Allgemeine Staatslehre

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Fußnoten

12

B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1, Rn. 1.

13

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9.

14

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16.

15

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.

16

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort, S. V.

17

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3.

18

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3. Ein solchermaßen statischer Staatsbegriff liegt freilich auch den Staatslehren Krügers und von Arnims nicht zugrunde.

19

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

20

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

21

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2.

22

Vgl. auch K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 23; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 121.

23

Siehe dazu M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, 2021.

24

G. F. Schuppert, Staat als Prozess, 2010.

25

M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, S. 127.

26

Siehe dazu etwa S. Levitsky/D. Ziblatt, How Democracies Die, 2018, Y. Mounk, The People vs. Democracy, 2018; A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Auflage 2018; A. Przeworski, Krisen der Demokratie, 2020; A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, 2021.

27

Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 34: „Die Staatslehre zumindest darf sich eines Schweigens gegenüber der Gegenwart nicht schuldig machen.“

28

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2. Siehe auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 4.

29

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. IX.

30

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 122.

31

Bei der Denationalisierung handelt es sich freilich um eine in die Zukunft gerichtete Forderung, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285 ff. Siehe auch unten bei Frage X.

32

Zur historischen Entwicklung A. Thiele, Der konstituierte Staat, 2021 sowie – aus deutscher Perspektive – H. Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, 2020.

33

Siehe dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 31 ff. Zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaates finden sich bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 235 ff. Siehe auch ders., Der konstituierte Staat, S. 92 ff.

34

Vgl. auch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 28 f.

35

R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

36

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

37

Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 117 sowie H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 3 ff.

38

N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 14. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9: „Das bedeutet, dass sich auf die Frage, was eigentlich damit gemeint ist, wenn das Wort ‚Staat‘ verwendet wird, keine Antwort von selbst versteht.“

39

Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4 ff.

40

Aus der Perspektive der Bankenregulierung A. Busch, Staat und Globalisierung, 2003.

41

Siehe A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44 ff.

42

R. M. MacIver, The Modern State, S. 3.

43

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 32 ff., 37.

44

Dass es angesichts dieser Vielfalt an (historischen) Staatsbegriffen nicht zwingend erforderlich ist, stets eine völlig neue Definition anzubieten, versteht sich von selbst.

II. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft

Die Allgemeine Staatslehre ist zweitens eine interdisziplinäre Wissenschaft.[45] Dieser Umstand wurde bereits erwähnt und ergibt sich daraus, dass es der Allgemeinen Staatslehre um eine umfassende Beschreibung des Staates (der |8|Staatlichkeit), des „gesamten politisch-administrativen Systems“[46] geht. Eine solche – anspruchsvolle[47] – Aufgabe verlangt, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen.[48] Andernfalls muss die Erfassung des Staates in seiner Gesamtheit scheitern: „Staatslehre ist heute interdisziplinär oder sie ist überhaupt nicht.“[49] Oder in den Worten von Christoph Möllers: „Die Allgemeine Staatslehre ist eine eigene Disziplin zur Zusammenführung anderer Disziplinen.“[50] Zu betonen ist freilich: In dieser Zusammenführung erschöpft sie sich nicht. Ohnehin ist auch eine solche Zusammenführung eine wissenschaftliche Leistung, die zu Ergebnissen führen kann, die über diejenigen der Einzelwissenschaften hinausgehen.[51] Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Allerdings ist mit dieser Feststellung der Interdisziplinarität noch nicht beantwortet, welche Wissenschaftsdisziplinen bei der Allgemeinen Staatslehre zusammenkommen (sollen) und mit welcher Methode, in welchem Umfang und mit welchem wissenschaftlichen Ziel eine solche Zusammenführung durchzuführen wäre. In der Forschungswelt besteht hier erneut keine Einigkeit, teilweise wird bestritten, dass die angestrebte Vereinigung zu einer „neuen wissenschaftlichen Form“[52] überhaupt gelingen kann. Das Ob und das Wie der methodenpluralistischen[53] Integration der verschiedenen Teilwissenschaften sind jedenfalls zu einem gewissen Umfang der Willkür und damit den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Verfassers überlassen – ein weiterer Grund, warum sich die Lehrbücher so deutlich voneinander unterscheiden. Wer sich neben der Rechtswissenschaft auch in der Ökonomie zu Hause fühlt, wird wirtschaftswissenschaftliche Aspekte stärker integrieren[54] als jemand, der vor allem an soziologischen Fragestellungen interessiert ist. Oftmals dürfte auch der Zufall eine Rolle spielen: Schon angesichts des Umfangs der Abhandlungen, die in dem erforderlichen Näheverhältnis zum modernen Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa, weil |9|sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[55] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[56]

Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[57] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[58] Hinzu treten die politische Philosophie[59] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[60] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[61] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[62] anzusehen ist.[63] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im |10|Zentrum stand)[64] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so, wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[65] Angesichts dieser doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[66] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[67] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung, zumindest aber Verwunderung sorgen dürfte.

 

Dieser interdisziplinäre Ansatz, bei dem normative und sozialwissenschaftliche Vorstellungen und Kontexte zusammenkommen, grenzt die Allgemeine Staatslehre vom (vergleichenden) Staatsrecht und vom (vergleichenden) Verfassungsrecht ab, denen die normativ-dogmatisch (rechtliche) Analyse einer bestimmten Staats- und Verfassungsordnung respektive der normative (rechtliche) Vergleich mehrerer Staats- und Verfassungsordnungen obliegt.[68] Die Allgemeine Staatslehre geht in diesen normativen Verfassungsvergleichswissenschaften nicht auf, die daher auch nicht an ihre Stelle treten können. Vergleichbar ist sie im anglo-amerikanischen Raum am ehesten mit der unter anderem von Ran Hirschl wiederbelebten Disziplin „Comparative |11|Constitutionalism“,[69] die im anglo-amerikanischen Raum auch (aber nicht ausschließlich)[70] von RechtswissenschaftlerInnen betrieben wird.[71]

Fußnoten

45

Vgl. auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 16 ff.

46

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (158).

47

Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

48

Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

49

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 10.

50

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

51

Dass die Zusammenführung gegenwärtig mehr oder weniger methodenfrei abläuft ist allerdings ein Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Siehe dazu sogleich.

52

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

53

Vgl. M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2.

54

In zahlreichen Lehrbüchern kommen ökonomische Aspekte, nicht zuletzt die Frage nach der Finanzierung des Staates, allerdings nur sehr verkürzt oder überhaupt nicht vor. Hier besteht zweifellos Forschungsbedarf aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre. Vor allem aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Entwicklungen – etwa zur Bewertung der Staatsverschuldung – werden allenfalls rudimentär zur Kenntnis genommen.

55

Zur Methodenkritik auch gleich noch unten.

56

Vgl. T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 36.

57

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

58

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 5.

59

Einführend dazu E. Özmen, Politische Philosophie, 2013.

60

Speziell zum historischen Staatsverständnis zuletzt auch G. Metzler, Der Staat der Historiker, 2019.

61

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 24 ff. Friedell spricht der Geschichtswissenschaft dabei im Ergebnis jede Wissenschaftlichkeit ab, aaO, S. 26: „Wir gelangen demnach zu dem Resultat: sobald die referierende Geschichtsschreibung versucht, eine Wissenschaft zu sein, hört sie auf objektiv zu sein, und sobald sie versucht, objektiv zu sein, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein.“ Diese Einschätzung wird hier nicht geteilt, sie sei aber zur nicht ernstgemeinten Provokation befreundeter HistorikerInnen gleichwohl zitiert.

62

„Staatswissenschaften“ bildet dann den Oberbegriff für alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Staat befassen.

63

Vgl. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16 ff.

64

Überblick dazu bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 236 ff.

65

Vgl. auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (358).

66

So etwa der Untertitel der Allgemeinen Staatslehre von Reinhard Zippelius, der allerdings nicht näher erläutert wird.

67

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (157).

68

Siehe beispielhaft etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010. Allerdings wird diese Entkontextualisierung und Fokussierung auf die (nationale) Dogmatik, die sich nicht zuletzt in der Zitierweise höchstrichterlicher Entscheidungen spiegelt, auch in der deutschen Rechtswissenschaft mittlerweile kritisch gesehen, vgl. O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793 ff. Siehe auch A. Thiele, Der konstituierte Staat, S. 369 sowie F. Gärditz, Verfassungsentwicklung und Verfassungsrechtswissenschaft, in: M. Herdegen/J. Masing/R. Poscher/F. Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 4, Rn. 63 f. Darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

69

R. Hirschl, Comparative Matters, 2014. Insgesamt herrscht im anglo-amerikanischen Raum bisweilen ein wenig Verwunderung über die gerade im deutschen Staatsrecht vorzufindende strikte Trennung der normativen von der sozial-politischen Sphäre, wie sie sich auch in den klassischen Lehrbüchern findet. Dort wird auch das allgemeine Staatsrecht stärker in einen interdisziplinären Kontext gebettet.

70

Ran Hirschl ist Politik- und kein Rechtswissenschaftler.

71

Vgl. auch J. Plebuch, Amerikanischer Weltdiskurs, Der Staat 60 (2021), 133 (133).

III. Über einen bestimmten Staat hinausreichendes Erkenntnisinteresse

Reicht das interdisziplinäre Erkenntnisinteresse einer „Staatslehre“ über das Wesen und die Struktur eines einzelnen Staates hinaus, handelt es sich drittens um eine Allgemeine Staatslehre; soll hingegen das Wesen eines bestimmten Staates oder einer sehr kleinen Staatengruppe beleuchtet werden, handelt es sich um eine „Besondere Staatslehre“.[72] Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, verfolgen jedoch unterschiedliche Zwecke. Eine Allgemeine Staatslehre zielt ihrer Idee nach darauf ab, Wesen und Charakter aller bestehenden Staaten zu ergründen. Sie wird sich daher der induktiven Methode bedienen und versuchen, vom Besonderen der individuellen Staaten auf das Allgemeine aller Staaten zu schließen. Der empirische „Staatenvergleich“ bildet ein zentrales Element einer jeden Allgemeinen Staatslehre. Das schließt eine deduktive Vorgehensweise nicht von vornherein aus. So ließen sich eventuell aus dem allgemeinen Wesen des Menschen abstrakte Hypothesen über das Zusammenleben im Staat entwickeln, die dann jeder staatlichen Gemeinschaft gemein sind oder sein müssten. Auch dieser Weg – den nicht zuletzt Karl Popper mit seiner Stückwerk-Sozialtechnik gewiss eingeschlagen oder bevorzugt hätte[73] – käme aber ohne den umfassenden Staatenvergleich zur |12|anschließenden Verifizierung (beziehungsweise Falsifizierung) der Hypothesen nicht aus. Im Übrigen ist es bisher allenfalls rudimentär gelungen, aus dem Wesen des Menschen sinnvolle Annahmen zu formulieren, die sich als Grundlage einer umfassenden und halbwegs realitätsnahen (nicht-utopischen) Allgemeinen Staatslehre eignen würden.[74] Auch hier wird daher die induktive Methode als „Grundsatzmethode“ vorgeschlagen, die, das sei noch einmal betont, nicht ausschließt (sondern sogar verlangt), den empirisch ermittelten Befund einer normativen Kritik zu unterziehen.

Der theoretisch-universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Einschränkung und Modifikation. Angesichts der Vielzahl an Staaten – die Vereinten Nationen haben gegenwärtig 193 ordentliche Mitglieder – ist es zunächst unmöglich, eine umfassende Allgemeine Staatslehre zu verfassen, die sämtliche bestehenden modernen Staaten mit der gleichen wissenschaftlichen Tiefe durchdringen und analysieren könnte. Schon die Sprachbarriere ist hier nicht zu überwinden. Entsprechende Versuche hat es zwar durchaus gegeben, auch Georg Jellinek ist seine Maßstäbe setzende Allgemeine Staatslehre mit diesem Anspruch angegangen.[75] Er hat diesen aber schon wenige Seiten später wieder zurückgenommen, jedenfalls aber eingeschränkt.[76] Trotz ihres beeindruckenden Umfangs und ihrer analytischen Kraft handelt es sich in ihrem Kern „doch lediglich (um) eine Theorie des europäischen Staatstypus“,[77] die nicht zuletzt asiatischen, aber auch afrikanischen Erscheinungsformen von Staatlichkeit praktisch keinen Raum bietet. In der Regel beschränken sich die Verfasser einer Allgemeinen Staatslehre auch ausdrücklich auf die Beschreibung einer bestimmten Staatengruppe, die aus ihrer Sicht einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht. Herbert Krüger konzentriert sich in seinem monumentalen Werk auf den „modernen Staat“, Roman Herzog grenzt ein wenig weiter ein und behandelt den „modernen Staat demokratischer Prägung“[78], während sich Hermann Heller ausdrücklich auf den „Staat, wie er sich seit der Renaissance im abendländischen Kulturkreis ausgebildet hat“, fokussiert (womit letztlich wie bei Herbert Krüger der moderne Staat gemeint sein dürfte).[79] Einer solchermaßen auf eine Gruppe von Staaten begrenzten |13|Staatslehre ihre Allgemeinheit absprechen zu wollen, überzeugt nicht.[80] Man wird aber verlangen müssen, dass die Gruppe der ausgewählten Staaten eine signifikante Zahl an Staaten umfasst, da sich ansonsten kaum verallgemeinerbare Aussagen treffen ließen. Notwendig erscheint zudem eine Erläuterung, worin diese (subjektive) Auswahl gründet, was also das Erkenntnisinteresse an gerade dieser Staatengruppe rechtfertigt.

 

Nach hier vertretener Ansicht erscheint – ähnlich wie bei Martin Kriele[81]– eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat sinnvoll.[82] Betrachtet werden sollten vornehmlich solche modernen Staaten, die sich ihrer Verfassungsordnung nach diesem Staatstypus zuordnen lassen. Der Rückgriff auf die Verfassungsordnung allein erscheint allerdings noch als zu weitgehend, da der in der Verfassung verankerte Anspruch, Demokratie zu sein, seit dem Zweiten Weltkrieg (und noch einmal verschärft seit Ende des Kalten Krieges) von einer großen Zahl an Staaten zwar behauptet, in der staatlichen Wirklichkeit aber viel seltener eingelöst wird. Die „Demokratische Volksrepublik Korea“ (Nordkorea) ist trotz ihrer Bezeichnung ebenso wenig eine materielle Demokratie, wie die Demokratische Republik Kongo oder wie es die „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR)[83] jemals war. Eine sinnvolle Abgrenzung und Reduzierung der zu behandelnden Staaten ergibt sich damit nur, wenn man außer dem normativ-formalen noch ein faktisches Kriterium berücksichtigt und verlangt, dass der normative „Demokratieanspruch“ zwar nicht umfassend, aber doch größtenteils verwirklicht wird. Diese Auswahl setzt damit eine normative Vorstellung von den Anforderungen voraus, die ein moderner Staat erfüllen muss, um als (materiell) demokratisch in diesem Sinne angesehen werden zu können. Streng genommen kann diese erste Auswahl daher nur als vorläufig angesehen werden – ob sie sich bestätigt, zeigt sich erst nach Entwicklung des umfassenden demokratischen Referenzmodells. Welche modernen Staaten man neben den wenigen zweifelsfrei demokratischen Verfassungsstaaten[84] noch in die nähere Betrachtung einbezieht, ist dadurch zu einem gewissen Teil eine (willkürliche) Wertungsfrage – ein Umstand, der angesichts der grundlegenden Übereinstimmung in der Frage der relevanten Kriterien aber nicht sonderlich dramatisch |14|erscheint:[85] Die Allgemeine Staatslehre fängt im 21. Jahrhundert nicht bei null an. Ohnehin besteht die Möglichkeit, die eigene Auswahl zu einem späteren Zeitpunkt zu modifizieren.

Neben dem Großteil der europäischen Staaten – eine Ausnahme bilden die Türkei, Russland, Weißrussland und einige weitere ehemalige Sowjetrepubliken[86] – gehören unter anderem die USA, Kanada, aber auch zahlreiche südamerikanische Staaten wie Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien, Uruguay oder (noch) Brasilien zu dieser Staatengruppe. Auf dem afrikanischen Kontinent sind es Südafrika, Botswana, Namibia, Ghana, partiell auch Kenia und nun vielleicht auch Äthiopien sowie (noch) Tunesien. In Somaliland funktionieren die staatlichen (demokratischen) Institutionen, allerdings genießt dieser Staat keine internationale Anerkennung.[87] In Asien wird man Indien, Südkorea, Japan und Taiwan sowie Israel nennen können,[88] zentralasiatische Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan), über die in der westlichen Welt generell wenig bekannt ist,[89] wird man sämtlich nicht dazuzählen können (wenngleich sich zumindest in Kirgistan im Vergleich deutlich „demokratischere Züge“ aufzeigen lassen). Hinzu kommen aber natürlich Australien und Neuseeland.

Diese Entscheidung für eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat beruht auf folgenden fünf Erwägungen: Erstens findet sich mit den demokratischen Verfassungsstaaten eine prinzipiell anerkannte Gruppe moderner Staaten, an die eine Begrenzung anknüpfen kann. Die zu analysierende Staatengruppe muss also nicht (zumindest nicht in Gänze) theoretisch konstruiert werden, sondern findet sich in der „faktischen Staatenwelt“. Das entlastet aus wissenschaftlicher Sicht erheblich und wird zudem dem Anspruch der Allgemeinen Staatslehre gerecht, auch Seinswissenschaft zu sein. Zweitens erscheint diese Staatengruppe einerseits ausreichend homogen, um eine ausführliche Analyse mit den begrenzten Kapazitäten zu ermöglichen, während die modernen Staaten dieser Gruppe andererseits doch solche Unterschiede aufweisen, die auf fruchtbare Ergebnisse der Systematisierung und des (wertenden) Vergleichs hoffen lassen. R. M. MacIver hat das treffend formuliert: „Practically all modern States are, in terms of the definition already given, to be classed as democracies, but not all are quite alike in |15|character.“[90] Schon die unterschiedlichen Regierungssysteme – vom Präsidialsystem über das parlamentarische und das semi-parlamentarische Regierungssystem bis zum Direktorialsystem bieten reichlich Analyse-, Vergleichs- und normatives Bewertungspotenzial. Drittens scheint dieser Staatentyp mittlerweile derjenige zu sein, dem der Großteil der bestehenden Staaten nach Außen und Innen entsprechen will: „Es gibt nach wie vor eine internationale und auch innenpolitische Prämie auf den Status, als Demokratie zu gelten: International bringt es Prestige wie auch handfeste wirtschaftliche Vorteile; im Inneren kann man den unterlegenen politischen Gegnern immer vorhalten, sie seien eben schlicht nicht populär und müssten sich dem erklärten Mehrheitswillen beugen.“[91] Dann aber scheint es nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig, herauszuarbeiten, was diesen attraktiven Staatentyp im Einzelnen prägt.[92] Nur dann kann fundiert dargelegt werden, dass und warum einige Staaten ihrem selbst gesteckten Anspruch nicht genügen. Erst die Entwicklung dieses normativen Referenzmodells macht es etwa möglich zu begründen, dass die türkische Verfassung nach der von Recep Tayyip Erdogan eingeleiteten Reform und entgegen den eigenen Behauptungen den Anforderungen an ein demokratisches Präsidialsystem im US-amerikanischen Sinne nicht genügt.[93] Gleiches gilt für die neue russische Verfassung, mit der Wladimir Putin seinen Machtanspruch für die nächsten Jahre gesichert hat. Für die Europäische Union kommt hinzu: Beitreten können dieser nur demokratische (europäische) Staaten, so dass man wissen muss, was solche Staaten ausmacht. Viertens erscheint es sinnvoll eine Staatengruppe zu wählen, zu der auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz gehören. Das ist deshalb ratsam, weil es sich bei der Allgemeinen Staatslehre um eine vornehmlich deutschsprachige Disziplin handelt – bereits eine englische Übersetzung des Begriffs „Staatslehre“ bereitet Schwierigkeiten,[94] ist vielleicht gar unmöglich. Eine Allgemeine Staatslehre, die nicht auch diese deutschsprachigen Staaten in den Blick nähme, wäre zwar möglich, aber doch ungewöhnlich. Hinzu kommt die – ein subjektives Argument – Sozialisation des Autors dieser Zeilen und die damit einhergehenden Kenntnisse der deutschen Demokratie und des Grundgesetzes. Schließlich und fünftens weist der demokratische Verfassungsstaat in den letzten Jahren gewisse Krisensymptome auf,[95] die sich im Erstarken |16|rechtspopulistischer[96] beziehungsweise autoritärer Strömungen (Donald Trump, Jair Bolsonaro, Boris Johnson, AfD, FPÖ, Tea Party Bewegung etc.),[97] in einer problematischen Streitkultur sowie in einer tendenziell sinkenden Wahlbeteiligung[98] widerspiegeln.[99] „Die liberale Demokratie des Westens ist in der Defensive“, stellte Heinrich August Winkler in seiner umfassenden Analyse aus dem Jahre 2017 fest.[100] Achim Schäfer und Michael Zürn konstatieren: „Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle“,[101] Alexander Bogner führt aus, dass der globale Drang nach Demokratie mittlerweile in eine veritable Rezession übergegangen sei[102] und Jan-Werner Müller hält lapidar fest: „Es ist ein Gemeinplatz geworden: Die Demokratie steckt in der Krise.“[103] Cristina Lafont spricht von „schwierigen Zeiten für die Demokratie.“[104] Die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten markierte demnach lediglich den vorläufigen Höhepunkt dieser (trotz dessen Abwahl nach seiner ersten Amtszeit andauernden) weltweiten Krise,[105] die mittlerweile von zahlreichen AutorInnen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben worden |17|ist.[106] Sie hat, in den Worten Manfred G. Schmidts, dazu geführt, dass die europäischen Demokratien – man denke an Ungarn, Polen, aber auch Tschechien und Rumänien – zwar „nicht todkrank, aber auch nicht kerngesund, sondern angeschlagen“ sind.[107] Als besonders erschreckend erweist sich die Tatsache, dass von dieser Entwicklung zunehmend auch etablierte Demokratien wie die USA, Großbritannien oder Indien betroffen sind. Entgegen optimistischen Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit war und ist die Demokratisierung insofern kein unaufhaltsamer und unumkehrbarer Prozess,[108] der demokratische Status quo nicht gesichert. Die vergleichende Analyse demokratischer Verfassungsstaaten verspricht Antworten auf die Frage, inwieweit diese Krisensymptome auf ähnliche oder sogar identische Ursachen zurückzuführen sind (Axel Schäfer und Michael Zürn sprechen von einer prinzipiell vergleichbaren doppelten Entfremdung),[109] wo Unterschiede bestehen – Philip Manow hat unlängst auf die Bedeutung der jeweiligen politischen Ökonomie hingewiesen[110] – und wie mögliche Lösungsansätze allgemeiner und besonderer Art aussehen könnten. Die Fokussierung auf demokratische Verfassungsstaaten bedeutet ohnehin nicht, dass nicht auch andere Staaten in die Betrachtung einbezogen werden müssten. Eine solche Einbeziehung erfolgt dann allerdings zur Veranschaulichung der Unterschiede und damit punktuell und unsystematisch, mithin zur deutlicheren Herausarbeitung des spezifischen Charakters des demokratischen Verfassungsstaates.[111] Sie kann aber gerade dort, wo eine materielle Demokratisierung aktuell mehr oder weniger gescheitert ist (Russland, Türkei, Ukraine, Afghanistan, Libyen, Venezuela, Syrien) auch helfen, die gegenwärtig zu beobachtenden Krisensymptome zu verstehen und besser einzuordnen.

Darüber hinaus muss sich eine Allgemeine Staatslehre auf eine Untersuchung des bestehenden Staatensystems beschränken. Die Allgemeinheit auch in historischer Perspektive einlösen zu wollen und damit zugleich eine umfassende Evolutionsgeschichte des modernen Staates zu verfassen, ist |18|angesichts der Vielfalt der historischen Staaten und staatsähnlichen Herrschaftsstrukturen nicht möglich, muss daher anderen überlassen bleiben.[112] Durch die Erkenntnisse der politischen Anthropologie ist die Zahl politischer Systeme, die in einer solchen Geschichte zu behandeln wären, noch einmal erheblich angestiegen. Diese hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargelegt, dass Formen von Politik und damit auch Formen von Staatlichkeit und Herrschaft keineswegs erst mit den Hochkulturen, sondern bereits in den frühen segmentären und tribalistischen Gesellschaften im Anschluss an die neolithische Revolution zu finden sind.[113] Diese Gesellschaften waren stets auch von politischem und sozialem Wandel geprägt[114] und haben eine politische Geschichte, die zu erzählen ebenso wichtig erscheint, wie sie von einer Allgemeinen Staatslehre nicht geleistet werden kann. Martin Kriele hat also Recht, wenn er festhält, dass jede Generation ihre eigene Allgemeine Staatslehre entwickeln muss.[115] Das ist demnach nicht nur aufgrund sich verändernder politischer Herausforderungen und erkenntnistheoretischer Modelle der Fall, sondern auch weil jede Generation eine veränderte Staatenwelt vorfindet, die einer eigenständigen Beschreibung und normativ-kritischen Einordnung bedarf. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Lehrbücher nicht selten ihren Schwerpunkt beim demokratischen Verfassungsstaat setzen, hängt insofern auch damit zusammen, dass sich dieser (erst) seitdem weltweit verbreitet hat. Damit steht zugleich fest: Keine Allgemeine Staatslehre kann zeitlose Geltung beanspruchen. Dazu hängen ihre Ergebnisse zu sehr an den sich verändernden empirischen Begebenheiten. Hier liegt der Grund, warum Hermann Heller auf den Zusatz „Allgemeine“ von vornherein verzichtete: „Dass also eine zeiträumlich ‚allgemeine‘ Staatslehre nicht erstrebt, weil gar nicht für möglich gehalten wird, soll schon im Titel dieser Arbeit zum Ausdruck gelangen.“[116] Entscheidend ist, dass man sich dieser eingeschränkten Bedeutung des Begriffs „Allgemeine“ bewusst ist, dass es also um eine Allgemeinheit im Jetzt und nicht um eine Allgemeinheit in der Zeit geht. Dann spricht nichts gegen dessen Verwendung (zumal sich diese Begrifflichkeit auch durchgesetzt zu haben scheint). Das bedeutet im Übrigen nicht, dass eine Allgemeine Staatslehre auf historische Betrachtungen jedweder Art verzichten müsste oder sollte. Sie werden allerdings nur dort erfolgen, wo es darum geht, typische Entwicklungen (etwa die Entstehung |19|und Ausbreitung des modernen Staates, den „normalen“ Ablauf von Revolutionen oder den Untergang von Staaten) durch historisch belegte Prozesse zu verdeutlichen, kurz: wo es „zum Verständnis der Gegenwart nötig ist.“[117]