Inquietudo

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Vom Redeschwall des Alten überwältigt und des Stehens zwischen den engen Häusern mehr als überdrüssig, willigte Kruse ein, nicht ohne das Unbehagen, einem gerissenen Schnorrer auf den Leim gegangen zu sein. Er beschloss, das Ganze als ein Spiel mit offenem Ausgang, quasi eine Wette, die er mit sich selber abschloss, anzusehen. Er war sicher, der Alte hatte keine Zigarre dabei, und wenn, dann mit Sicherheit keine Romeo y Julieta.

Sie waren bei der sechsten Flasche Wein angelangt. Der Alte legte ein Tempo im Trinken vor, das in einem merkwürdigen Missverhältnis zu seiner äußeren Erscheinung stand. Doch er schien, im Gegensatz zu Kruse, dem der junge, grüne, heftig moussierende Wein zu Kopf stieg, keineswegs betrunken. Im Gegenteil, seine Ausführungen wurden im Laufe des Abends immer klarer, oder sie erschienen nur klarer, weil Kruse zusehends den Überblick verlor.

Wissen Sie, junger Freund, ich darf Sie doch so nennen angesichts des fortgeschrittenen Abends und des Quantums Alkohol, das wir beide inzwischen genossen haben, ich spürte schon heute Nachmittag, als ich das Haus verließ, dass dieser Abend ein besonders anregender werden würde. Dass ich ausgerechnet Sie treffen würde und Gefallen daran finde, mit Ihnen zu Abend zu essen, hätte ich nicht zu glauben gewagt.

Was reden Sie nur für dummes Zeug, Kruse bemerkte, dass er seine Zunge kaum noch unter Kontrolle hatte, Sie kennen mich nicht, sind zufällig in die Straßenbahn eingestiegen, in der ich saß, haben mich mit Ihrem blöden Spazierstock geködert, sich ein formidables Abendessen organisiert, Kompliment. Er ärgerte sich darüber, dass er kaum noch in der Lage war, ganze Sätze zu sprechen.

Es würde mich sehr traurig stimmen, wenn Sie so von mir denken würden, junger Freund. Glauben Sie im Ernst, ich würde nicht über genügend Barschaft verfügen, um unsere Rechnung zu begleichen. Sie sollten vorsichtiger mit Ihren Urteilen sein, und wenn Sie dieser schon so sicher sind, sollten Sie mehr Rücksicht bei Ihren Formulierungen walten lassen. Und im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, gestatten Sie mir diese letzte Anmerkung, dass in dieser Stadt nichts, aber auch gar nichts Zufall ist. Zufälle mag es in Ihrem Land, in Ihrer Sprache geben, dieser Begriff hat für uns keinerlei Relevanz, glauben Sie mir. Wir haben uns eine gewisse Hochachtung bewahrt vor dem, was man das Schicksal nennt. Und das ist etwas gänzlich Anderes … Auch wenn man geneigt ist, den Glauben an Gott zu verlieren, so sind wir uns doch ganz außerordentlich im Klaren darüber, dass jenseits der Mickrigkeit unserer Existenz und jenseits unserer beschränkten Erkenntnisfähigkeit es etwas gibt, dass – wie es in Ihrer Sprache heißt – die Welt im Innersten zusammenhält. Glauben Sie mir, dieses große Andere, es ist wie eine Krankheit, oder die Angst vor dieser Krankheit, die Angst vor dem Wahnsinnigwerden oder auch nur das Bewusstsein, das es wenig gibt, was zu erreichen wert, wirklich wert wäre … Das erklärt vielleicht unseren Abscheu vor jeglichem Prophetentum, jeglicher Eiferei im ideologischen Sinne wie auch unsere ausgesprochen obsessive Vorliebe für Geschichten sonderlicher Art … Sehen Sie, nur der Bankier, der dem Müllmann seinen Reichtum anvertraut, ist ein wahrer Bankier. Gemessen an dieser Einsicht …

Verzeihen Sie bitte, unterbrach Kruse ihn, wir sollten aufhören, die große Welt heut Abend noch einrenken zu wollen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Er suchte den Weg zu einem Waschbecken, um den Kopf eine Weile unter fließendes Wasser zu halten, was ihn, so hoffte er, ein wenig ernüchtern würde.

Sie werden noch lange brauchen, bis Sie es verstehen, junger Freund, sehr lange, vielleicht ein halbes Jahrhundert noch, rief ihm der Alte hinterher, während Kruse die Tür erreichte. Als er einigermaßen wiederhergestellt zurückkehrte, war der andere verschwunden. Es können keine drei Minuten vergangen sein, aber der Platz war leer. Er fragte einen Kellner, der bereits die übrigen Stühle zusammenstellte, nach dem Herrn von seinem Tisch. Der Kellner bedeutete ihm, dass die Rechnung beglichen sei und der Herr sich empfohlen hatte. Nein, eine Nachricht hätte er nicht hinterlassen, doch da liege eine Karte auf dem Tisch. Mit trunken-unsicherem Griff langte Kruse nach der Karte. Es stand lediglich ein Name darauf, keine Anschrift, keine Telefonnummer. Der Name lautete: Bernardo Soares.

Die Lebensgeister kehrten erst am nächsten Nachmittag zurück. Natürlich kannte Kruse Bilder von Soares, Bilder aus den dreißiger Jahren. Das heißt, natürlich nicht Bilder von Bernardo Soares, sondern von dem anderen, seinem Erfinder. Oder war es umgekehrt, war Soares der Erfinder des anderen, wer wüsste das mit Bestimmtheit heute noch zu sagen? Ein kleiner Mann mit Trenchcoat, Hut und Mantel, gebückter Haltung und lethargischem Aussehen. Nein, ein Monokel trug er nicht, das tat heutzutage keiner mehr, aber eine Brille, ein altmodisches Horngestell, daran konnte Kruse sich erinnern. Ein Verrückter, dessen war er sich sicher, einer, der sich für die Wiedergeburt eines Pseudonyms eines Dichters hält, oder der seine eigene Existenz, sprach er nicht von Mickrigkeit?, vertauscht hatte und einer rein literarischen Fiktion endlich eine Daseinsberechtigung gab; ein Hochstapler, der verquast-mystisches Zeug redet, um sich von anderen zum Essen einladen zu lassen. Und der aus Groll, weil man ihn nicht ernst nimmt, beleidigt zahlt und geht; einer, der vielleicht Langeweile hat und anderen auflauert, nur um sie betrunken zu reden. Ein alter Mann, freilich von guten Manieren und geschliffenem Ausdruck. Zum ersten Male spürte Kruse wirkliche Traurigkeit. Marcenda. Alles was geschehen war in den letzten Tagen und Wochen, war in dieser Sekunde des heftigsten Schmerzes wieder so gegenwärtig, als wäre es gestern erst passiert. Er erinnerte sich einiger ihrer markanten Gesten, beispielsweise wenn ihr etwas missfiel. Gesten, mit denen sie die Luft zerteilte, eine Luft, die es daraufhin nicht zu wagen schien, wieder zusammenzufließen und gleichsam in diesem zerteilten Zustand verharrte. Erinnerungen an das dunkle lange Haar, das bei jeder energischen Bewegung peitschenartig durch den Raum zu fliegen schien. Kruse erinnerte sich an so vieles in diesem Moment, an vieles, was war, aber auch an das, was er sich wünschte, hätte werden sollen, und was ihm jetzt so unbarmherzige Gewissheit war, dass es nie hätte sein können. Eine tiefe Wut auf Bernardo Soares stieg in ihm auf. Eine Wut, die doch selber so ohnmächtig und von kurzer Dauer war, weil sie von ihrer Vergeblichkeit wohl wusste und einer Müdigkeit ozeanischen Ausmaßes das Feld überließ. Diese Stimmung hielt die nächsten Tage über an. Kruse verharrte stundenlang in seinem Hotelzimmer, das so klein war, dass darin nicht einmal ein Tisch oder Stuhl Platz fand. Er schob das breite Doppelbett an das Fenster, direkt vor den kleinen Balkon und ließ sich, schon ermattet nach dem ersten morgendlichen Kaffee, auf die weißen Kissen fallen. Sah hinunter auf den Platz mit dem berühmten Reiterstandbild irgendeines alten Königs. Ein Platz, auf dem Myriaden von Tauben sich versammelt hatten, die von Kindern unablässig mit Maiskörnern gefüttert wurden. Den Mais konnte man, in kleine Tüten verpackt, bei einem invaliden Händler für wenig Geld kaufen. Sah auf das Menschenmeer, das sich, wie die Gezeiten des Atlantiks bewegte, morgens gegen sieben nahezu schlagartig den Platz zu überfluten drohte, sich dann im Laufe des Vormittags mit Beginn der ansteigenden Hitze langsam beruhigte, um sich dann am späten Nachmittag wieder um die Reiterstatue zu ergießen; wellenartig übereinander herfallend, sich mit infernalischem Krach überschlagend; ein Geschrei aus Verkäufern, schimpfenden Taxifahrern, plärrenden Kindern, streitenden Männern und hysterischen Ausländern, denen die Brieftasche abhandengekommen war. Teilnahmslos starrte er auf dieses Treiben, das erst am Abend erträglich wurde, wenn es kühler war. Die Bilder verschwammen zu einem Brei, einem auf- und abschwellenden Gemisch aus Farben, Lichtern, Geräuschen und Ameisenmenschen. Die Müdigkeit senkte ihre Bleigewichte auf die Lider. Kruse lag gänzlich angekleidet auf dem großen Bett vor dem Fenster, durch das die Sonne brannte.

***

Vince müsste raus aus der Innenstadt fahren in irgendeinen Randbezirk und ein Abrisshaus suchen. Damit hatte er Erfahrung, jedenfalls in anderen Städten. In Abrisshäusern konnte man oft wochenlang unentdeckt bleiben. Wenn man Glück hatte, waren sogar noch die Strom- und Gasleitungen in Ordnung, sodass man heizen oder sogar Radio hören konnte. Die Gesellschaft des Mädchens war ihm nicht unlieb gewesen, auch wenn sie ihm am Anfang ziemlich auf die Nerven ging. Sie war sogar außergewöhnlich hübsch, soweit man das in der Dunkelheit feststellen konnte. Aber sie würde sicher jetzt nach Hause gehen. Und für den Fall, sie würde ihm anbieten, mitzukommen, würde er ablehnen. Vielleicht hatte er Glück, und es ging ihr ebenso, vielleicht suchte sie ebenfalls nach einem Weg, ihn loszuwerden. Er leerte seine Bierbüchse, zerdrückte sie fachmännisch mit der Hand und warf sie, eine Spur zu cool, hinter sich auf die Wiese.

So, ich muss denn mal los. Er sprang auf und wickelte seinen Schal fest um den Hals.

Wo musst du hin?

Hab eine Verabredung.

Jetzt, um die Zeit?

Ist doch noch nicht spät. Wieso fragst du?

Vielleicht kann ich ja ein Stück mitkommen?

Ist zu gefährlich! Wie, gefährlich?

Hab noch was vor, eine Sache organisieren eben.

Kann ich nicht doch ein Stück mitkommen? Ich hau auch ab, wenn du meinst, dass es zu gefährlich wird. Vielleicht kann ich ja helfen.

Julia sah Vince an, hilflos und bittend, die Augen weit aufgerissen. Dieser Blick und das Bitten, es störte.

Wieso willst du unbedingt mitkommen? Musst du nicht irgendwann nach Hause?

 

Nein.

Musst doch irgendwo wohnen.

Tu ich aber nicht! Und jetzt hör auf mit der blöden Fragerei. Kann ich nun mit oder nicht? Vielleicht. Ich überleg es mir.

Danke.

Ich hab gesagt, ich überleg es mir. Hab nicht gesagt, kannst mitkommen.

Schon in Ordnung.

***

Am Morgen entschied Kruse, seine tagelange Isolation in dem kleinen Zimmer zu durchbrechen und endlich wieder unter Menschen zu gehen. Es war Sonntag, und er könnte am Cais do Sodré in einen Zug steigen und zum Meer fahren. Doch fürchtete er, es würde dort zu voll zu werden, weil alle Menschen der Stadt am Wochenende ans Meer fliehen. Man könnte auch mit der Drahtseilbahn nach Sant’Ana fahren, wo es einen Platz gibt, der den meisten flüchtigen Besuchern unbekannt ist, der auch deshalb wenig frequentiert wird, weil es in seiner Nähe keine Cafés gibt, in die man sich hätte zurückziehen können. Er beschloss, sich ein Mineralwasser vom Portier geben zu lassen und dorthin zu fahren. Er könnte ein Buch oder einige Bögen Papier mitnehmen, um dem Vormittag noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Lange Zeit verwendete Kruse auf das Binden einer Krawatte. Doch mal erschien ihm das eine Ende zu kurz, ein anderes Mal zu lang. Nach vielen erfolglosen Versuchen ließ er es bleiben. Bei diesen Temperaturen war es ohnehin besser, ohne Krawatte das Haus zu verlassen. Beim Hinausgehen, Saul, das mosambikanische Zimmermädchen, machte sich bereits mit dem Beziehen des Bettes und dem Aufräumen der lose dahingeworfenen Sachen zu schaffen, warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel. Es war Zeit, dass er endlich wieder einmal herauskam aus seiner freiwilligen Arrestur. Kruse verabschiedete sich von Saul, wünschte ihr einen schönen Tag und stieg, einigermaßen erwartungsfroh und gutgelaunt, die Treppen vom vierten Stock herunter zur Rezeption. Hinter einer Glastür und einem ziemlich schmierigen Tresen, auf dem einige veraltete Telefonbücher sowie in seltsamem Englisch verfasste handgeschriebene Hinweise für Hotelbesucher lagen, saß João, der Portier. João, so hießen alle Portiers dieser Stadt, und hießen sie nicht João, so heißen sie Juan oder José. Sein Alter konnte man auf Mitte, Ende vierzig schätzen; vielleicht war er zehn Jahre älter, gut möglich, ein paar Jahre jünger. Seine Gesichtsfarbe hatte etwas Bläuliches, was auf eine Herzerkrankung schließen ließ, ihn aber mitnichten hinderte, pro Tag zwei bis drei Packungen Zigaretten zu rauchen. Mehrmals täglich verließ er sein gläsernes Refugium, schloss die Schiebetür sorgsam ab, eilte die Treppen zur Straße herunter, an dem Stoffwarengeschäft vorbei, das sich im ersten Stock des Hauses befand, und ging in das kleine Bistro neben dem Hoteleingang, um sich ein Paket Zigaretten zu kaufen. Niemals zwei oder drei, seine Tagesration, sondern immer nur eines, so als gehörte dieser Ritus des Zigarettenholens, dieser täglich mehrmals praktizierte Ausflug aus dem Office zum normalen Arbeitsalltag des Portiers. Kaum hatte er die Glastür seines Arbeitsplatzes wieder geöffnet und hinter dem Tresen seinen Platz wieder eingenommen, riss er die Schachtel auf, zog eine der Zigaretten nach der andern heraus und riss die Filter ab, die er alle zusammen in einen großen Aschenbecher legte, was insofern erwähnenswert ist, weil er das mit den gerauchten Zigaretten niemals tat. Achtlos schnippte er die Kippen auf die Straße oder zertrat die Reste auf dem Boden. Doch die vor dem Rauchen abgetrennten Filter sammelte er, um sie am Abend bei Dienstschluss zusammenzuzählen und in den Papierkorb zu werfen. Die Konversation mit João beschränkte sich in der Regel auf einige Begrüßungen und Verabschiedungen pro Tag, auf einige kurze Unterredungen anlässlich des Wetters der kommenden Tage. Montags sprach Kruse mit ihm ausführlich über die Fußballergebnisse von Benfica und Sporting. Sie sprachen erst montags darüber, weil João am Sonntag seinen freien Tag hatte. Da fuhr er seine Mutter besuchen, die einige Kilometer außerhalb der Stadt in einer Vorortsiedlung wohnte. Umso erstaunlicher war, dass heute, an einem Sonntag, João in der Portiersloge saß.

Meine Mutter ist im Alentejo bei einer Cousine, erklärte er, und was soll ich an solch einem tristen Tag allein zu Hause. Ich gehe lieber hierher und räume ein wenig das Büro auf. Viel hatte er allerdings bei seinen Aufräumungsarbeiten noch nicht zuwege gebracht. In dem, was er Büro nannte, herrschte nach wie vor eine apokalyptische Unordnung aus Rechnungszetteln, Reinigungsmitteln für Saul, ein paar Zahnpasta-Tuben und Rasierwasserfläschchen, die schon einige Jahre dort verstaubten. Kruse überlegte kurz, ob er auf einen Kaffee bei João verweilen sollte. Vielleicht war es ihm ja auch ein wenig langweilig. Das Hotel war kaum belegt, beziehungsweise die wenigen Gäste, die es bevölkerten, waren heute ans Meer gereist genau wie der Rest der Stadt. Aber wahrscheinlich wollte João seine Ruhe haben, wenigstens die Bleistifte anspitzen oder im Fernsehen die Übertragung eines Autorennens anschauen. Man würde ihn nur stören. Schon längst hätte Kruse ihn auf eine Macieira einladen können, aber er glaubte, dass João niemals öffentlich trank, jedenfalls tat er dies nicht mit Hotelgästen. Also erbat er sich lediglich eine Flasche Wasser und erzählte, dass er den Tag unter einem schattenspendenden Baum in Sant’Ana zu verbringen gedenke. Diese Auskunft grenzte schon fast an eine Indiskretion. João rückte umständlich einige Koffer beiseite, die jene Gäste dort abgestellt hatten, die am Abend nach England zurückreisten und noch einen Tag in der Stadt verbrachten. Diese geräuschvolle und in dem engen Büro wirklich komplizierte Tätigkeit umständlich beendend, griff João nach einer Batterie Wasserflaschen, löste die Plastikverpackung und reichte zwei von den Flaschen herüber.

***

Kannst mitkommen, entschied Vince. Es klang etwas plötzlich und überraschend.

Wohin eigentlich?

Das genau war das Problem. Vince hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Die letzten Tage hatte er geradezu luxuriös gewohnt in einer komplett eingerichteten Wohnung in der Calle de Argumosa, nahe der Kirche San Lorenzo. Es war die Wohnung der Großeltern seines Freundes Moritz. Moritz war der einzige Mensch, der wusste, in welche Richtung es Vince verschlagen hatte. Heimlich hatten sie einen Schlüssel der großelterlichen Wohnung nachmachen lassen, den Vince mitnehmen konnte. Moritz hatte ihm eingeschärft, spätestens am 23. Dezember zu verschwinden, da würde die ganze Familie samt Großeltern zurückkehren wegen Weihnachten und Silvester. Er, Moritz, müsse auch mit. Aber bis dahin stünde die Wohnung leer. Vince hatte heute Morgen das Geschirr abgewaschen, den einen zersprungenen Teller in einer Mülltonne verschwinden lassen, alle Spuren seines Aufenthalts getilgt und die Wohnung verschlossen. Jetzt stand er da und wusste nicht, wohin in dieser Stadt. Dazu hatte er nun Julia an den Hacken, die wer weiß woher kam und nirgends hinzugehören schien. Und die ihm auch nicht weiterhelfen konnte.

Hast du Geld? Immerhin besaß sie Sinn für das Praktische.

Jedenfalls nicht genug. Nicht genug, um abzuhauen, präzisierte er.

Um abzuhauen, braucht man doch kein Geld.

Ach ja? Und wie macht man das? Hast du denn Geld?

Nicht viel.

Sie zählte ein paar Münzen und kleine Geldscheine aus ihrer Jackentasche.

Wir können uns ja welches besorgen.

Und wie?

Die Geschäfte sind noch offen, die Leute kaufen auf den letzten Ritt Geschenke, da achtet keiner mehr drauf, wohin er seine Brieftasche steckt.

Aber wir achten drauf, meinst du!

Genau.

Und dann?

Dann kaufen wir uns eine Fahrkarte, irgendwohin, wo es nicht so kalt ist, weiter nach Süden oder so. Wir nehmen einfach einen Zug heute Abend, dann wissen wir wenigstens, wo wir die Nacht über bleiben können.

Klingt gut. Vince blieb nicht mehr übrig, als dem Plan Julias eine gewisse Genialität zuzubilligen. Außerdem klang er nicht nur verlockend, sondern auch noch geradezu fantastisch simpel. Diese Verbindung ist selten, fand er.

Und was ist jetzt mit der Sache, die du noch organisieren wolltest?

Vergiss es. War nur so eine Idee.

Sie gingen die Calle de Zorilla zurück, die Vince vorhin nach seinem Steinwurf so atemlos heruntergerannt war. Gingen durch albern weihnachtlich geschmückte Straßen voller hektischer Leute, allesamt schwer bepackt mit Kartons, die in buntes Papier eingeschlagen waren, versehen mit propellergroßen Schleifen. Akazienbäume und Palmen, die mit Nikoläusen behängt waren. Julia und Vince entschieden, in ein großes Kaufhaus zu gehen, dort würden sie eher zum Ziel kommen als in einem kleinen Laden. Sie verabredeten sich. Julia solle jeweils einen der schwitzenden bepackten Weihnachtseinkäufer ansprechen, ihn um eine Auskunft oder die Uhrzeit bitten, während Vince von hinten in die Manteltasche griff und sich die Brieftasche schnappte. Natürlich suchten sie ihre Opfer vorher aus, wussten, wer einen günstigen Fang zu machen versprach; wussten, wo sie zuschlagen konnten. Dabei mussten sie ständig auf der Hut sein vor Kaufhausdetektiven oder anderen Passanten, die sie hätten beobachten können. Dass es so schnell und reibungslos funktionieren würde, hätte Vince nicht gedacht. Sie wiederholten ihre sekundenschnelle Aktion einige Male. Zwischendurch entfernten sie sich voneinander, schlenderten scheinbar ziellos durch die Regalstraßen, verständigten sich mit Blicken, wenn sie sich auf ein neues Opfer geeinigt hatten. Um nicht zu sehr aufzufallen, wechselten sie die Abteilungen und Stockwerke. Insgesamt dauerte ihr Fischzug keine Dreiviertelstunde.

Wieviel haben wir jetzt zusammen? Julia konnte es kaum erwarten, den in Windeseile erbeuteten Reichtum in Augenschein zu nehmen.

Bist du irrsinnig? Glaubst du, ich zähl das jetzt hier im Kaufhaus zusammen?

Ich mein, wie viele Brieftaschen sinds denn jetzt?

Weiß nicht. Sieben oder acht. Ich glaub, das reicht. Lass uns verschwinden. Wir gehen am besten getrennt raus. Du zuerst. Ich komm in ein paar Minuten nach. Wir treffen uns drüben an der Ecke, vor dem Bistro.

Hau bloß nicht ab!

Ich hau nicht ab. Bis gleich.

Bis gleich dann.

Julia verschwand schnell in Richtung Rolltreppe, und Vince schaute ihr nach. Nach zwei, drei Minuten ging auch er.

***

Zwei sind besser, es wird heiß, sagte João, und reichte Kruse zwei Wasserflaschen herüber. Das war wiederum schon fast eine Indiskretion seinerseits. Fast wäre man geneigt, diesen Dialog als eine ausgelassene Plauderei anzusehen. Kruse bedankte sich, nahm die beiden Flaschen, überlegte kurz, wo er sie verstauen konnte. Die Taschen seines Jacketts waren gefüllt mit allerlei scheinbar notwendigem, letztlich unbrauchbarem Zeug, einem Telefonverzeichnis, einem Wohnungsschlüssel, den er vergessen hatte zurückzugeben, einem älteren Brief von Marcenda, den er so oft gelesen hatte, dass er ihn fast auswendig kannte und in dem ihr ein Kommafehler unterlaufen war. Nicht dass er sonderlich pingelig in Sachen Orthografie wäre, aber es war ein äußerst sympathischer Kommafehler, weil er Marcendas so perfekten Erscheinungsbild eine kleine individuelle, abweichende Färbung gab. Die eine Flasche mehr oder minder geschickt unter den Arm geklemmt, die andere in der linken Hand tragend, verabschiedete er sich und wandte sich zum Gehen.

Plötzlich rief ihm João, Kruse hatte den Treppenabsatz schon erreicht, hinterher: Fast hätte ich es vergessen, Senhor, hier ist eine Nachricht für Sie. Sie wurde heute Morgen abgegeben, sehr zeitig am Morgen. Kruse kehrte zurück und stellte die Wasserflaschen auf dem Tresen ab. Er war sich sicher, dass es sich nur um einen Irrtum handeln konnte. Er hatte niemandem seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort mitgeteilt. Niemand konnte seine Adresse ausfindig machen. Er hatte auch kein Interesse daran, dass es jemand tat, denn er wollte absichtlich für eine Weile nachrichtenlos bleiben.

Das muss ein Irrtum sein, niemand weiß, dass ich hier bin, schauen Sie doch bitte noch einmal nach, João. Es handelt sich sicherlich um ein Missverständnis.

Nein, ganz bestimmt nicht, entgegnete João. Der Herr, der die Nachricht abgegeben hatte, wusste, dass Sie hier wohnen. Er sagte nur: Bitte geben Sie diesen Brief meinem jungen Freund, wenn er erwacht ist und das Haus verlassen sollte. Ich wollte den Herrn noch nach seinem Namen fragen oder ob ich sonst irgendetwas für ihn tun kann, aber er war ebenso plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Es war auch noch sehr zeitig am Morgen, wissen Sie. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie der Herr ausgesehen hat, abgesehen von dieser merkwürdigen alten Hornbrille.

 

Hier, bitte sehr, sagte João und überreichte einen Umschlag. Kruse nahm ihn entgegen, öffnete ihn und zog eine Karte heraus. Auf ihr stand in schnörkelloser, gerader Schrift ein einziger Satz, mit eleganter Handschrift verfasst. Kein Gruß, keine Adresse, kein Name, nichts, nur der Satz, exakt in der Mitte der Karte platziert: Ich bin so groß wie das, was ich sehe.

***

Julia stand am Eingang, umringt von zwei uniformierten Kaufhausangestellten. Einer zerrte an ihrer Jacke, der andere machte sich an ihrem Rucksack zu schaffen. Sekundiert wurden sie von einem Herrn in einem teuren langen Mantel, der wild gestikulierend auf einen vierten Mann einredete. Vince erkannte ihn sofort. Es war derjenige, den sie in der Parfümabteilung abgegriffen hatten. Der Schock, erwischt zu sein, lähmte ihn. Das Geld!, durchfuhr es ihn. Natürlich, er hatte es. Sie könnten Julia überhaupt nichts nachweisen, wenn er nur verschwinden würde.

Vorsichtig drehte er sich um, suchte einen anderen Ausgang. Es musste, verdammt noch mal, einen zweiten geben. Er war in der Lebensmittelabteilung gelandet, eine Lautsprecherdurchsage verkündete in näselndem Ton, dass in wenigen Minuten geschlossen würde. Soviel konnte er immerhin noch verstehen. Vince spähte noch einmal zum Ausgang und sah, dass Julia und der Mantelmensch zu einer Tür neben dem Eingang gebracht wurden. Julia wehrte sich und schrie auf die Uniformierten ein. Vince konnte es nicht hören, aber er sah es an ihren heftigen Bewegungen. Eine Menschentraube hatte sich um dieses zuckende Quintett gebildet, ebenfalls gestikulierend und wild debattierend. Aus dem Lautsprecher drang dumm-fröhlich scheppernde Weihnachtsmusik. Vince schnappte sich einen Einkaufswagen, der herrenlos abgestellt war und bewegte sich vorsichtig in Richtung des anderen Ausgangs. Auch dort standen Uniformierte. Was ist, wenn Julia ihn verpfiffen und beschrieben hätte? Inzwischen würden auch andere Brieftaschenbesitzer den Verlust bemerkt haben. Man würde das ganze Kaufhaus abriegeln, bis man den Dieb gefasst hätte. Ein ganzes Rudel von Detektiven, Polizisten und Hunden würde nach ihm suchen. Findet ihn, er hat mindestens acht Brieftaschen bei sich! Man würde ihn nicht behandeln wie einen einfachen Kaufhausdieb, der ein paar Nebensächlichkeiten eingesackt hatte. Eher schon wie einen gefährlichen Kriminellen, einen Serientäter. Am schlimmsten war der Gedanke, vielleicht jetzt noch vor Weihnachten abgeschoben zu werden, zurück nach Deutschland.

Vince verfluchte die Idee, sich mit Julia eingelassen zu haben. Weiber sind für sowas eben nicht geeignet. Dann kroch wieder die Angst in ihn. Die Angst, entdeckt zu werden, im Knast zu landen. Plötzlich sah er in einer Ecke, an der die leeren Einkaufswagen abgestellt wurden, einen blauen Kittel hängen. Einen Kittel, wie ihn Lagerarbeiter tragen. Er eilte darauf zu. Ohne sich umzusehen, griff er danach und zog ihn über. Riss sich den Schal vom Hals, versteckte ihn in der Manteltasche neben den Brieftaschen. An der Kasse lagen leere Verpackungen, Margarine-Kästen, leere Tüten, Kartons, in denen Hundefutter verpackt wurde. Er griff sich einen Stapel Kartons und fragte die Kassiererin, wohin damit. Sie sah kurz über die Schulter und bedeutete ihm mürrisch eine Tür neben der Wagenecke. Vince ging seelenruhig mit seiner Ladung auf die Tür zu und trat zweimal mit dem Fuß dagegen. Wie ein Sesam-öffne-dich sprang sie daraufhin auf, bedient von einem tiefschwarzen Lagerarbeiter, der ihm mit einem Fingerzeig den Ort wies, wo Vince die Kästen abstellen sollte. Von dort waren es noch wenige Meter bis zu einer Laderampe.

Vince rannte wie um sein Leben. Im Rennen streifte er sich den Kittel ab. Er sprang die Laderampe hinunter, rannte weiter zwischen Lastwagen, riesigen Mülltonnen, Gabelstaplern und Paletten. Den Hof hatte er schnell überquert. Er erreichte einen Gitterzaun mit rostigen Stacheldrähten obendrauf. In Sichtweite befand sich ein Pförtnerhäuschen mit einem vor sich hindösenden Uniformierten. Vince duckte sich hinter einer Mülltonne ab und wartete ungefähr zwanzig Minuten. Endlich fuhr ein großer Lieferwagen vor, hupte dreimal kurz hintereinander, worauf der Uniformierte aus seiner Ruhestellung zu erwachen schien und einen Knopf bediente, der das große Eisentor öffnete. Während der Lieferwagen im Schritttempo auf den Hof fuhr, schlängelte sich Vince im Schatten des Wagens und außer Sichtweite des Uniformierten daran vorbei. Er befand sich in einer schwach beleuchteten Seitengasse, zog seinen Schal aus der Manteltasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.