Allgemeine Staatslehre

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie

Die modernen Staaten sind heute praktisch ausschließlich als Nationalstaaten konstruiert,[251] kennen neben einer nationalen Staatsangehörigkeit eine Nationalhymne, eine Nationalflagge sowie weitere nationale Symbole und sind – bis auf wenige Ausnahmen – in den Vereinten Nationen international organisiert.[252] Daraus wird bereits ersichtlich, dass sich dem Umstand Nationalstaat zu sein noch nichts über die innere Organisation des jeweiligen Staates entnehmen lässt. Handelt es sich um ein demokratisches oder ein autoritäres Regime, um eine Monarchie oder eine Republik? Entgegen den Vorstellungen der ersten Nationalisten hat sich das Konzept des Nationalstaats als überaus flexibel erwiesen und verträgt sich prinzipiell mit praktisch jeder innerstaatlichen Ordnung.[253] Auch ist es – noch nicht einmal in Europa – weder gelungen die einzelnen Nationen überschneidungsfrei voneinander |46|abzugrenzen geschweige denn jeder dieser Nationen als Ausgangspunkt einer friedlichen nationalstaatlichen Weltordnung ihren eigenen Staat zuzuweisen. In jedem Nationalstaat finden sich bis heute ethnische, religiöse oder sonstige Minderheiten, mit denen die Nationalstaaten umgehen müssen. Etliche Nationen fühlen sich bis heute um ihren eigenen Nationalstaat betrogen (Kurden, Katalanen, Schotten). Faktisch bleibt der Vielvölkerstaat die staatliche Normalität. Mit anderen Worten: Das Konzept des Nationalstaats wird man als im Kern gescheitert ansehen müssen. Die Idee der Nation hat zwar beachtliche Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates geleistet. Eine zentrale Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre sollte es nun jedoch sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, den Nationalstaat (nicht aber Staatlichkeit an sich) zu überwinden und Staatsmodelle zu entwickeln, die besser geeignet sind, die heutigen staatlichen Integrationsaufgaben zu meistern und die die Schwierigkeiten, die mit dem Nationsbegriff verknüpft sind, vermeiden.[254]

3. Der demokratische Verfassungsstaat

Ein solches Modell kann der demokratische Verfassungsstaat sein, der sich mit der amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete und sich dann in mehreren Wellen[255] über den Erdball ausbreitete.[256] Anders als der Nationalstaat ist er im Hinblick auf die innere Struktur des Staates nicht mehr neutral und damit das anspruchsvollere Modell.[257] Wie der Nationalstaat kommt auch dieser allerdings nicht umhin, die Zugehörigkeit zum demokratischen Staatswesen über die Staatsangehörigkeit formal zu regeln.[258] Ohne eine formale Zuordnung ist Demokratie nicht denkbar – einerseits, weil klar sein muss, wer zum Volk gehört, von dem die Staatsgewalt ausgeht, andererseits, weil Solidarität[259] und Zusammenhalt[260] (unter anderem in Form |47|eines Sozialstaats) an eine geteilte Idee der Zugehörigkeit geknüpft sind.[261] Allerdings muss diese Zuordnung nicht auf einer wie auch immer gearteten Nation beruhen. Drei Probleme der „Integration durch Nation“ sind zu beklagen: Erstens wird dadurch die Zusammengehörigkeit im Jetzt durch den Blick in eine (vermeintlich) geteilte Vergangenheit begründet. Das war in der Anfangszeit der Nationsidee kaum anders machbar, erscheint heute aber unnötig. Da es um eine Integration im Jetzt geht, sollte die Integration auch auf einer im Jetzt ruhenden Idee basieren. Zweitens ist unklar, welche Merkmale eine Nation in diesem Sinne begründen. Das macht die Idee anfällig für Missbrauch und allzu konstruierte (beliebige) Zusammengehörigkeiten – ein Phänomen, das bis heute immer wieder vorkommt und für politische Ziele instrumentalisiert wird.[262] Drittens ist die Zugehörigkeit zu einer Nation in vielen Fällen nicht erlernbar. Wo sich eine Nation ethnisch, religiös oder über territoriale Abstammung definiert, kann eine Integration von Neuankömmlingen schon formal nicht gelingen. Die betreffenden Personen bleiben BürgerInnen zweiter Klasse. Die Denationalisierung des demokratischen Verfassungsstaates könnte einen Weg darstellen, diesen Problemen zu begegnen.[263] Die Nation würde nach diesem „Zusammengehörigkeitsnarrativ“[264] – so wie zuvor die Religion – zur Privatsache erklärt („Staat ohne Nation“) hätte dort aber weiterhin ihren Platz. Die Zugehörigkeit zum demokratischen Gemeinwesen würde hingegen über die Anerkennung erlernbarer materiell-formeller Wertevorstellungen erfolgen, die primär in der Verfassung verankert sind.[265] Darauf wird bei der letzten Fragen zurückzukommen sein.

4. Der völkerrechtliche Staatsbegriff

Das Bedürfnis nach einem völkerrechtlichen Staatsbegriff, der von den unterschiedlichen internen Verhältnissen der einzelnen Staaten abstrahiert, ist weiterhin aktuell und entfiele nur, soweit sich eine einzige interne Struktur (etwa in Form des denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates) endgültig und umfassend durchsetzen sollte. Es entstand erstmals, nachdem Anfang des 19. Jahrhunderts mit den USA und den ersten südamerikanischen nicht-monarchischen Nationalstaaten Akteure die staatliche Bühne betraten, deren Staatsqualität nicht aufgrund ihrer kontinentalen Verortung (Europa) und ihrer Staatsstruktur (Monarchie) von vornherein feststand. Die Kritik an der heute herrschenden „Drei-Elemente-Lehre“ Georg Jellineks,[266] wonach diese mit ihren Kriterien Staatsgebiet, Staatsvolk und |48|Staatsgewalt[267] allzu offen und unbestimmt sei,[268] geht insofern an der zentralen Funktion eines spezifisch völkerrechtlichen Staatsbegriffs vorbei. Dieser muss in der Lage sein, die faktische staatliche Vielfalt unter sich zu vereinen,[269] nicht aber das „wahre Sein“ des Staates gänzlich zu erfassen.[270] Es ist insofern nicht ausgeschlossen, Staatlichkeit enger oder anders zu fassen (siehe dazu sogleich); allein die Eignung einer solchen Konzeption als völkerrechtliche Staatsdefinition wäre dann in Frage gestellt. Jedenfalls eignet sich die völkerrechtliche Staatsdefinition nur bedingt dazu, „Staatspolitik“ zu betreiben, um auf diesem scheinbar formalem Wege eine bestimmte Vorstellung von Staatlichkeit zum völkerrechtlichen Normmodell zu erklären.[271] Eine tauglichere als die Jellinek’sche Definition ist vor diesem Hintergrund bisher zumindest nicht gelungen. Dieser Befund schließt nicht aus, die einzelnen Elemente näher zu betrachten und auch kritisch im Hinblick auf ihre Bedeutung zu hinterfragen. Auch hier gilt es auf wandelnde Verhältnisse und technische Möglichkeiten einzugehen – in den nächsten Jahren dürfte sich etwa die Frage stellen, wo der Weltraum beginnt (und damit der Staat völkerrechtlich „endet“) und unter welchen Voraussetzungen extraterrestrische Gebiete (Mond? Mars?) zum Staatsgebiet gerechnet werden können.[272] Dabei handelt es sich weniger um eine originäre Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre als um eine solche des Völkerrechts. Die Allgemeine Staatslehre muss deren Erkenntnisse integrieren, ist aber nicht dazu aufgerufen, einen eigenen völkerrechtlichen Staatsbegriff zu entwickeln.

|49|5. Weitere Staatsbegriffe

Originäres Terrain der Allgemeinen Staatslehre wird allerdings dort betreten, wo es um die Entwicklung allgemeiner Staatsbegriffe geht, also versucht wird, das Wesen des modernen Staates konkret und losgelöst von den historischen Wesensmerkmalen und den völkerrechtlichen Vorstellungen zu fassen. Aus einer historisch-theoretischen Perspektive wird man in Anlehnung an die Dissertation von Christoph Möllers[273] die folgenden fünf Konzepte zu dem Kanon zählen können, zu dem sich auch eine moderne Allgemeine Staatslehre weiterhin verhalten sollte:

 Zwei-Seiten-Theorie (Georg Jellinek). Jellinek unterschied einen Rechts- von einem Sozialbegriff des Staates, mithin eine juristisch-normative von einer sozial-faktischen Beschreibungsebene von Staatlichkeit.[274] Damit konnte der Staat nach Jellinek zwar aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, doch mussten diese Perspektiven stets sauber voneinander getrennt werden: „Eine Vermischung des Rechtlichem mit dem, was vor dem Rechte liegt, soll in einer wissenschaftlichen Darstellung der Staatslehre nicht stattfinden.“[275] Damit ging Jellinek das Methodenproblem auf innovative Weise an, ohne es jedoch überzeugend zu lösen. Mit Christoph Möllers: „Der Anstaltsstaat des staatsrechtlichen Positivismus wird der Wirklichkeit gegenüber gleichzeitig geöffnet und juristisch immunisiert.“[276]

 Der Staat als Rechtsordnung (Hans Kelsen). Nach dieser Vorstellung ist das Recht die einzige Ausdrucksform des Staates: Der Staat ist das Recht und das Recht ist der Staat; außerhalb des Rechts gibt es keine Form von Staatlichkeit, kein faktisches Staatswesen, das wie bei Jellinek durch das Recht aufgenommen und geformt werden könnte. Es ging bei Kelsen insofern nicht nur darum, den juristischen Staatsbegriff noch stärker in den Fokus zu rücken. Vielmehr behauptete er die Unmöglichkeit eines außerrechtlichen Staatsbegriffs (auch für andere Disziplinen).[277] Vor allem aus diesem Grund dürfte sich Kelsens Staatsverständnis in der Folge nicht durchgesetzt haben; die Indifferenz bezüglich unterschiedlicher Staatsformen[278] (Demokratie oder Diktatur) spielte demgegenüber eher eine geringere Rolle.

 |50|Der faktische Staatsbegriff (Carl Schmitt). Gewissermaßen das Gegenmodell zu Kelsen bildete das Staatsverständnis Carl Schmitts, indem nicht die normative, sondern die faktische Seite des Staates in den Vordergrund gerückt wurde (wenngleich stets auf die konkrete Verfassung bezogen). Der Staat war damit für Schmitt bereits vorrechtlich existent und zwar als politische Einheit eines Volkes, das durch diese Einheit erst in die Lage versetzt wurde, sich und damit den Staat (in einer Verfassung) zu verrechtlichen. Diese vorrechtliche Einheit wirkte aber auch nach der Verrechtlichung als politische Seite des Staates fort und konnte Abweichungen von der Rechtsordnung legitimieren – etwa wenn andernfalls die politische Einheit in Gefahr geräte. Schmitt plädierte daher für eine strikte Trennung von dem die Einheit repräsentierenden Staat und der Gesellschaft/Wirtschaft und sah mit deren zunehmender Vermischung (vor allem durch die Parlamentarisierung und die Ausweitung des Sozialstaats) konsequenterweise bereits das Ende der (beziehungsweise jedenfalls seiner Vorstellung von) Staatlichkeit angebrochen.

 

 Wirklichkeitsorientiertes Staatsverständnis (Hermann Heller). Für Hermann Heller war vor allem die politische Wirklichkeit entscheidend, wenn es darum ging, den Staat zu definieren. Zentral waren für ihn daher die wirklichkeitsbezogenen Wissenschaften (Sozialwissenschaften). Er wandte sich damit nicht zuletzt gegen Kelsens Verrechtlichung, sah aber auch Jellinek als zu unpolitisch an. Die politische Einheit (Schmitt) war für Heller zwar durchaus relevant, allerdings nicht in Form einer unveränderlichen und vorrechtlichen oder vorstaatlichen Einheit. Vielmehr beschrieb Heller das Volk als vielfältig, dass sich daher nur punktuell und situationsbezogen zu einer Einheit zusammenfinden kann, die vom Staat immer wieder hergestellt werden muss. Der Staat war für Heller daher eine organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit, die sich von anderen (gesellschaftlichen) Einheiten dieser Art durch sein Gewaltmonopol unterschied, das zugleich die besondere Stellung des Staates ausmacht. Gerade diese letzte Prämisse wird in letzter Zeit immer wieder in Frage gestellt.

 Staat als prozesshafte Integration (Rudolf Smend). Anders als Schmitt ging Smend nicht davon aus, dass dem Staat eine dauerhafte gefestigte politische Einheit voranging. Die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft führe vielmehr dazu, dass auch der Staat nicht mehr als etwas Dauerhaftes, sondern als etwas stets Wandelbares, als eine dynamische Einheit angesehen werden müsse, in der die erforderliche Einheit immer wieder neu hergestellt und realisiert werden muss. Der Staat war für Smend eine konstante Integrationsgemeinschaft. Er basierte auf dem „Sinnprinzip der Integration“ und überlebte allein dank eines gedachten Plebiszits, das sich jeden Tag aufs neue wiederholte und mit dem die Bevölkerung ihre Zugehörigkeit zum Staat zum Ausdruck brachte: „[Der |51|Staat] ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhangs sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben […]. Es ist dieser Kernvorgang staatlichen Lebens […], für den ich […] die Bezeichnung Integration vorgeschlagen habe.“[279]

Für eine moderne Allgemeine Staatslehre können diese historisch-theoretischen Staatsbegriffe nicht den Endpunkt der Debatte darstellen. Das gilt schon deshalb, weil es sich um ausschließlich deutsche Konzepte handelt, die zudem allesamt aus vordemokratischen Zeiten stammen (zumindest aus deutscher Sicht), den Wandel zum Wohlfahrtsstaat damit ebensowenig erfassen, wie die aktuellen Herausforderungen. Sie haben insofern vor allem historisch-theoretischen Wert, teilweise sind sie – wie der Schmitt’sche Begriff – für die Beschreibung des demokratischen Verfassungsstaates als pluralistischem Sozialstaat von vornherein unpassend und allenfalls als Kontrastfolie nutzbar. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie für die Entwicklung neuer Staatsbegriffe keine Grundlage darstellen könnten oder sollten. Sie müssen auch keineswegs umfassend verworfen werden, jedoch auf ihre fortbestehende Tauglichkeit für die Beschreibung und Bestimmung moderner Staatlichkeit immer wieder untersucht und gegebenenfalls angepasst werden. Dass aber etwa die Integrationslehre Rudolf Smends, die Verrechtlichungsthese Hans Kelsens und auch die Jellinek’sche Zwei-Seiten-Lehre weiterhin wissenschaftlich wertvolle, ja grundlegende Beiträge darstellen – gerade auch im Hinblick auf die europäische Integration[280] –, an denen keine Allgemeine Staatslehre vorbeikommt, wird niemand bestreiten. Gleichwohl überrascht der Befund, dass es in den letzten Jahrzehnten nur vergleichsweise wenige Versuche gegeben hat, aktuellere Staatsbegriffe zu entwickeln, die die Wandlungen von Staatlichkeit in Zeiten von Globalisierung aber auch Digitalisierung angemessen zu erfassen vermögen. Seinen Grund findet das gewiss nicht zuletzt in der zunehmenden Ablösung des Staatsbegriffs als wissenschaftliche Beschreibungskategorie, die sich bereits in der Weimarer Zeit abzeichnete, als die klassische Allgemeine Staatslehre ihre Hochzeit bereits überschritten hatte. An die Stelle des Staates trat vielmehr die Verfassung, an die Stelle der Allgemeinen Staatslehre die Verfassungslehre oder schlicht das Verfassungsrecht. Als Vertreter, die sich für eine solche Aufwertung des Verfassungsbegriffs stark machten, wird man in der früheren Bundesrepublik vor allem |52|Peter Häberle und Konrad Hesse nennen können. Die mit dieser Aufwertung bisweilen suggerierte „Reinigung“ von sozialwissenschaftlichen, politischen oder (subjektiven) staatstheoretischen Einflüssen war freilich nur eine scheinbare[281] (was allerdings nur selten zu stören schien). Der „reaktionäre“ Versuch den Staatsbegriff als Reaktion auf diese Entwicklungen wiederzubeleben und dem klassischen souveränen Einheitsstaat neben oder vor der Verfassung einen eigenständigen Wert oder gar die Funktion einer Verfassungsvoraussetzung zuzuweisen wird man mittlerweile zwar als im Kern gescheitert ansehen müssen – auch weil dieser Versuch auf interdisziplinäre Verständigung praktisch vollständig verzichtete. Indes lieferte auch die „Neue Staatswissenschaft“ mit ihrem ausdrücklichen interdisziplinären und pluralistischen Ansatz keine mit wenigen Worten zu beschreibende eingängige neue Definition von Staatlichkeit für das 21. Jahrhundert. Gunnar Folke Schupperts Vorstellung der steten Veränderung des modernen Staates, des „Staat[es] als Prozess“[282] weist zwar treffend auf die Dauerhaftigkeit des Wandels moderner Staatlichkeit hin und betont damit die Notwendigkeit einer dynamischen und nicht-statischen Betrachtung des modernen Staates gerade auch durch die Allgemeine Staatslehre. Für das, was der moderne Staat in seiner gegenwärtigen Form „ist“ – auch wenn er sich kontinuierlich wandelt, hat er zu jedem Zeitpunkt auch einen aktuellen Status, der beschrieben und definiert werden kann – liefert diese Perspektive mit ihrer Betonung der „Steuerung“ und der „Governance“ im Ergebnis keine wirklich befriedigende, zumindest aber eine allzu weitgefasste Antwort. Für die Allgemeine Staatslehre ist das kein zufrieden stellender Befund. Zwar tun sich auch andere Disziplinen mit der Definition ihres zentralen Forschungsgegenstands schwer, was nicht per se als problematisch angesehen werden muss. Zu nennen wäre die Politikwissenschaft und der Begriff des Politischen. Hier gilt insofern dass, was Elif Özmen unlängst auch für die politische Philosophie festgehalten hat: „Positiv gewendet erscheinen dieser Pluralismus und die damit verbundene methodische und inhaltliche Offenheit als der angemessene Ausdruck der Komplexität und Wichtigkeit des Gegenstandes.“[283] Gleichwohl dürfte es für die jeweilige Disziplin zentral sein, dass diese Grundlagendebatte dauerhaft geführt und mit neuen Ideen und Lösungen bereichert und an die Zeitumstände angepasst wird. Das gilt auch für die Allgemeine Staatslehre, die aufgerufen ist, neue und realitätsnahe Konzepte von Staatlichkeit zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Diese sollten |53|neben normativen auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (Individualisierung, Digitalisierung, soziale Medien etc.) aufnehmen und verarbeiten – eine Forderung, die interessanterweise bereits Ernst Forsthoff Anfang der 70er Jahre formuliert hat (wenn auch vor allem im nostalgischen Blick zurück auf den klassisch-modernen, und von der Gesellschaft getrennten souveränen Staat).[284] Anders gewendet: Wer nicht mehr über den Staat spricht, muss sich nicht wundern, wenn die Allgemeine Staatslehre aufhört.

Ein Beispiel für ein solches Konzept stellt der von Thomas Vesting in Anlehnung an aber auch in Abgrenzung von Karl-Heinz Ladeur[285] präsentierte und zudem die Gedanken des Schuppert’schen Gewährleistungsstaats[286] aufnehmende „Netzwerkstaat“ dar.[287] Mit diesem Modell versucht Vesting die Folgen der Algorithmysierung und die darin begründete Fragmentierung der Gesellschaft in spontane Ordnungen[288] und Schwarmbildungen („Schwarmdemokratie“[289]) zu erfassen. Ergänzend wird es auch darum gehen müssen, die Verluste kommunaler und regionaler Zusammengehörigkeitsnarrative für den Begriff der und den Fortbestand von Staatlichkeit analytisch zu durchdringen. Diese Staatsdefinition oder Staatsbeschreibung, deren Anfänge nach Vesting bereits in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen, könnte den Ausgangs- und Reibepunkt einer modernen Allgemeinen Staatslehre bilden, die sich ihrer historisch-theoretischen Fundierung ebenso wie ihrer aktuellen Beschreibungs-, Einordnungs- und normativen Konstruktionsaufgabe bewusst ist. Das bedeutet nicht, diesen Beschreibungsversuch übernehmen oder ihn gar zum neuen Referenzmodell erklären zu müssen. Dass er im Ausgangspunkt aktuelle Phänomene der Postmoderne treffend beschreibt und im Staatsbegriff spiegelt, wird man jedoch nicht bestreiten können. Ohnehin tritt der Netzwerkstaat in Vestings Konzeption weder an die Stelle des Verfassungs- oder des Wohlfahrtsstaates, sondern ergänzt diese lediglich um eine dritte Ebene.

|54|6. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft

Damit ist ein Thema angerissen, das seit jeher auch Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre war:[290] Das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft.[291] Seit ihrer Herausbildung Ende des 17. Jahrhunderts hat sich diese Dichotomie immer wieder gewandelt. Sie darf im modernen demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr mit ihrer strikten Entgegensetzung oder Beziehungslosigkeit verwechselt werden, die allenfalls für die Zeit des Spätabsolutismus und frühen Konstitutionalismus kennzeichnend war. Wer dies verlangt, muss tatsächlich (wie Carl Schmitt oder Ernst Forsthoff) nicht zuletzt mit der Ausweitung des Sozialstaats seit dem Ende des 19., vollends aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende moderner Staatlichkeit gekommen sehen. Andererseits kann aus der faktischen Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten in einer demokratischen Ordnung nicht von einer Auflösung dieser Dichotomie gesprochen werden. Der Staat ist entgegen den Vorstellungen Konrad Hesses nicht zur bloßen „Selbstorganisation der Gesellschaft“[292] geworden. An der Unterscheidung ist vielmehr festzuhalten und insofern wird man Ernst Forsthoff folgen können: Wo diese Dichotomie aufhört, hört zumindest der demokratische Verfassungsstaat auf.[293]

Speziell für den demokratischen Verfassungsstaat vernachlässigt Hesse, dass dieser nicht nur auf Gleichheit, sondern auch auf Freiheit und zwar gerade auf Freiheit vom Staat beruht. Während in „totalen Demokratien“ die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft tatsächlich endet, wird sie im demokratischen Verfassungsstaat durch das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere die Grundrechte[294] aufrechterhalten und gepflegt.[295] Es sichert einen |55|„Raum der Dunkelheit“ außerhalb der staatlichen Ausleuchtung.[296] Der Wohlfahrtsstaat und das Sozialstaatsprinzip haben zwar noch einmal Veränderungen hervorgebracht. Allerdings wird auch dadurch die Dichotomie nicht durchbrochen, sondern erst vollendet, solange der Staat nicht das soziale Ganze seinem Regelungsanspruch unterwirft. So verstanden steht das Sozialstaatsprinzip dann im Dienst der Freiheit und der Gleichheit, indem es einerseits die sozialen Grundlagen sicherstellt, derer es zur Ausübung der individuellen Freiheitsrechte bedarf[297] und andererseits die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft auf einem Niveau hält, das es ermöglicht, dass sich alle Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft auch dauerhaft als (politisch) Gleiche er- und anerkennen können.[298] Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips in diesem Sinne ist dann keine Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates und der damit einhergehenden Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, sondern Funktionsbedingung derselben.

 

Bedrohlicher gerade aus der Sicht der Allgemeinen Staatslehre ist die Auffassung, dass der Staat zwar weiterhin von der Gesellschaft unterschieden werden kann, im Hinblick auf die Ausübung von Herrschaftsbefugnissen aber zu einem (qualitativ nicht-besonderen) Akteur unter vielen geworden ist. Diese These trifft sich mit dem oben geschilderten Einwand, wonach die Allgemeine Staatslehre ihren zentralen Gegenstand verliert, der moderne Staat sich aber jedenfalls nicht mehr als zentraler Forschungsgegenstand eignet, wenn es um eine umfassende Herrschaftsanalyse geht. Zuletzt ist sie von Udo Di Fabio vorgetragen worden.[299] Die Interaktion mit anderen Funktionssystemen und interne kommunikative Anschlussbedingungen erforderten danach eine andere, abstraktere (vom modernen Staat gelöste) Analyse von Macht und Herrschaft, die Zusammenhänge von Institutionen, |56|funktionellen Leistungen und ideellen Prägekräften sichtbar mache. Der moderne Staat sei bereits seit längerem nicht mehr der klärende Ausgangspunkt oder die Matrix für Theoriebildung; Staaten, supranationale oder internationale Organisationen seien zwar unzweifelhaft wichtig, aber nicht notwendigerweise und immer das Zentrum politischer Herrschaft, wenn man unter Macht die Steigerung der Wahrscheinlichkeit zur Übernahme fremder Selektionen und Handlungsperspektiven (Gehorsam) verstehe. Der Sache nach liegt diese These aber auch dem Konzept des Netzwerkstaats Vestings zugrunde, wenn dieser unter Berufung auf Hermann Hellers Vorstellung vom Staat als besondere organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit ausführt, dass „gegenwärtig keine Rede mehr davon sein [kann], dass der Staat den Menschen als Organisation ‚in ganz anderer Weise zu ergreifen vermag als die sonstigen Organisationen‘.“[300] Wenn Vesting zur Bestätigung seiner These unter anderem darauf verweist, dass selbst ein Land wie Deutschland „ohne Regierung funktioniert und monatelange Koalitionsverhandlungen das Alltagsleben nicht wirklich berühren“,[301] so wird man dem allerdings zweierlei entgegenhalten können: Erstens bestand selbstverständlich zu jeder Zeit eine geschäftsführende Regierung und zweitens – so würde gerade Max Weber betonen – ist der Alltag von Herrschaft die Verwaltung. Und die zentrale staatliche Verwaltung des Alltagslebens wurde von den Koalitionsverhandlungen in keiner Weise berührt – wäre sie es gewesen, hätten wir es gespürt.[302] Gleichwohl scheinen zumindest die sozialen Medien (Facebook, Twitter, Instagram) diese These zu stützen. Man denke an das Phänomen der Echokammern, das unlängst von Cass Sunstein analysiert worden ist.[303]Paul Collier hat die zentralen Akteure dieser Medien gar als die neuen „dezentralisierten Anführer der Gesellschaft“[304] bezeichnet. Dennoch bleibt der moderne Staat nach hier vertretener Ansicht auch insoweit der zentrale Herrschaftsakteur, gerade weil er als einzige „Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ die Möglichkeit hat, regulierend einzugreifen und die Existenz entsprechender Echokammern zu beeinflussen. Wer anderes behauptet, schließt allzu schnell von der faktischen Existenz dieser Entwicklungen auf ihre natürliche Notwendigkeit und Nichtbeeinflussbarkeit. Es stimmt insofern, dass der Staat hier nur selten eingreift. Es stimmt aber auch, dass er eingreifen könnte, wenn er wollte. Insofern sollte auch die Allgemeine Staatslehre dieser weit verbreiteten (und bisweilen in einer generell staatsskeptischen Ideologie wurzelnden) Ansicht nicht kampflos das Feld räumen. |57|Ohnehin sind gesellschaftliche und andere nicht-staatliche Herrschaftsträger seit jeher Bestandteil einer umfassenden Allgemeinen Staatslehre und müssen es auch sein[305] – dass die Souveränität des modernen Staates immer auf faktische Schranken stieß, ist erwähnt worden. Insofern sollten die aktuellen Entwicklungen nicht zu schnell als qualitativer Sprung gewertet werden, der der Idee einer Allgemeinen Staatslehre das Fundament nimmt, auf dem sie errichtet ist. Dass hier aber eine zentrale Debatte liegen dürfte, die innerhalb der Allgemeinen Staatslehre (und möglicherweise auch gegen sie) geführt werden muss, liegt auf der Hand.[306]