Inquietudo

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II

Was hätte Kruse darum gegeben, Marcenda noch einmal zu sehen. Jetzt, in diesem Augenblick zum Beispiel. Er könnte sie einfach an die Hand nehmen. Er hätte sie fragen mögen, was es auf sich gehabt hätte mit einem Satz, das Spielen der Kinder in der Dunkelheit betreffend. Sie hatte ihn nie gefragt, was er eigentlich von ihr wollte.

Denn: Es ist eine Geschichte zu erzählen. Es könnte auch meine Geschichte sein; vielleicht ist auch keine Geschichte zu erzählen. Vielleicht ist das Bemühen, eine Geschichte zu erzählen, zu erzählen. Ich könnte eine Geschichte erzählen, mich um Kopf und Kragen reden; reden, was das Zeug, von dem wir wissen, dass es nicht viel hält, hält. Es soll die Rede vom Reden sein, von der Klarheit im Kopf, die entsteht, wenn man redet; von den Verwirrungen, wenn man redet. Es ist schön, wenn andere den Mund halten müssen, wenn man redet. Vielleicht hatte sie es geahnt.

Jetzt, hier auf der Rua dos Douradores, der Straße der Vergolder, hätte Kruse ihr eine Antwort geben können. Doch es war zu spät.

Ich bin so groß wie das, was ich sehe. Es gehört zu den Eigenartigkeiten dieser Stadt, dass nirgends dieser Satz so zuzutreffen schien wie hier. Kaum ein anderer Ort wechselte das Verhältnis von Licht und Schatten so oft wie dieser. Es gibt nichts, worauf wirklich Verlass wäre. Karten und Stadtpläne sind Trugbilder, gleichmacherisch alles und alle auf die Nullebene des Papiers herabsenkend. Kruse erreichte die Casa Antiqua Pessoa, ein Eckhaus, gegenüber einer Spirituosenhandlung, in der es außer Alkohol krügeweise Mandeln, Nüsse, Pinienkerne und seltsam siberfarbene Bonbons gab.

***

Nach einigen Minuten hatte Vince den Ausgang gefunden. Die Tür war geschlossen, drinnen im Kaufhaus waren nur noch Putzkräfte und Lagerarbeiter zu sehen. Ob Julia noch dort war? Ob man sie zur Polizei gebracht hatte? Ein wenig Mitleid hatte er schon. Vince fror hündisch, er zitterte und durchforstete seine Taschen. In jeder steckte eine Handvoll Portemonnaies und Brieftaschen. Es wäre gut, das Geld nachzuzählen, um zu wissen, was der Raubzug eingebracht hatte; um zu wissen, ob sich die Aufregung überhaupt gelohnt hatte. Vielleicht waren es ja auch nur Kreditkarten, die sie erbeutet hatten; etwas, was ihnen gar nichts genutzt hätte. Vielleicht hatten ihre Opfer ja auch das ganze Geld ausgegeben, und jetzt waren da nur noch irgendwelche Kinderfotos und Abholscheine von der Schuhreparatur? In ein Café zu gehen, war Vince zu gefährlich. Keinesfalls könnte er dort das Geld nachzählen. Auch waren die Lokale hier in der Gegend ein wenig zu vornehm. Die Gefahr, sofort wieder hinausgeworfen zu werden, war groß. In jedem Falle hätte sein Aussehen Misstrauen erweckt.

Die Kirche des heiligen Sebastian bei der Plaza del Ángel – dort wurde sicherlich geheizt, und es wäre still genug, dass er sich in eine Ecke verziehen könnte. Er betrat das Gotteshaus mit geradezu heilig gestimmter Verfassung. Der Duft von Kerzen und Weihrauch umfing ihn wie eine elysische Kifferwolke. Eine Orgel dröhnte wie von ferne freundlich feierliche Töne. Mühsam gemessenen Schritts suchte er eine der hinteren Kirchenbänke auf, eine Stelle, an der er verschont bleiben würde von neugierigen Blicken der Touristen und Trostsuchenden. Mit einem ordentlichen Knall ließ er sich auf die Bank fallen, ein Knall, der ihn mehr erschreckte als alle anderen in diesem Haus. Die Beine hatten ihm schlichtweg den Dienst versagt. Er war unendlich müde. Die trockene Luft und die Musik taten ein Übriges.

Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlafen hatte. Er wurde geweckt von einem knisternden Geräusch, das klang wie das Brennen kleiner Äste oder … mühsam öffnete er die Augen … richtig: wie das Rascheln von Geldbündeln. Gewaltsam riss er die Augenlider auf und sah: Julia; sah, ihr wundersam breites Grinsen, die unzähligen Sommersprossen unter dem dichten zerzausten Haar.

Schön von dir, dass du auf mich gewartet hast, merkte sie schnippisch an, und danke auch für die Hilfe im Kaufhaus eben. Ich wusste doch, dass man dir nicht trauen kann. Vince wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu.

Zu blöd aber auch, dass ich dich hier gefunden hab, was? Aber das war gar nicht so schwer, wenn man dich ein wenig kennt. Aus den Cafés wärst du sowieso wieder rausgeflogen. Andere Orte scheinst du hier auch nicht zu kennen, bleibt also nur eine Kirche. Und zu beichten hast du ja wohl auch eine ganze Menge. Also, denk ich, schau ich mal in die erste rein. Und wer sitzt da, schnarchend in der letzten Reihe, mit einem ganzen Sack voll Kohle?

Erstens ist das nicht irgendeine Kirche, sondern sowas wie ein Dom, dumme Nuss, und zweitens, wenn ich hätte abhauen wollen, dann wäre ich schon längst weg, da kannst du aber drauf wetten. Wie war es denn so mit den Affen da drinnen?

Du hast es gesehen?

Ja, von weitem. Dachte, es wäre besser, ich mach mich dünn wegen dem Geld.

Haben mächtig rumgezetert und einen Höllenwind veranstaltet von wegen Polizei, über Weihnachten ins Gefängnis und so weiter. Es heißt übrigens: wegen des Geldes.

Klugscheißer. Und wie bist du sie wieder losgeworden?

Alter Trick, zieht immer. Hab einfach losgeheult. Ihnen alles zum Durchsuchen überlassen und dabei geheult wie ein Schlosshund. Da kriegt man alle weich mit.

Wie, einfach so losheulen, so auf Kommando?

Ja, soll ich mal?

Julia senkte den Kopf, wie um sich auf eine komplizierte Antwort zu konzentrieren, blickte kurz danach wieder auf, tränenüberströmt. Riesige, dicke Perlen, die sich in zwei wahren Sturzbächen ergossen. Dazu jammerte sie wie ein orientalisches Klageweib: Bitte, Señores, glauben Sie mir doch. Ich hab nichts, wirklich, Sie können alles durchsuchen. Ich hab nichts. Ich bin ganz allein, hab niemanden auf der Welt.

Vince lachte schrill auf angesichts dieser filmreifen Vorstellung.

Halt die Klappe. Der Alte da drüben beobachtet uns.

Vince sah sich um. Tatsächlich stand ein Priester in einer langen schwarzen Soutane dort und warf entrüstete Blicke zu den beiden herüber.

Ich hab in der Zwischenzeit mal das Geld gezählt. Du warst ja zu müde dazu. Ist doch nicht so viel, wie ich dachte. Hier, das ist dein Anteil.

Sie schob Vince einen Stapel Scheine und ein Häufchen Kleingeld zu. Die andere Hälfte gehört mir.

Woher weiß ich, dass es die Hälfte ist?

Musst es eben glauben.

Und was war sonst so in den Geldbörsen?

Nichts weiter, Kreditkarten, Kinderbilder, so Kram halt.

Und was machen wir damit?

Habs da vorn an den Weihnachtsbaum gehängt.

Was?

Ich hab sie zu den Püppchen, Sternen und Kullern da vorne an den Weihnachtsbaum gehängt. Ich finde, das sieht sehr schön aus. Und spätestens nach Dreikönig, wenn sie den ganzen Quatsch wieder abnehmen, werden sie es finden. Und bis dahin kann man doch mal ohne Kärtchen und Bildchen leben, oder was sagst du?

Sie lachten laut, bis der Schwarzgekittelte ihnen ein boshaftes Zischen zukommen ließ. Lass uns hier verschwinden.

Eilig packten sie die Sachen zusammen, verstauten das Geld und stürzten hastig zum Kirchenausgang. Draußen angekommen, hielt Vince Julia an der Hand fest.

Wieso bist du eigentlich nicht mit dem ganzen Geld abgehauen, als ich geschlafen hab?

Es gibt eben noch ehrliche Menschen auf der Welt, antwortete Julia, und Vince fand, dass das irgendwie ja auch für sie beide stimmte. Vermögend, wie sie nun waren, nahmen sie sich eine Taxe zur Estación de Antocha. Wenig später standen sie dort an der Abfahrtstafel, um sich einen Zug herauszusuchen, der sie aus der Stadt wegbringen würde. Die Enttäuschung war groß, weil sie glaubten, es führe noch etwas bis gegen das Ende der Welt. Oder wenigstens bis zur Hälfte, mindestens aber bis nach Griechenland, jedenfalls weit genug. Geografie war nicht eben ihre Stärke. Das Einzige, was sich als halbwegs aussichtsreich erwies, war der Abendzug nach Lissabon.

Lissabon. Öde, öde, öde, muffelte Julia vor sich hin. Kenn ich. Scheiß-Stadt, Scheiß-Leute.

Hast du eine bessere Idee?

Nein.

Na also, lass uns den nehmen. Sie kauften sich zwei Fahrkarten nach Lissabon, nur Hinfahrt.

Bis zur Abfahrt waren es noch fast vierzig Minuten Zeit.

Ich lad dich auf ein Eis ein.

Eis … Wow! Romantisch.

Gegenüber dem Bahnhofsgebäude befand sich ein Bistro, das bis in die späten Abendstunden geöffnet hatte. Auf dem Weg dorthin deckten sie sich noch mit ein paar Vorräten aus einem Lebensmittelladen ein, Brot, Wurst und eine Flasche Wein. Ihr ohnehin weniger als erhofft ausgefallener Reichtum dezimierte sich zusehends.

Naja, für ein Eis wirds ja wohl noch reichen, knurrte Vince vor sich hin und öffnete Julia unbeholfen die Tür. Sie suchten sich einen Platz am Fenster. Vince bestellte sich ein simples Himbeereis, doch Julia orderte für sich einen bombastischen Bananenkübel. Vince verkniff sich irgendwelche Bemerkungen hinsichtlich des Reiseetats. Im Übrigen war es ja sein Geld, was hier verballert wurde, weshalb Julia ein gewisses Recht hatte, sich keinerlei Gedanken zu machen. Am Nebentisch saßen drei kichernde Mädchen und unterhielten sich in einer seltsamen Sprache über zu erwartende Weihnachtsgeschenke. Erschöpft stopften Vince und Julia ihr Eis in sich hinein und sahen den drei Grazien zu. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte Vince sich glücklich, auch wenn er nicht hätte beschreiben können, worin dieses Glück bestand. Vielleicht war es die Aussicht auf das Ungewisse in Portugal. Vielleicht war es ihm angenehm, eine Art von Begleitung auf dieser Reise zu haben. Vielleicht, weil er das erste Mal keine Angst mehr hatte. Ja, das war es wohl. Endlich keine Angst mehr. Er sah Julia zu, wie sie gierig riesige Löffel mit Eis und Obst in sich hineinschaufelte. Es war schön, ihr zuzusehen.

 

***

Nachmittags füllte sich die Casa Antiqua Pessoa mit langsam heimkehrenden Strandausflüglern. Der kleine Junge mit dem Akkordeon hatte Konjunktur, er spielte schauderhaft jaulende Melodien auf seinem schäbigen Klapperinstrument, strich das übliche Schweigegeld nach wenigen Sekunden ein und verflüchtigte sich ohne weitere Dankesbezeigungen an den Nebentisch, wo sich das gleiche Ritual abspielte. Nach einigen mehr oder minder erfolgreichen Versuchen trollte er sich, um sein Handwerk an der nächsten Straßenecke zu versehen. Kruse war in der Zwischenzeit zur Freude des zuvor mürrischen Kellners von Kaffee auf Cognac umgestiegen, den er mit Wasser verdünnt zu sich nahm. Eine nicht eben übliche Mixtur, aber sie erfüllte ihren Zweck – ihn in einen angenehm dämmrigen Nachmittagsrausch zu versetzen – ohne dabei allzu schnell ihre Wirkung zu entfalten. Der kleine Akkordeon-Spieler kehrte zurück und blinzelte durchs Fenster und machte einige geheimnisvolle Andeutungen und Gesten in Kruses Richtung, die dieser aber mitnichten verstehen wollte. Der Junge schwenkte einen Zettel aufgeregt über seinem Kopf, doch Kruse war zu müde, und nach einigen Sekunden erlahmte sein Interesse an dem Jungen. Er wandte den Blick ab vom Fenster und betrachtete die inzwischen gut gefüllte Casa.

Ungefähr nach einer halben Stunde schritt, besser gesagt: schwebte eine strohblonde, mittelalte Frau durch die Eingangstür. Kruse kannte sie. Sie war die Frau eines Schweizer Verlegers, die er einmal anlässlich eines Empfangs kennengelernt hatte.

Eine Frau, etliche Munchs, Monets und Delacroix’ schwer, wie sie nicht müde wurde zu betonen; eine dilettantische Flötistin, wie der Rest des Empfangs zu später Stunde das Missvergnügen hatte, festzustellen, was im Übrigen ihrem Herrn Verlegergatten auch nicht im Ansatz peinlich zu sein schien. Die Frau, Kruse überlegte, wie sie wohl hieß und tippte auf Marianne, war sich aber nicht sicher, trug einen wagenradgroßen Strohhut; ihre reichlich zu groß ausfallende Sonnenbrille verstaute sie in einer voluminösen Handtasche, die farblich auf ihr langes, wallendes Sommerkleid abgestimmt war. Alles an ihr war groß, ausladend und üppig, und so hatte er sie auch in Erinnerung. Sie wurde von zwei jungen, gelangweilt dreinschauenden Männern begleitet, die gut und gerne ihre halbwüchsigen Söhne hätten sein können, aber mit ziemlicher Sicherheit so etwas wie Liebhaber, Kofferträger, Fremdenführer, Fußmasseure und gelegentlich ergriffenes Auditorium der flötenbesessenen Bildersammlerin in Personalunion darstellten. Marianne war anstrengend und bestimmt nicht länger als einen halben Tag ohne schwerere nervliche Zerrüttungen zu ertragen. Aber wenn man wollte, konnte man sie mögen in ihrer wunderbaren Verschrobenheit, ihrer üppigen Aufgeblasenheit, hinter der sich mehr als nur ein Restverstand verbarg. Zweifellos war sie mit etwas gesegnet, das man in einschlägigen Kreisen einen mittelschweren Dachschaden nannte, doch konnte sie sehr plötzlich Sätze voller Charme und intellektuellem Witz wie unerwartete Schüsse aus der Hüfte abfeuern; Sätze, die man ihr, offen gestanden, nicht zutraute. Marianne oder wie auch immer sie hieß, erblickte Kruse, obwohl der vorsorglich in Deckung gegangen war. Er hing hinter seinem bräunlichen Glas mit dem widerwärtigen Cognac-Wasser-Gemisch, und sie stürmte auf ihn zu, gefolgt von den beiden sonnengegerbten Strahlemännern. Kruse hatte einige Schwierigkeiten, die heranfegende Megäre zu begrüßen.

Nein, Robert, Sie hier, was für eine grandiose Überraschung!, sie quiekte geradezu vor Vergnügen. Einen Moment lang überlegte Kruse, ob es ihn stören würde, dass sie ihn Robert nannte, da er weder Robert hieß noch mit irgendeinem Robert, den er kannte, Ähnlichkeit hatte und sich auch nicht fühlte wie einer, der Robert heißen würde, wie auch immer solche Leute ausschauen. Aber erstens waren sie sich ja nur ein einziges Mal begegnet, und das war schon ein paar Jahre her, und zweitens war er sich ja ebenfalls nicht sicher, ob sie Marianne hieß oder vielleicht doch anders.

Erzählen Sie, was machen Sie hier, arbeiten?, gestehen Sie, Sie sind ein Melancholiker, nicht wahr?, eine traurige Liebesgeschichte, habe ich recht? O wie wunderbar, wie ich das liebe, diese traurigen Blicke überall, dieser wunderbare Verfall, fast wie in Palermo, glauben Sie mir, in fünfzig Jahren steht hier kein Stein mehr auf dem anderen, also genießen wir diesen architektonischen Sonnenuntergang. Lediglich der Kellner, den Kruse herbeirief, konnte sie bremsen. Ohne Atem zu holen, als sei es die logische Fortsetzung ihres monologischen Schwadronats, sagte sie, dem Kellner nur halb zugewandt: Für mich dasselbe, was der Herr trinkt, und für meine beiden Babys Zitroneneis und Milchkaffee. Sie sagte wirklich Babys, und sie fragte nicht danach, was die zwei Langweiler, ganz offenkundig waren sie das, tatsächlich wollten. Und die beiden fügten sich in die Anordnungen ihrer Herrin und Meisterin.

***

Pünktlich zur Abfahrt um 22.50 Uhr bestiegen Vince und Julia den Zug nach Lissabon. Er war heillos überfüllt mit Gastarbeitern, die, von Frankreich kommend, über die Feiertage in die Heimat fuhren. Mit Mühe fand Vince für Julia und sich noch zwei freie Plätze in einem Abteil. Am Fenster saß eine unglaublich dicke, grauhaarige Frau, ihr gegenüber und auf ihrem Schoß zwei ebenso dicke Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Das Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, aß unablässig Schokolade und zankte sich mit seinem Bruder um jeden Bissen. Der Junge, vielleicht vier Jahre älter, wurde zusehends rabiater, ohrfeigte seine Schwester, was eine prompte Backpfeife der Mutter und eine Schimpfkanonade zur Folge hatte. Der Philippika folgte eine ebenso endlose Entschuldigungsarie gegenüber den restlichen Passagieren des Abteils.

Ein älterer Herr, sehr elegant und altertümlich gekleidet, saß neben dem Rabauken. Besänftigend strich er ab und an dem Jungen übers Haar. Doch das machte den Fettwanst nur noch widerspenstiger. Unwirsch schüttelte der Junge die Hand des Alten ab. Der Zug ächzte durch die Dunkelheit.

Was solls, dachte Vince, wir sitzen und morgen früh sind wir irgendwo anders, da wo die Sonne scheint, selbst zu Weihnachten. Sie hatten Geld, nicht viel, aber was bräuchten sie schon im Süden, im wirklichen Süden.

Gegenüber dem Alten, neben der dicken Frau mit den dicken Kindern, saß ein seltsames Mädchen. Vince hatte es erst entdeckt, als Julia ihn vorsichtig mit dem Fuß anstieß und darauf hinwies. Das Mädchen blickte die ganze Zeit Vince an, genauer gesagt, es sah knapp an ihm vorbei. Doch neben ihm, da war nichts außer der Rückenlehne des Abteils. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass das Mädchen blind war. Offenbar gehörte es zu dem Alten, vielleicht seine Tochter oder Enkelin. Dass sie blind war, merkte Vince, als der dicke Junge eine halb aufgefressene Tafel Schokolade fallen ließ. Alle Blicke im Abteil richteten sich auf die zu Boden gegangene Tafel, nur der des Mädchens irrte seltsam ortlos umher.

Was war das?, fragte sie.

Nichts, Marcia, nichts, nur ein bisschen Schokolade, antwortete der Alte.

Ich will auch Schokolade, quengelte Marcia.

Von mir kriegst du nichts, Blindschleiche!, quakte der Rotzbengel daher. Prompt fing er wieder eine saftige Ohrfeige von seiner Mutter ein.

Entschuldige dich! Auf der Stelle! Los!

Ich denke nicht daran, mich bei der Blind…! Er konnte das Wort gar nicht so schnell aussprechen, schon hatte er sich eine neue Tracht Prügel eingehandelt, die von seiner Schwester, so klein sie auch noch war, mit einem hämischen Grinsen quittiert wurde. Folge davon war, dass auch sie eine geknallt bekam. Nun heulten alle drei Kinder.

Lassen Sie es gut sein, versuchte der Alte zu beschwichtigen. Es ist spät. Vielleicht sollten wir das Licht löschen und ein wenig schlafen.

Komplettiert wurde die Reisegesellschaft durch zwei Brüder, vielleicht Ende dreißig, beide in ziemlich lächerlichen Kirmesanzügen steckend. Sie belegten die Plätze an der Tür und hatten den Vorschlag des Alten längst in die Tat umgesetzt und schnarchten seit etlichen Minuten genüsslich, ohne sich um die Auseinandersetzungen der restlichen Belegschaft des Abteils auch nur im Mindesten zu kümmern.

Bevor der Alte das Licht löschen konnte, öffnete sich die Tür, der Schaffner sammelte Pässe und Fahrkarten ein, fragte, ob alles in Ordnung sei, und wünschte eine gute Nacht. Die Dunkelheit nutzte Julia aus und verschwand aus dem Abteil, wohl, wie Vince dachte, weil sie abwarten wollte, bis sich alle wieder beruhigt hatten. Als sie nach einer halben Stunde noch immer nicht zurückkam, ging Vince ihr nach. Er fand sie draußen auf dem Gang, seltsam verändert.

***

Ach, Entschuldigung, ich habe vergessen, euch miteinander bekanntzumachen, plauderte Marianne sorglos daher. Das sind Gianluca und Massimo aus Padua, sie sind Literaturstipendiaten, und ich zeige ihnen ein bisschen die Welt. Hugo, der Verlegergatte, verteilte jetzt sogar Stipendien für Literatur. Das war geradeso absurd, als wenn Kruse anfinge, Aufsätze über Quantenphysik zu verfassen. Hugo raffte an sich, was nicht niet- und nagelfest war. Sein Stammhaus verdiente ihm goldene Nasen mit Billigbildbänden, Jahreschroniken, Kalendern und Postkarten voller halbseidener Sinnsprüche. Von den Gewinnausschüttungen kaufte er sich Mehrheiten bei Radio-Stationen, Tageszeitungen und anderen Verlagen, sowie seiner Frau bunte Bilder, die er beim Blättern in seinen Billigdrucken entdeckte. Gianluca und Massimo, ach Herrgottchen, Norditaliener, alles schwule Franzosen, knurrte Kruse.

Sagen Sie, versuchte er eine Art Konversation in Gang zu bringen, als Marianne tatsächlich einmal die Luft anhielt, was führt Sie hierher außer die zweifellos angenehme Gesellschaft dieser beiden entzückenden Verseschmiede. Die Italiener schienen ihn verstanden zu haben und guckten entsprechend. Der Kellner kam und brachte das avisierte Zitroneneis. Kruse musste unweigerlich lachen über die Albernheit dieser Szenerie. Marianne wirkte ein wenig in sich gekehrt, so als müsse sie selber erst einen Moment nachdenken, was sie eigentlich hierhergetrieben hatte.

Hugo will in ein, zwei Jahren aufhören und Genf verlassen. Er sagt, das Klima dort sei nichts für ihn. Eine erstaunliche Einsicht für einen bald Siebzigjährigen, fand Kruse.

Eine erstaunliche Einsicht für einen bald Siebzigjährigen, sagte sie, finden Sie nicht auch, Robert? Er wird im Laufe der Zeit eben etwas kapriziös. Eines Abends hat er einen Atlas aus dem Regal gezogen, ihn aufgeschlagen und mit dem Finger auf eine Stelle gezeigt. Hier will ich den Rest meines Lebens verbringen, hat er gesagt, da, wo möglichst viel Wasser und wenig Europa ist. Deshalb bin ich hier, ein kleines Häuschen für Hugo und mich zu suchen.

Schon an der Art, wie sie ein kleines Häuschen sagte, war zu erkennen, dass sie nicht auf der Suche nach einer Fischerhütte war, sondern mindestens nach einem alten Adelspalast. Kruse nannte ihr ein paar Adressen, bei denen man ihr in dieser Angelegenheit sicherlich weiterhelfen konnte.

Ich jedenfalls sehe mich hier erst einmal um, ob ich das überhaupt aushalten kann. Die beiden Babys sind sozusagen nur Tarnung. Wie sie so dasaßen mit ihrem Zitroneneis und dem Milchschaum in ihren Dreitagebärten, erinnerten sie wirklich an kleine Babys. Kruse überlegte, ob er ihnen mit der Serviette den Mund abwischen sollte, ließ es dann aber doch bleiben, wahrscheinlich hätten sie unisono den Revolver gezogen und ihn erbarmungslos mit Kugeln durchsiebt.

Aber nun zu Ihnen, Robert, riss Marianne das Gespräch an sich. Sie schulden mir immer noch eine Erklärung, mein Bester. Kruse bemühte sich um eine Antwort.

Eigentlich warte ich nur hier. Ich habe einige Verabredungen mit leider vor kurzer oder längerer Zeit abhandengekommenen Personen getroffen; mit einer Frau, die ihr Erscheinen wahrscheinlich nicht ermöglichen kann, und einem Dichter, der mir stattdessen seine Gegenwart aufdrängt, obwohl dies nach allen Gesetzen der Logik, der Biologie, der Geschichte und der Psychologie ein Ding der absoluten Unmöglichkeit ist. Aber eigentlich warte ich darauf, dass diese mystischen Verkrustungen sich von selber lösen. Es ist völlig egal, was ich tue und wo ich mich befinde, ich könnte genauso gut nach Hause fahren, vielleicht sollte ich das auch tun. Wissen Sie, diese Stadt geht mir allmählich auf die Nerven mit ihrer Geheimnistuerei, ihrer verschrobenen Kabbalistik. Letztlich riecht hier doch alles nur nach Moder und Fisch, wird einem ständig irgendein Mirakulum vorgegaukelt, das höchstwahrscheinlich keines ist. Hier ist es gut zu ertragen, wann man sich hemmungslos in die Fänge einer großen hässlichen Krake begeben möchte und kleine alberne Verse zu Papier bringen will, die von Literaturbanausen wie Ihrem Hugo zu großer Kunst hochgejazzt werden. Es ist ein guter Ort für Zitroneneismilchbärte, und für Hugo und Sie ist es vielleicht ein besserer Ort, als Sie glauben. Mich ödet er einfach nur an, verstehen Sie. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, ich will einfach nicht mehr, ich habe keine Lust mehr. Sie ist weg. Ex, Schluss, aus, tot ist tot, sie kommt nicht mehr wieder. Das ist ausnahmsweise mal nicht mystisch, sondern banal. Es ist so banal, dass ich mich zehnmal am Tag übergeben möchte. Weil es keine Erinnerung gibt, nicht einmal das. Entschuldigen Sie bitte vielmals, ich möchte jetzt gehen.

 

Die Zitroneneis-Jungs guckten entgeistert. Marianne senkte die Augen und schien peinlich berührt. Kruse stand auf, drückte dem vorbeieilenden Kellner einen Geldschein in die Hand und lief zum Ausgang. Im Türbogen saß der kleine Junge, das Akkordeon achtlos neben sich in den Straßenstaub gestellt. Er lachte.

Ich habe eine Nachricht für Sie, Senhor, geben Sie mir etwas Geld.

***

Eine Weile stand Vince recht unbeholfen herum. Er hatte kein Taschentuch zur Hand, das er ihr hätte reichen können. Keiner von beiden sprach ein Wort. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt bemerkt hatte.

Was ist denn los?

Keine Antwort.

Hast du Angst? Musst du nicht. Ich pass schon auf uns auf. Oder ist es wegen Weihnachten? Jetzt wird dir doch mulmig, oder? Mir auch. Möchte echt nicht wissen, was jetzt los ist bei mir. Zuhause suchen die mich schon wie verrückt. Wenn es ganz schlimm wird, schicken wir ihnen eben eine Karte oder rufen an, dass sie sich keinen Kopf machen sollen. Er zuckte mit der Schulter, nicht wissend, ob sie ihm zugehört hatte.

Halt endlich die Schnauze, halt dein gottverdammtes Maul!

Er wollte etwas erwidern, da warf sie sich gegen ihn, schlang ihre Hände um seinen Hals und heulte schauderhaft. Sie brachte kein Wort heraus. Hilflos legte er seine Arme um ihre Schultern. Suchte nach irgendetwas, um sie zu trösten. Doch nichts fiel ihm ein. Alles, was er sagen konnte, war unsinnig, glaubte er. Also drückte er sie fester an sich. Sie ließ ihn gewähren, ohne eine Regung zu zeigen.

Eine Weile standen sie so, umschlungen, wortlos, ratlos. Kinderseelen noch, in viel zu groß gewordenen Körpern; Körpern, die schon Halberwachsenen gehörten. Seelen wie kleine Füße, die in zu großen Schuhen durchs Leben liefen.

Lautlos glitten sie aneinander herunter auf den schmierigen Boden des kleinen Ganges entlang der schlafdunklen Abteile. Über die Schulter blickend, entdeckte Vince einen dichten klaren Sternenhimmel, ungewöhnlich hell für die Jahreszeit. Julia schluchzte und schniefte nur noch leise vor sich hin. Zittrig wie ein kleines Kind schmiegte sie ihren Körper an den von Vince.

***

Bernardo, von dem der Zettel stammte, lud Kruse für Dienstagabend ein, die Nachricht beinhaltete lediglich Ort und Zeit, wiederum keine Unterschrift, kein höfliches Ersuchen, keine Anrede, keinen Gruß. Dennoch war auf den ersten Blick zu erkennen, wer der Absender war. Die Handschrift war Kruse nach der ersten Nachricht vom Morgen mittlerweile vertraut. Letztlich erwartete er auch eine Nachricht, hatte er doch nahezu einen ganzen Tag auf ihn gewartet, an einem Ort, an welchem er nicht verabredet gewesen war mit ihm, der aber dennoch der seinige zu sein schien.

Vielleicht hatte er Kruse auch hier heute Nachmittag sitzen gesehen, hatte sich vielleicht nicht getraut, hereinzukommen, weil er ihn in Gesellschaft vorgefunden hätte, und schickte stattdessen einen Boten in Form des Akkordeon-Jungen.

Dienstagabend also, murmelte Kruse versonnen und zählte ein wenig Geld ab, um es dem Jungen zu geben. Der nahm es, ohne erkennbare Regung, ob er seinen Dienst höher dotiert sehen wollte, ergriff das Akkordeon und verlor sich im Staub der Straße. Dienstag, das sind zwei Tage, noch einmal zwei Tage in dieser Stadt. Kruse fühlte sich nach seinem Wutanfall eben in dem Lokal immer noch wie zerschlagen, vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten. Vielleicht lag es auch am Cognac. Womöglich wäre es am besten, zurück ins Hotel zu gehen und eine Dusche zu nehmen. Er könnte später noch zu João in die Rezeption gehen und mit ihm ein bisschen über Fußball oder Gott reden, was auf das Gleiche hinauslief. Oder wäre es besser, das wahrzumachen, was er Marianne gegenüber angekündigt hatte, nämlich abzureisen. Sicherlich würde man noch irgendeine Abendmaschine erreichen können, ganz gleich, wo sie einen hinführen würde.

Er lief die Straßen entlang in Richtung der Praça dos Restauradores. In der Nähe dieses Platzes bestieg er die gelbe Seilbahn. Vom Ausstieg der Seilbahn waren es nur wenige Schritte zu dem kleinen Platz, den Kruse bereits seit dem Morgen erreichen wollte. Er war also angekommen. Endlich.

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