehörig) durch Russland im Jahr 2014.[413]

 Beitritt. Der Beitritt (oder Inkorporation) bezeichnet die konsentierte territoriale Übernahme eines Staates durch einen anderen.[414] Der beitretende Staat geht unter, während sich der andere Staat um das Territorium des untergegangenen Staates vergrößert. Beispiel ist der auf Art. 23 GG a.F. beruhende Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahr 1990.

 Fusion. Hier gehen zwei oder mehr Staaten zusammen und gründen auf ihren bisherigen Territorien einen gemeinsamen neuen Staat. Die bisherigen Staaten gehen unter. Beispiele bilden die Errichtung der Schweiz im Jahr 1815 oder die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871.[415]

Während die Systematisierung dieser Staatsentstehungsprozesse und die Entwicklung einer Anerkennungs- aber auch einer Nachfolge- und Haftungslehre dem Völkerrecht obliegen,[416] kann die Allgemeine Staatslehre auch mit ihrem partiell historischen Blick zu einem besseren Verständnis der Prozesse beitragen. Relevant sind einerseits die internen Transformationsprozesse und andererseits die Voraussetzungen, unter denen solche erfolgreich und das heißt vor allem friedlich ablaufen können.[417] Dass auch die früh-historischen Transformations- und Wandlungsprozesse von segmentären Gesellschaften zu staatlichen Hochkulturen von Interesse sind, ist bereits erwähnt worden.

|74|2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung

Damit sind wir bei einer näheren Betrachtung dieser innerstaatlichen transformatorischen Prozesse. Im Ergebnis kann nach dem soeben Gesagten keine politische Ordnung davon ausgehen, in ihrer bestehenden Ausgestaltung dauerhaft Bestand zu haben. Das gilt selbst für vermeintlich gefestigte demokratische Verfassungsstaaten, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Großbritannien oder Indien zeigen.[418] Diesen Umstand unter Berufung auf ein vermeintliches Ende der Geschichte zu ignorieren, erweist sich insofern als erstaunlich geschichtslos. Jede politische Ordnung ist fragil, weil sie einen Gleichgewichtszustand gerade in sozialer Hinsicht nie umfassend zu verwirklichen vermag.[419] Die Legitimität einer Herrschaftsordnung ist kein statisches Faktum, ist nichts für die Ewigkeit. Zutreffend stellt auch Ferdinand Gärditz daher lapidar fest: „Es gibt keine statische Verfassung.“[420] Damit stellt sich für die Allgemeine Staatslehre die Frage nach dem Wesen solcher Veränderungen und nach typischen (auch historischen) Mustern dieser Wandlungsprozesse, die sich möglicherweise verallgemeinern lassen und mit deren Hilfe aktuelle Ereignisse dieser Art – etwa im Hinblick auf die Vorgänge in westlichen Demokratien – besser eingeordnet und verstanden werden können. In dieser Hinsicht wird man, geordnet nach ihrer Intensität, vier transformatorische Prozesse unterscheiden können (a–d), die unter Umständen auch in einer (neuen) Verfassung münden können, wobei der Prozess der Verfassungsgebung wiederum gewissen Regelmäßigkeiten folgt (e). Ihren Ausgangspunkt dürften sämtliche dieser transformatorischen Wandlungen in wie auch immer gearteten Legitimitätsdefiziten des bestehenden Systems haben.[421] Idealerweise ist eine neue Verfassung (respektive eine neue Interpretation der alten) dann in der Lage, die erforderliche Legitimität[422] zu generieren, die für den (stets vorläufigen) Bestand der neuen politischen Ordnung notwendig ist.

a) Stiller Verfassungswandel

Mehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[423] sondern um ein im Laufe der Zeit |75|verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist, europarechtliche Vorgaben[424] oder technischen Wandel[425] angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[426] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist.[427] An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[428] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[429] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[430] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt: „Ihre vielfältigen Funktionen kann eine Verfassung letztlich nur erfüllen, wenn sie sich für die Probleme der Gegenwart öffnet und diese Wirklichkeit normativ verarbeitet.“[431] Die Auslegung der Verfassung nach der Idee des „original |76|intent“,[432] wie sie teilweise in den USA präferiert und selbst von einigen Verfassungsrichtern praktiziert wird,[433] ist vielleicht auf den ersten Blick besonders demokratisch, riskiert aber den Bestand der politischen Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden[434] – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[435] Andererseits kann eine Verfassung ihrer Rahmen- und Eingrenzungsfunktion für den politischen Raum nicht gerecht werden, wenn ihr Inhalt nicht wenigstens partiell fixiert und beständig, mithin verlässlich ist (was aber von Unbeweglichkeit oder Starrheit zu unterscheiden ist).[436] Den richtigen Weg zwischen gefährlicher Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung damit essentiell. Diesen Weg zu weisen und den stillen Verfassungswandel ebenso zu ermöglichen wie ihm Grenzen zu setzen, bildet daher eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[437] der juristischen Methodenlehre[438] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich auch als normative Wissenschaft versteht und von der die Verfassungstheorie nach Matthias Jestaedt disziplingeschichtlich abstammt.[439] Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[440] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[441] in den USA bei der Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem |77|Recht, Waffen zu tragen)[442] und in Großbritannien etwa im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[443]