Allgemeine Staatslehre

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Fußnoten

224

Siehe auch E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11; E. Özmen, Politische Philosophie, S. 18; M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 5; E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4ff.; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 202; A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 30.

225

A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 16ff.

226

Auch der einleitende Satz „Europa hat den Staat erfunden“ von Wolfgang Reinhard in seinem bedeutenden Werk „Geschichte der Staatsgewalt“ (3. Auflage 2003) sollte nicht in diesem exkludierenden Sinne interpretiert werden.

227

Das betrifft die Urbanisierung ebenso wie die Entwicklung der Postkutsche.

228

Ein von Jürgen Osterhammel geprägter Begriff, vgl. J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 424.

229

Dazu A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 109ff.

230

Siehe aber die beeindruckenden Werke von W. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, 3. Auflage 2016 sowie ders, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Auflage 2002.

231

Zur Bedeutung einer angemessenen Erinnerungskultur generell A. Assmann, Cultural Memory and Western Civilization: Functions, Media, Archives, 2012; dies., Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 2018 sowie knapp dies., Der europäische Traum, S. 38ff.

232

Zur deutschen Geschichte siehe W. Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, 3. Auflage 2014.

233

Siehe dazu auch M. Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt. Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, 2019.

234

Ausführlich zu den einzelnen Merkmalen A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44ff.

235

Vgl. auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 4.

236

A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 30.

237

Etwas anders lief die Entwicklung in England, wo das Parlament von Anfang eine bedeutende Rolle spielte, die Macht also nicht beim König allein lag.

238

In diesem Sinne aber etwa E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11ff. Auf S. 158 hält er für die Bundesrepublik der 70er Jahre fest: „Von Souveränität im Sinne der höchsten und fortdauernden Gewalt zu sprechen wäre absurd.“

239

H. Dreier, Religionsverfassung in 70 Jahren Grundgesetz – Rückblick und Ausblick, JZ 2019, 1005 (1008), dort auch zur in der jüngeren Bundesrepublik noch sehr erfolgreichen, allerdings verfehlten Koordinationslehre.

240

Zum Begriff knapp A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 59f. Siehe auch H. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 12ff.

241

H. Dreier, Staat ohne Gott, 2018. Längere Rezension bei D. Rennert, Liberale Theorie, Republikanische Praxis?, Der Staat 58 (2019), 411ff.

242

Siehe auch S. Lessenich, Grenzen der Demokratie, S. 64.

243

Vgl. auch J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, S. 200 sowie B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, S. 51.

244

Siehe auch A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 84f. Siehe auch R. Zimmermann, England und Deutschland: Unterschiedliche Rechtskulturen?, S. 29 und 37ff.

245

Diese Aussage geht auf Max Weber zurück.

246

Dazu auch unten bei Frage V.

247

In den Städten und Gemeinden fanden sich hingegen teilweise bereits Differenzierungen, vor allem im Bereich des Armenrechts.

248

Katholisch, lutherisch, reformiert.

249

Siehe auch N. Ullrich, Personale Bindungen im Wandel der Verfassungen, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 51 (68ff.).

250

B. Anderson, Die Erfindung der Nation, 1996.

251

Überblick dazu auch bei A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 70ff.

252

Ausführlich dazu A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 212ff.

253

P. Alter, Nationalismus, S. 103.

254

Dazu auch unten in Frage X zur Zukunft des Staates.

255

Die Zahl dieser Wellen und der anti-demokratischen Rückschläge ist umstritten, vgl. S. Huntington, The Third Wave, S. 13ff. (drei Wellen, zwei Gegenwellen) sowie B. Marquardt, Universalgeschichte des Staates, S. 499f. (sieben Transformationsintervalle und fünf autokratische Gegenbewegungen). Inwieweit die aktuellen Entwicklungen in einigen Staaten einen erneuten Rückschlag bedeuten, bleibt abzuwarten.

256

Vgl. im Überblick A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 235ff.

257

Einzelheiten unten bei Frage V und VI.

258

Der Umgang mit Staatenlosen, sog. Apatriden, bildet denn auch eine zentrale Herausforderung für das moderne Völkerrecht, vgl. auch A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 317ff. Zum Recht zur Regelung der Staatsangehörigkeit im Völkerrecht V. Epping, Der Staat als „Normalperson“ des Völkerrechts, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 7, Rn. 83ff.

259

Dazu zuletzt H. Bude, Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, 2019.

260

Vgl. dazu J. Kersten/C. Neu/B. Vogel, Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie, 2019.

261

Vgl. auch P. Collier, The Future of Capitalism, S. 212f.

262

Bezogen auf den Volksbegriff ähnlich M. Wildt, Die Ambivalenz des Volkes, S. 11.

263

Ausführlich bei Frage X zur Zukunft des Staates.

264

Vgl. P. Collier, The Future of Capitalism, S. 211ff.

265

Ausführlich dazu A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285ff.

266

Siehe dazu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394ff. Umfassend auch V. Epping, Der Staat als „Normalperson“ des Völkerrechts, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 7, Rn. 1ff.

267

Dazu knapp A. Katz/G. Sander, Staatsrecht, Rn. 23ff. sowie A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 46ff.

268

Siehe etwa H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 145ff. sowie allzu polemisch R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 55: „Dieses unrühmliche Kapitel deutscher Ungeistgeschichte […].“

269

In diesem Sinne auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 9.

270

Siehe auch J. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 5.

271

Siehe auch A. Katz/G. Sander, Staatsrecht, Rn. 21.

272

Aktuell ist der Weltraum nach dem Weltraumvertrag von 1967 eine „Angelegenheit der ganzen Menschheit“ und der Mond und andere Himmelskörper sind nach dem Mondvertrag von 1979 „hoheitsfreier Gemeinschaftsraum“. Ob sich das ändert, bleibt abzuwarten, zumal bedeutende Raumfahrernationen (etwa die USA) den Mondvertrag nicht ratifiziert haben. Siehe dazu M. Schladebach, Weltraumrecht, 2020.

 

273

C. Möllers, Staat als Argument, S. 12–115.

274

C. Möllers, Staat als Argument, S. 12.

275

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 11f.

276

C. Möllers, Staat als Argument, S. 33.

277

Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 40f.

278

Vgl. auch H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 282.

279

R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136. Knapp zur Integrationslehre auch A. Katz/G. Sander, Staatsrecht, Rn. 29.

280

Zu Rudolf Smend etwa N. Matz-Lück, Die Aktualität der Smendschen Integrationslehre im europäischen Einigungsprozess, in: U. Schröder/A. v. Ungern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, S. 37ff.

281

Vgl. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 54: „Das Bedürfnis, Gesellschaftsbeschreibung im großen Stil, aber ohne sozialwissenschaftliche methodische Kontrollen zu betreiben, schien von der Wahl des Begriffs unabhängig zu sein.“

282

G.F. Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen, 2010.

283

E. Özmen, Politische Philosophie, S. 9.

284

E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 24f.: „Diese Entwicklung legt die Frage nahe, ob es nicht an der Zeit ist, das überkommene Verständnis des Staates zu verabschieden. Das ist bereits mehrfach geschehen. Radikal in der Feststellung: der Staat ist tot. Differenzierter in der Forderung, ein neues Staatsbild den gegenwärtigen Realitäten herauszuheben. Dessen bedarf es allerdings, wenn der Staatsbegriff nicht jeden Bezug zur Realität verlieren soll.“

285

Siehe insbesondere K.-H. Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 2016.

286

Vgl. G.F. Schuppert, Staatswissenschaft, S. 441, 443.

287

T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 282ff.

288

Vgl. K.F. Gärditz, Der digitalisierte Raum des Netzes als emergente Ordnung und die repräsentativ-demokratische Herrschaftsform, Der Staat 54 (2015), S. 113ff.

289

J. Kersten, Schwarmdemokratie. Der digitale Wandel des Verfassungsstaates, 2017.

290

Vgl. etwa H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 526ff.; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 48ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 215ff. Siehe (knapp) auch W. Haller/A. Kölz/T. Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 83ff.

291

Dazu A. Thiele, Finanzaufsicht, S. 35ff. Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 1ff.

292

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 8. Hesse folgend A. Katz/G. Sander, Staatsrecht, Rn. 42, die aber zugleich das Erfordernis der Distanz betonen.

293

Vgl. E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 21ff.

294

Siehe auch H.H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 47: „Das Instrument, durch welches diese Unterscheidung wesentlich vollzogen wird, sind – neben dem Begriff des Amtes – die Grundrechte.“

295

Gerade im Wirtschaftsbereich beruht der moderne Staat als Steuerstaat denn auch auf einer prinzipiellen Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft, nach der sich der Staat im Kern aus dem wirtschaftlichen Bereich heraushält. Stattdessen schafft er vornehmlich die Rahmenbedingungen, damit sich wirtschaftliche Prosperität entwickeln kann und wird im Gegenzug an den (privaten) wirtschaftlichen Gewinnen finanziell beteiligt. Die Besteuerung erfolgt auch und gerade im Interesse der BürgerInnen; die nicht zuletzt von Teilen der FDP und Organisationen wie dem Bund der Steuerzahler immer wieder suggerierte Metapher vom Staat als „institutionalisierter Dieb“ erweist sich insofern aus verschiedenen Gründen als verfehlt und verkennt diese vereinbarte Arbeitsteilung. Vgl. auch A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 101f. und unten bei Frage V.

296

Siehe A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 262ff. Siehe auch H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 16.

297

Siehe dazu H.M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008.

298

Dazu A. Thiele, Gleichheit angesichts von Vielfalt im philosophischen und juristischen Diskurs, DVBl. 2018, 1112 (1119); ders., Kommunitarismus und Grundgesetz, in: W. Reese-Schäfer (Hrsg.), Handbuch Kommunitarismus, S. 465ff.; ders., Staatsverschuldung und Demokratie, Leviathan 46 (2018), 336 (347f.). Es geht also entgegen den Vorstellungen der AnhängerInnen des Suffizienzprinzips nicht allein darum, dass alle „genug“ haben. Die Alternative zu Suffizienz lautet im Übrigen auch nicht „gleich viel“, vielmehr ist ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit durchaus zulässig (und auch notwendig sowie nicht zu vermeiden). Zu schlicht insoweit N. Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, S. 19 („Also genug, statt gleich viel.“). Freiheit und Gleichheit sollten daher nicht gegeneinander ausgespielt, sondern behutsam miteinander versöhnt werden.

299

U. Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, 2. Auflage (Studienausgabe) 2019.

300

T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 281.

301

T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 281.

302

Dementsprechend ist die lange Regierungsbildung auch in anderen Staaten kein Problem (Belgien, Israel, Nordirland, Spanien).

303

C. Sunstein, #Republic, 2018.

304

P. Collier, The Future of Capitalism, S. 212.

305

Siehe dazu unten Frage VIII.

306

Darauf ist bei Frage VII noch einmal zurückzukommen.

II. Wie entstehen Staaten, welche staatlichen Wandlungsprozesse lassen sich unterscheiden und wie
und wann gehen Staaten unter?

Während die heutige Welt im Wesentlichen von Nationalstaaten überzogen ist, war das aus historischer Perspektive anders. Der Status Quo ist das Ergebnis einer dauerhaften, bisweilen wellenmäßigen Entwicklung, die sich auch zukünftig fortsetzen wird. Der Blick auf die bisherige Entwicklung und damit auf die Entstehung und Veränderung der Staaten ist auch für die Allgemeine Staatslehre im Hinblick auf die Einordnung heutiger Geschehnisse von Interesse.

1. Entstehung von Staaten

Mit der originären und der derivativen Form der Staatsentstehung lassen sich zwei grundlegende Arten unterscheiden, wie sich staatliche Strukturen auf einem Gebiet ausbilden können.

a) Originäre Staatsentstehung

Die Entstehung staatlicher Strukturen auf Territorien, wo zuvor keinerlei Staatlichkeit oder staatsähnliche Strukturen existierten wird als originäre Staatsentstehung bezeichnet. Originäre Staatsentstehungsprozesse sind heute praktisch nicht mehr denkbar – der gesamte Erdball ist von Staaten besetzt, allenfalls partiell finden sich innerhalb dieser Staaten abgeschiedene (und geduldete) Regionen, wo Staatsentstehungen theoretisch denkbar wären.[307] Auch die Entstehung von Staaten aus vorstaatlichen Herrschaftsgebilden, |58|die immerhin noch bis ins 19. Jahrhundert zu beobachten war, ist keine originäre Staatsentstehung in diesem Sinne, sofern sie sich unter dem Einfluss und nach dem Vorbild anderer Staaten vollzieht, da ein bestehendes Staatensystem dann bereits vorausgesetzt wird.[308]

Auch wenn es schwierig ist, den genauen Anfangspunkt entsprechender „erster“ staatlicher Entwicklungen zu bestimmen, da dieser im Dunkel der Frühzeit liegt und nur archäologisch erschlossen werden kann, steht fest, dass die neolithische Revolution[309] einen zentralen Wendepunkt einleitete.[310] Mit der Domestizierung von Pflanzen und Tieren und der damit einhergehenden Sesshaftwerdung – Jagen und Sammeln spielten allerdings zunächst weiterhin eine große Rolle – wurden zwischen 10.000–5000 v. Chr. weltweit Prozesse in Gang gesetzt,[311] die in einem mehrere Jahrtausende währenden komplexen Prozess zur Entstehung der ersten „staatlichen“ Hochkulturen als Vorläufer der heutigen modernen Staaten führten.[312] Zu Beginn der neolithischen Revolution handelte es sich vornehmlich um kleinere Dorfgemeinschaften, deren Zusammengehörigkeit auf verwandtschaftlichen Beziehungen und daraus resultierenden Lineages[313] beruhte und bei denen die Versorgung des je eigenen Haushalts im Vordergrund stand.[314] Auf diese Weise |59|entwickelten sich segmentäre Gesellschaften[315] mit unterschiedlichen verwandtschaftlichen Verbindungen, die im Laufe der Zeit (nicht zuletzt über beachtliche Heiratsregelungen) eine erstaunliche Komplexität erreichen konnten und deren Fortbestand zudem von gemeinsamen Ritualen und Erzählungen, mithin von sprachlichen Narrativen[316] abhängig war. Wichtig ist die Erkenntnis, dass diese segmentären Gemeinschaften weder als starr, noch als unpolitisch[317] angesehen werden können.[318] Sie unterlagen einem steten strukturellen Wandel, der mit den Reproduktionsproblemen der Sesshaftwerdung ebenso zusammenhing, wie mit wandelnden Einflüssen einzelner Lineages (Familien und Personen) und sich vor allem in veränderten Macht- und Herrschaftsstrukturen niederschlug. Einmal etablierte Strukturen waren nie von Dauer, weil sie angesichts der mit ihr einhergehenden sozialen Asymmetrie innerhalb der Gemeinschaft stets verletzlich blieben. Folgt man diesen Erkenntnissen der modernen politischen Anthropologie dürfte es vollständig egalitäre Gesellschaften entgegen früheren Vorstellungen zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte gegeben haben,[319] was den heutigen Versuch entsprechende Gesellschaften errichten zu wollen aus historischer Perspektive fragwürdig erscheinen lässt. „Kurz gesagt: es gibt keine Gesellschaft ohne politische Macht und keine Macht ohne Hierarchie und Beziehungen der Ungleichheit zwischen den Individuen und den sozialen Gruppen.“[320] Was daraus zugleich folgt, ist die Historisierbarkeit der ersten segmentären Gesellschaften; sie sind nicht geschichtslos und können und müssen aus einer prozesshaft-historischen Perspektive beleuchtet werden, was denn auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt geschieht. Der entscheidende |60|Sprung dieser Gesellschaften zur staatlichen Hochkultur hängt damit aber nicht an ihrer seit jeher vorhandenen Politisierung,[321] und erst recht nicht an einem wie auch immer gearteten Monopol legitimer Gewaltausübung, wie in Nachfolge Max Webers[322] bisweilen angenommen wird.[323] Entscheidend ist vielmehr ihre veränderte mitgliedschaftliche Struktur. Während vorhochkulturelle Gesellschaften zwar komplex aber gleichwohl verwandtschaftlich organisiert waren, gelang es den staatlichen Hochkulturen auch nicht-verwandte Personen in das Gesellschaftssystem als ordentliche Mitglieder (und nicht als reine Sklaven) zu integrieren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft wurde von der verwandtschaftlichen und positiven Reziprozität gelöst,[324] der Führungsanspruch des Häuptlings beruhte nicht mehr auf familiär-traditionellen, sondern anderen Kriterien und konnte dadurch auch von nicht verwandten Mitgliedern akzeptiert werden (balancierte Reziprozität).[325] Dass die Verwandtschaft im Hinblick auf die soziale Stellung weiterhin eine Rolle spielte, versteht sich von selbst (und ist in vielen modernen Staaten bis heute der Fall). Im Übrigen aber lösten sich die Herrscher aus den Bindungen der Verwandtschaftssysteme und gewannen an Entscheidungsfreiheit und Bestimmungsgewalt. Diese in der veränderten Mitgliederstruktur neuartige Integrationsleistung wird man im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entstehung moderner Staatlichkeit kaum überbewerten können. Umso beachtlicher ist der Umstand, dass sich solche hochkulturellen Gesellschaften praktisch auf allen Erdteilen unabhängig voneinander herausbildeten, wenn auch zeitlich auseinanderliegend. Es handelte sich also mitnichten um eine europäische Entwicklung:[326] Zunächst in Mesopotamien (in den sumerischen Städten bereits um 3500 v. Chr.), sodann in China und Südamerika.[327] Ägypten dürfte ebenfalls als Beispiel einer unabhängigen originären Staatsentstehung anzusehen sein, wenngleich wohl bereits frühzeitig Handelsbeziehungen zu Mesopotamien bestanden.[328] Im Industal ist die archäologische Forschung nicht ganz eindeutig, gleichwohl wird man der Harappa-Kultur[329] |61|(um 2300 v. Chr.) Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in der Entstehung zusprechen können. Die genauen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Entwicklung sind weiterhin nicht umfassend geklärt.[330] Am wahrscheinlichsten dürfte eine Mischung aus institutionell-organisatorischen Herausforderungen der neolithischen Revolution (vor allem im Hinblick auf die nunmehr begrenzte Territorialität der Anbauflächen) und eines sich daraus ergebenden kognitiven Wandels sein,[331] mithin eines veränderten Weltbildes, bei dem vor allem die frühen Tempelanlagen und die Tempelwirtschaft eine entscheidende Rolle spielten. Hinzu kommt die zuerst in Mesopotamien zu beobachtende Urbanisierung[332] und die Bevölkerungsstruktur. Unabhängige Hochkulturen entwickeln sich nur in wenigen Kerngebieten mit hoher Bevölkerungsdichte, in denen ein größeres Netzwerk politischer Herrschaftsgebilde („Cluster“) entsteht,[333] die in einem permanenten auch kriegerischen Wettbewerb zueinander stehen.[334] Hier wird die archäologische Forschung weitere Erkenntnisse liefern, die neben der (politischen) Anthropologie und der historischen Soziologie vornehmlich gefordert ist. Hinzu kommt die Sozio-Biologie, die erhellende Einblicke liefern kann, wie zuletzt Mark W. Moffett gezeigt hat.[335] Die Allgemeine Staatslehre, die sich nicht als genuin historische Wissenschaft ansehen sollte und dem Anspruch, das Wesen der Staatlichkeit auch in geschichtlicher Perspektive zu ergründen von vornherein nicht gerecht werden könnte, kann dazu nur wenig beitragen. Gleichwohl kann sie bei einer Beschreibung der heutigen Staatenwelt und der heutigen Herausforderungen in zumindest drei Bereichen von den Erkenntnissen bezüglich der Entstehung der ersten staatlichen Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit profitieren:

 

 |62|Erstens im Hinblick auf den Begriff des Politischen, der in seinem Inhalt nicht vorschnell mit den politischen Institutionen des modernen europäischen Staates oder wie bei Georg Jellinek überhaupt mit dem Begriff des Staates verknüpft werden sollte.[336] Politisches Handeln in Form von Herrschafts- und Machtausübung[337] im Weber’schen Sinn und darin begründeter sozialer Schichtung hat es seit jeher und nicht nur in Europa gegeben. Das Politische[338] wird insofern durch den Bezugspunkt der Herrschaft konstituiert. Adressat und Autor der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist das öffentliche Gemeinwesen, auch wenn lediglich Einzelne durch die Entscheidung betroffen sind oder die Entscheidung durch Einzelne getroffen wird. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn des Begriffs, der auf die Polis und damit auf die überindividuelle öffentliche, nicht ausschließlich private Bedeutung von Entscheidungen verweist.[339] Die Bestimmung des Politischen ist daher auch von den Betroffenen und den Akteuren des Gemeinwesens abhängig und damit von den Anschauungen der politischen Gemeinschaft geprägt.[340] Damit ist die verbindliche Entscheidung individueller Konflikte durch ein Gemeinwesen nichts anderes als politische Herrschaftsausübung – und die findet sich in allen frühen Gesellschaftsformen, die daher als politisch angesehen werden können und müssen. Politische Herrschaft ist nicht zwingend an ein bestimmtes, fest umgrenztes Territorium gebunden, wenngleich sie sich regelmäßig dort auswirkt,[341] hängt aber auch nicht an einem irgendwie gearteten Gewaltmonopol.[342] Wie solche Entscheidungen zustande kamen und woraus sie ihre Legitimität schöpften ist auch für eine moderne Allgemeine Staatslehre bedeutend. Der Staat, erst recht der moderne Staat, ist dagegen eine spätere Entwicklungsstufe, die in komplexeren Gesellschaften entstehen kann und durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsfunktionen und -strukturen gekennzeichnet ist. Er ist natürlich politisch, bildet aber nicht den gesamten Raum des Politischen ab.

 |63|Zweitens im Hinblick auf das Verständnis des Wandels von Staatlichkeit. Solche transformatorischen Prozesse lassen sich auch in vorstaatlichen Strukturen nachweisen und machen nachgerade das Wesen jeder (politischen) Gemeinschaft aus. Darüber wie ein solcher Wandel unter welchen Voraussetzungen friedlich ablaufen kann, lassen sich durch diesen Blick zurück auch heutige Transformationsprozesse besser einordnen und verstehen. Hier werden zu einem gewissen Grad wohl auch genuin menschliche Eigenschaften wirksam, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Jedenfalls wäre es verfehlt zu glauben, dass die ersten Gemeinschaften bis zur Ankunft der Europäer keine solchen Prozesse durchlaufen hätten.

 Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht.