Allgemeine Staatslehre

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b) Derivative Staatsentstehung

Während originäre Staatsentstehung ein historischer Vorgang ist, sind Formen derivativer (abgeleiteter) Staatsentstehung auf Territorien, die schon zuvor zu einem Staat gehörten, immer wieder auf der Tagesordnung. Jüngste Beispiele sind der Südsudan (2011), das Kosovo (2008) oder Montenegro (2006). Nordmazedonien existiert zwar erst seit Anfang 2019, Hintergrund bildete jedoch lediglich die mit Griechenland nach langen Verhandlungen vereinbarte Umbenennung der bereits seit 1991 bestehenden Republik Mazedonien (eine Veränderung der politischen Organisation war damit nicht verbunden). Die aktuelle Staatenwelt präsentiert immer eine Momentaufnahme, die konstanter Veränderung unterliegt. Aus völkerrechtlicher Perspektive – und diese ist in dieser Hinsicht zentral – lassen sich fünf Formen derivativer Staatsentstehung unterscheiden. Für alle lassen sich historische Beispiele angeben:

 Dismembration. Diese bezeichnet den Zerfall eines modernen Staates in zwei oder mehr neue Staaten, die umfänglich an die Stelle des bisherigen Staates treten.[343] Der alte Staat geht vollständig unter. Als Völkerrechtssubjekte sind die neuen Staaten mit dem alten Staat nicht mehr identisch (ohne dass damit etwas über mögliche völkerrechtliche Haftungsfragen |64|ausgesagt wäre). Historisch unumstrittene Beispiele bilden der Zerfall der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn in die Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien (1918), der Tschechoslowakischen Bundesrepublik in die Staaten Tschechische und Slowakische Republik (1993) sowie der Untergang der ehemaligen UdSSR Ende 1991. Umstritten ist die Einordnung des Zerfalls Jugoslawiens (1992).

 Sezession. Bei der Sezession spaltet sich ein Teilgebiet eines bestehenden Staates ab, auf dem sodann ein neuer Staat gegründet wird. Der alte Staat bleibt in veränderter territorialer Gestalt bestehen. Die Voraussetzungen unter denen eine solche Abspaltung zulässig ist – nicht zuletzt die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker –, sind völkerrechtlich umstritten und hängen auch von der konkreten Verfassungsordnung ab. Historische Beispiele sind die Errichtung des Staates Griechenland durch Abspaltung vom Osmanischen Reich (1830), die Sezession Belgiens vom Königreich der Niederlande (1830) oder die Gründung des Irischen Freistaats durch Abspaltung vom Vereinigten Königreich (1922). Aktuelle Sezessionsbewegungen finden sich in Katalonien (zu Spanien gehörend) und – vor dem Hintergrund des Brexit – in Schottland (zum Vereinigten Königreich gehörend).[344]

 Annexion. Die Annexion meint die erzwungene (einseitige) Eingliederung eines fremden Staatsgebiets (entweder vollständig oder teilweise) in das Territorium eines anderen Staates; es geht um gewaltsamen Gebietserwerb auf Kosten eines anderen Staates.[345] Völkerrechtlich ist ein solches Vorgehen stets unzulässig, was nicht dazu führt, dass es in der Staatenpraxis unterbleiben würde. Bei einer teilweisen Annexion bleibt der Rest-Staat neben dem annektierenden Staat bestehen. Bei einer vollständigen Annexion geht der annektierte Staat (faktisch) unter. Historische Beispiele finden sich zahlreich, erwähnt sei die Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich im Jahr 1939 sowie die Annexion der Krim (der Ukraine zugehörig) durch Russland im Jahr 2014.[346]

 |65|Beitritt. Der Beitritt (oder Inkorporation) bezeichnet die konsentierte territoriale Übernahme eines Staates durch einen anderen.[347] Der beitretende Staat geht unter, während sich der andere Staat um das Territorium des untergegangenen Staates vergrößert. Beispiel ist der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahr 1990.

 Fusion. Hier gehen zwei oder mehr Staaten zusammen und gründen auf ihren bisherigen Territorien einen gemeinsamen neuen Staat. Die bisherigen Staaten gehen unter. Beispiele bilden die Errichtung der Schweiz im Jahr 1815 oder die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871.

Während die Systematisierung dieser Staatsentstehungsprozesse und die Entwicklung einer Anerkennungs- aber auch einer Nachfolge- und Haftungslehre dem Völkerrecht obliegen,[348] kann die Allgemeine Staatslehre auch mit ihrem partiell historischen Blick zu einem besseren Verständnis der Prozesse beitragen. Relevant sind einerseits die internen Transformationsprozesse und andererseits die Voraussetzungen, unter denen solche erfolgreich und das heißt vor allem friedlich ablaufen können.[349] Dass auch die früh-historischen Transformations- und Wandlungsprozesse von segmentären Gesellschaften zu staatlichen Hochkulturen von Interesse sind, ist bereits erwähnt worden.

2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung

Damit sind wir bei einer näheren Betrachtung dieser innerstaatlichen transformatorischen Prozesse. Im Ergebnis kann nach dem soeben Gesagten keine politische Ordnung davon ausgehen, in ihrer bestehenden Ausgestaltung dauerhaft Bestand zu haben. Das gilt selbst für vermeintlich gefestigte demokratische Verfassungsstaaten, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Großbritannien oder Indien zeigen.[350] Diesen Umstand unter Berufung auf ein vermeintliches Ende der Geschichte zu ignorieren, erweist sich insofern als erstaunlich geschichtslos. Jede politische Ordnung ist fragil, weil sie einen Gleichgewichtszustand gerade in sozialer Hinsicht nie umfassend zu verwirklichen vermag.[351] Die Legitimität einer Herrschaftsordnung ist kein |66|statisches Faktum, ist nichts für die Ewigkeit. Damit stellt sich für die Allgemeine Staatslehre die Frage nach dem Wesen solcher Veränderungen und nach typischen (auch historischen) Mustern dieser Wandlungsprozesse, die sich möglicherweise verallgemeinern lassen und mit deren Hilfe aktuelle Ereignisse dieser Art – etwa im Hinblick auf die Vorgänge in westlichen Demokratien – besser eingeordnet und verstanden werden können. In dieser Hinsicht wird man, geordnet nach ihrer Intensität, vier transformatorische Prozesse unterscheiden können (a–d), die in einer (neuen) Verfassung münden können, wobei der Prozess der Verfassungsgebung wiederum gewissen Regelmäßigkeiten folgt (e). Ihren Ausgangspunkt dürften sämtliche dieser transformatorischen Wandlungen in wie auch immer gearteten Legitimitätsdefiziten des bestehenden Systems haben.[352] Idealerweise ist eine neue Verfassung (respektive eine neue Interpretation der alten) dann in der Lage, die erforderliche Legitimität[353] zu generieren, die für den (stets vorläufigen) Bestand der neuen politischen Ordnung erforderlich ist.

a) Stiller Verfassungswandel

Mehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[354] sondern um ein im Laufe der Zeit verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[355] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist. An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[356] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[357] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen |67|vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[358] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt. Die Auslegung der Verfassung nach der Idee des „original intent“,[359] wie sie teilweise in den USA präferiert wird,[360] ist vielleicht auf den ersten Blick besonders demokratisch, riskiert aber den Bestand der politischen Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[361] Den richtigen Weg zwischen Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung essentiell. Diesen Weg zu weisen und dem stillen Verfassungswandel Grenzen zu setzen, bildet eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[362] der juristischen Methodenlehre[363] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich zumindest auch als normative Wissenschaft versteht. Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[364] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[365] in den USA bei der |68|Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem Recht, Waffen zu tragen)[366] und in Großbritannien im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[367]

 

b) Reformen von „Oben“

Reformen durch die politischen Herrschaftsträger können dazu beitragen eine politisch unruhige Situation, eine Unzufriedenheit in der Gesellschaft und damit aufkommende Legitimitätsdefizite zu beheben und den Fortbestand des politischen Systems zu sichern. Im Gegensatz zum stillen Verfassungswandel läuft dieser Prozess aktiv gesteuert ab. Beispiele sind die Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts[368] oder die Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts durch Bismarck. Hintergrund solcher Reformen können eine Eigeninitiative der herrschenden Eliten (so in Preußen), eine Konzession an Protestierende (wie in Südafrika) oder die Mobilisierung bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen sein. Um erfolgreich zu sein, müssen diese Reformen rechtzeitig die konkreten Legitimitätsdefizite angehen und beheben. Dazu kann die Einräumung eines Streikrechts ausreichen, möglicherweise sind aber umfangreichere Reformen auch der Grundstrukturen des politischen Systems erforderlich. Entscheidend ist, dass durch die Reformen die faktische Anerkennung der konkreten Herrschaftsordnung als im Wesentlichen sozial gerecht wieder erreicht wird. Patentrezepte lassen sich auch durch die Allgemeine Staatslehre nicht angeben. Fest steht aber: Kommen die worin auch immer begründeten Reformschritte zu spät oder gehen diese – wie etwa in Frankreich unter Ludwig XVI. – nicht weit genug, droht der Übergang in eine revolutionäre Phase. Ähnlich erging es der DDR-Führung im Jahr 1989: Die angekündigten weitreichenden Reformen Anfang November 1989 konnten die „friedliche Revolution“ nicht mehr aufhalten. Ob die chilenische Führung ausreichende Sozialreformen einleiten wird, um die Ende 2019 begonnenen Unruhen beenden zu können, bleibt abzuwarten.

c) Revolutionen

Revolutionen – der Begriff stammt aus der Astronomie[369] – hat es in der Staatsgeschichte immer wieder gegeben.[370] Als klassisch gelten die |69|Revolutionen in England (1642–60 und die Glorious Revolution 1688), die Französischen Revolutionen (1789,[371] 1830, 1848) und die Russische Revolution (1917). Zu erwähnen sind aber auch die Chinesischen Revolutionen (nationale Revolution 1911–1927 sowie die kommunistische Revolution 1927–1949), die Kubanische Revolution (1953–1959) die Iranische Revolution (1979) sowie die Sawr-Revolution in Afghanistan (1978). In Deutschland sind die Paulskirchen-Revolution (1848/1849), die Novemberrevolution (1918/1919) sowie die „friedliche Revolution“ (1989) zu nennen. Ob es sich beim Abfall der britischen Kolonien und der anschließenden Gründung der USA ebenfalls um eine Revolution gehandelt hat, ist umstritten und hängt vom gewählten Begriffsverständnis ab, entspricht allerdings der gemeinen Bezeichnung dieser Vorgänge, deren zeitlicher Beginn meist mit dem Siebenjährigen Krieg[372] verknüpft wird[373] („Amerikanische Revolution“).[374] Nicht zuletzt einige Marxisten bestritten den Revolutionscharakter, da es sich lediglich um den Austausch einer imperialen durch eine konservativ-koloniale Elite gehandelt habe[375] – ein Elitenaustausch also ohne gesellschaftlichen Wandel, was sich schon am Fortbestand der Sklaverei gezeigt habe. Andere hingegen mieden den Begriff gerade deshalb, um soziale Spannungen innerhalb der späteren USA zu vertuschen, die im Vorfeld der Unabhängigkeit bestanden. Der Unabhängigkeitskrieg war danach keine inneramerikanische Revolution, sondern Ausdruck eines nachgerade übermenschlichen Kraftakts einer vollständig geeinten Nation.[376] Tatsächlich ging es aber, wie Carl. L. Becker später feststellte, keineswegs nur um die „home rule“, sondern selbstverständlich auch darum „who should rule at home“.[377] Und auch wenn die neue Ordnung konservativer war als sich das mancher Marxist gewünscht hätte, fanden sich mit der Idee der repräsentativen Demokratie und Gewaltenteilung sowie der Konstruktion des Bundesstaates selbstverständlich |70|„revolutionäre“ und die Gesellschaft verändernde Elemente, die die Staatenwelt maßgeblich prägen sollten. An diesem Beispiel zeigt sich daher vor allem die Abhängigkeit des Revolutionsbegriffs und der Einordnung bestimmter Ereignisse von den vorherrschenden Zeitauffassungen und Interessen, also vom politischen Kontext.[378] Gerade im Moment einer solchen Transformation ist die Verwendung des Begriffs „Revolution“ nur selten Ergebnis einer sachlich-objektiven Einordnung als vielmehr politische Kampfansage bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die von anderen bewusst gemieden wird – nicht alles, was als Revolution bezeichnet wird, ist eine Revolution.

Versucht man sich unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten an einer ersten allgemeingültigen Definition des Begriffs wird man formulieren können: Eine Revolution ist der von einem Veränderungswillen getragene Umsturz herrschender Eliten durch eine neue Elite, durch den nach der Machtübernahme die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur fundamental verändert wird. Ein solcher Umsturz impliziert gewalttätige Vorgänge, die man auch regelmäßig vorfinden wird. Allerdings ist Gewaltgebrauch kein notwendiger Bestandteil einer Revolution. Es gibt Beispiele friedlicher Revolutionen (Umsturz in der ehemaligen DDR 1989/1990). Allerdings werden sich auch dort meist punktuelle Gewalttätigkeiten finden – nicht zuletzt der Zusammenbruch des Ostblocks verlief nicht umfassend friedlich. Entscheidend ist dennoch weniger der Gewaltgebrauch als die Illegalität der Vorgänge nach der bestehenden Verfassungsordnung. Mit der fundamentalen Veränderung der Herrschafts- und Sozialstruktur, die weder völlig neuartig noch progressiv sein muss, unterscheidet sich die Revolution auch von einem Staatsstreich, der sich in der bloßen Auswechslung der Machtinhaber erschöpft. Auch die Erstürmung des Winterpalais am 24.10.1917 war daher zunächst einmal keine Revolution, sondern ein „gewöhnlicher“ Putsch. Selbst wenn es im Anschluss an einen solchen Staatsstreich zu formalen Veränderungen des Verfassungssystems kommt, haben diese auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse meist keine besonderen Auswirkungen. Für die „einfache Bevölkerung“ ändern solche Machtwechsel dann im Alltagsleben vergleichsweise wenig. Sie werden denn auch nicht selten eher achselzuckend hingenommen. Zu größerem Widerstand kommt es möglicherweise erst dann, wenn und soweit die neuen Machthaber fundamentale gesellschaftliche Veränderungen „von oben“ durchdrücken wollen. Das zeigte sich auf dem afrikanischen Kontinent, wo die Aufstände der einheimischen Bevölkerungen erst extrem wurden, als diesen bewusst wurde, dass es bei der Kolonisation nicht nur um den Austausch der Herrschaftspersonen, sondern um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ging.[379] Während ein solcher |71|Austausch der herrschenden Eliten damit ohne größere Unterstützung in der Bevölkerung gelingen kann, wird eine Revolution nur bei einer ausreichenden Massenmobilisierung erfolgreich sein. Che Guevara ist das in Bolivien ab 1966 nicht gelungen, weshalb seine Umsturzversuche erfolglos blieben. Auch in Venezuela dürfte der politische Umsturz des Maduro-Regimes aus diesem Grund im Jahr 2019 nicht geglückt sein – das Militär sah sich zumindest wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung nicht gezwungen, die Seite des Regimes zu verlassen. In Bolivien war das Ende 2019 anders – Präsident Evo Morales musste nach dem Vorwurf der Wahlmanipulation das Land verlassen, weil das Militär ihn nicht mehr stützen wollte (allerdings handelte es sich auch hier vorerst nicht um eine Revolution, sondern um eine Auswechslung der Machthaber). Im Zusammenhang mit der Arabellion (ab Ende 2010) glückte die notwendige Massenmobilisierung hingegen (zunächst) durch die Nutzung sozialer Medien, die vor allem im klassischen Medium „Fernsehen“ (Sender: Al-Dschasira) gespiegelt wurde.[380] Wie die Entwicklung in Chile weitergehen wird, bleibt abzuwarten; vermutlich wird es dort zur Verabschiedung einer neuen Verfassung kommen.

Revolutionen laufen nicht nach einem bestimmten Schema ab, sind sowohl in ihren Voraussetzungen als auch ihrem Verlauf individuelle Ereignisse, an denen unterschiedliche Persönlichkeiten und Zufälligkeiten beteiligt sind. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre stellt sich die Frage, inwieweit es möglich ist, gewisse Regelmäßigkeiten zu erkennen, die die gesellschaftliche Situation im Vorfeld der Revolution und den „typischen“ Ablauf einer Revolution markieren. Betrachtet man die historischen und auch aktuellen Revolutionen (man denke an die „Arabellion“, den „Arabischen Frühling“ ab Ende 2010)[381] aus dieser Perspektive, so wird man im Hinblick auf die revolutionäre Situation Folgendes festhalten können:

 Ausgangspunkt revolutionärer Umstürze bildet meist ein beachtliches Elitenversagen, das sich entweder in einer erheblichen Uneinigkeit, Unfähigkeit oder schlicht Korruption widerspiegelt.

 Es zeigen sich meist bedeutende politische, soziale und/oder wirtschaftliche Diskriminierungen, die im Ergebnis zu nachgerade unlösbaren Gegensätzen zwischen sozialen Schichten führen.[382] Die Verfügung über die Ressourcen ist sehr ungleich verteilt, bisweilen kommt es zu Hungersnöten oder sonstigen humanitären Krisen.[383]

 |72|In der gesellschaftlichen Stimmung offenbart sich ein allgemeines Krisengefühl und ein Gefühl des Niedergeschlagenseins.

 Existenz einer passenden neuen Ideologie, die sich in der Gesellschaft verbreitet und hinter der sich die Revolutionäre versammeln können.

Konkreter Auslöser für die ersten (gewalttätigen) Unruhen können dann ausländische Interventionen oder aber – wie etwa in Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder in China ab 1911 – kriegerische Niederlagen sein. Der vollständige Niedergang der nationalen Armee bildet dann den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Bisweilen können aber auch auf den ersten Blick eher marginale Ereignisse das „revolutionäre Fass“ zum Überlaufen bringen – im Chile kam es Ende 2019 zu Unruhen, nachdem die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um wenige Cent erhöht wurden. Schon die Schilderung dieser gesellschaftlichen Zustände im Vorfeld von Revolutionen lässt im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in manchen westlichen Demokratien aufhorchen – ohne dass damit eine baldige Revolution prognostiziert wäre. Das Ausmaß sozialer Spaltung und der Umgang der Eliten miteinander mahnen hier aber zu einer erhöhten, historisch fundierten Wachsamkeit.

Im Hinblick auf den Ablauf einer Revolution lassen sich folgende Stufen unterscheiden, wobei sich Regelmäßigkeiten vornehmlich bei solchen Revolutionen zeigen, die letztlich in einer autoritären Ordnung, jedenfalls aber keiner demokratischen Verfassungsordnung enden. Im Folgenden ist etwa der Ablauf der Englischen, Französischen, Russischen und Chinesischen Revolution skizziert, Ähnlichkeiten zeigten sich aber auch bei einzelnen Teilrevolutionen des Arabischen Frühlings:

 In einer Situation eines geschwächten Staates, der häufig nur noch durch wenige alte Oberschichten repräsentiert wird, erzwingt die Gemeinsamkeit der Gegner dieser Elite den politischen Umsturz. Es ist dies die Phase, in der sich angesichts des gemeinsamen Gegners die größte Einigkeit der Revolutionäre zeigt. Im unmittelbaren Anschluss an die „Revolution“ wird nicht selten gemeinsam ausgelassen gefeiert.

 Es folgt eine idealistische Phase, die jedoch angesichts der konkreten Realitäten und Probleme bei der Neugestaltung der Gesellschaft alsbald zu einer Spaltung der Revolutionsführer in Gemäßigte und Radikale führt. Während die Gemäßigten in dieser realistischen Phase für einen behutsamen und graduellen Übergang plädieren, drängen die Radikalen auf den umgehenden Wandel und werden immer rigoroser im Umgang mit vermeintlichen Revolutionsgegnern, als die alsbald auch die gemäßigten Revolutionäre eingeordnet werden.

 Aufgrund ihrer kompromisslosen Methoden steigen die Radikalen in der Revolutionshierarchie auf, verdrängen die Gemäßigten und konzentrieren die Macht um einen vergleichsweise kleinen Kreis an „echten“ Revolutionären.

 |73|Es folgen Terror und Thermidor,[384] bis sich ein neuartiges autoritäres Regime herausgebildet hat, dass im Namen der Revolution herrscht und Gegner und unliebsame Opposition mit gewalttätigen Mitteln verfolgt.

Revolutionen können auch anders und vor allem erfolgreich ablaufen. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre gilt es sich aber der Gefahr bewusst zu sein, die mit revolutionären Vorgängen einhergehen kann. Die weithin gescheiterte Arabellion mahnt hier zur Zurückhaltung und vor allem dazu, die anfangs festzustellende Einigkeit der Akteure nicht mit einer dauerhaften Einigkeit in allen zentralen Fragen der Gesellschaft und ihrer zukünftigen Ausgestaltung zu verwechseln. Der entscheidende Moment einer Revolution, der über Erfolg oder Niederlage entscheidet, dürfte der Übergang von der idealistischen zur realistischen Phase sein. Hier gilt es sicherzustellen, dass aufkommende Differenzen bei der Gestaltung des „revolutionären Alltags“ nicht zu einer Spaltung und neuen Feindseligkeiten führen, die in Gewalt und Terror enden. Wege aufzuzeigen, wie dieser Übergang erfolgreich gestaltet werden kann, gehört damit zu den zentralen Aufgaben einer modernen Allgemeinen Staatslehre.