Glashauseffekt

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Eine PfG-Abgeordnete mittleren Alters aus Franken, die natürlich an jedem einzelnen Verhandlungstag anwesend ist, konnte ihr, der lokalen, weiblichen Nachwuchskraft, ein Interview zum Prozessauftakt nicht verweigern. Zunehmend hektisch sucht Erica den Besprechungsraum M 032, der sich irgendwo in der gläsern-wabenartigen Architektur des Forums verbergen muss. Als sie schließlich abgehetzt und ein paar Minuten zu spät in den richtigen Raum stolpert, hat die Abgeordnete dort bereits Getränke organisiert und ist sichtlich in ihrem Element. Hohe Föhnfrisur, Businesskostüm, Handtasche und Schuhe farblich abgestimmt. Audienz bei der Bienenkönigin, denkt Erica und macht Konversation. Bald schaltet sie mit mehr Aufwand und Getue als nötig die Aufnahmefunktion ihres Handys ein, um den Beginn des Interviews zu signalisieren. Die Abgeordnete guckt ziemlich verdutzt, dass sich tatsächlich noch jemand ohne AiO-Watch durchschlägt, sagt aber nichts.

»Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen Prozessverlauf?«

Die Abgeordnete lächelt jetzt und hat diese Frage sichtlich erwartet.

»Natürlich lief zu Beginn noch nicht alles genau nach Plan, ein Prozess wie dieser muss sich erst finden, das ist ganz normal, doch insgesamt ist die PfG endlich am Ziel eines mühseligen Weges angekommen.«

»Wäre es Ihnen lieber gewesen, Eilers wäre nicht erschienen?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Die PfG begrüßt die persönliche Anwesenheit der exemplarisch Angeklagten ausdrücklich. Es wäre aber wünschenswert gewesen, der Angeklagte Eilers hätte sein Erscheinen weniger dramatisch inszeniert.«

»Aber ist nicht der ganze Prozess eine reine Inszenierung?«

Erica hat ganz naiv, aus dem Bauch heraus gefragt, doch ihr Gegenüber wirkt jetzt verstimmt und sieht plötzlich älter aus.

»Das kann man wohl kaum vergleichen.«

Erica hat das Gefühl, etwas für die Stimmung tun zu müssen.

»Themenwechsel: Sie sind von Beginn der Bewegung an PfG-Unterstützerin gewesen, für Ihr Mandat lassen Sie nun sogar Ihre Professur am Lehrstuhl für Green-Robotic an der ETH Zürich ruhen. Was veranlasst Sie zu diesem Einsatz für einen Prozess, der keine juristischen Konsequenzen haben wird?«

»Sie müssen das als eine Art der kollektiven Psychohygiene betrachten. Man kann erst erwachsen werden und mit seiner Vergangenheit abschließen, wenn man sich schonungslos mit den Schattenseiten seiner Eltern auseinandergesetzt hat. Dieser Prozess soll und wird unserer Gesellschaft die Möglichkeit geben, einen Schlussstrich zu ziehen und endlich nach vorne blicken zu können. Dass dieser Prozess allen Widerständen zum Trotz zustande kommen konnte, zeigt, wie nötig er ist.«

»Was entgegnen Sie Kritikern, die behaupten, die Fokussierung auf exemplarisch Angeklagte verletze deren Persönlichkeitsrechte und sei auch der Komplexität von Umweltverschmutzung nach unsachgemäß?«

»Sehen Sie, wir sind in vielerlei Hinsicht die 68er des 21. Jahrhunderts. Wir fragen wieder unsere Eltern: Was habt ihr, ihr ganz persönlich, vor ein paar Jahrzehnten getan, als in Deutschland noch ein anderer Zeitgeist herrschte? Und diese Frage können Sie nicht nur einem Kollektiv stellen, die muss auch ganz individuell beantwortet werden. Der lediglich exemplarische Charakter dieser Auswahl ist dabei jedem klar. Und abgesehen davon trifft es ja weiß Gott nicht die Falschen …«

»Ihre Partei heißt mit vollem Namen Partei für Gerechtigkeit und intergenerationale Befriedung. Glauben Sie, dass dieser Prozess wirklich zu einer Befriedung zwischen den Generationen führen wird?«

»Unbedingt. Wenn endlich offiziell und eindeutig festgestellt wurde, wer Schuld trägt an den Problemen unserer Zeit, dann muss diese Schuldfrage nicht immer wieder von Neuem gestellt werden, und es kann ein Friedensvertrag mit klaren Grenzverläufen geschlossen werden. Das hat nichts mit Stigmatisierung zu tun, wie immer wieder fälschlich behauptet wird.«

»Abschließende Frage: Wie geht es mit der PfG weiter, wenn der Prozess beendet ist und die Partei ihren Daseinszweck damit erfüllt hat?«

»Zunächst werden wir wie vereinbart die Legislaturperiode zu Ende bringen und Kanzler van Dykes Koalition während dieser Zeit unterstützen. Für Spekulationen darüber hinaus ist es zum jetzigen Zeitpunkt noch viel zu früh. Alle Aufmerksamkeit muss jetzt dem Prozess gelten!«

»Vielen Dank.«


Nürnberg Today

Innenansicht

Von erica mazur

Nürnberg-Stadt | 17.03.2049

Lesedauer: 2:30 Minuten (schnell) | 5 Minuten (genau)

Was kann man noch sagen über einen Prozess, über den bereits alles gesagt ist? Was schreiben, wenn schon alles geschrieben ist?

Ich bin 23 und Prozessbeobachterin. Ich soll Eindrücke liefern, wie es im Inneren dieses Prozesses aussieht, sich anhört, wie es riecht, wie es schmeckt. Wie es schwingt, dort drinnen im Forum Francorum. Ich werde meiner Aufgabe nachkommen und dabei von außen nach innen vorgehen, vom Prof.-Harald-Lesch-Platz über den Al-Gore-Saal bis hin zu mir selbst.

Auf dem Lesch-Platz stellt man sich am besten mittig zwischen die zwei Demonstrationsblöcke, richtet den Kopf in Richtung Forum und schließt die Augen. Dann hört man von links »Achtet die Menschenwürde« und »Tod der PfG«, von rechts »Ein Rechtsstaat muss wirklich strafen« und »Hängt Eilers«. Das ist angenehm, man fühlt sich dadurch ganz im Zentrum, ganz mittig, ganz dazwischen.

Das Forum selbst gleicht an Verhandlungstagen noch mehr einem Bienenstock als sonst. Die Waben pochen im Bewusstsein, etwas Großes zu beherbergen, Schauplatz von etwas Wichtigem zu sein. Man könnte das Gefühl bekommen, im Bundestag zu sein oder zumindest in seiner fränkischen Außenstelle. Hier kann man sich mit vielen PfG-nahen Personen unterhalten, die für »intergenerationale Befriedung« eintreten und einem auftragen, die eigene Sippe einer strengen Inquisition zu unterziehen.

Tatsächlich wird einem die eigene Elterngeneration unheimlich, wenn man in Al-Gore sitzt und der Staranwältin Perec zuhört, die deren Untaten anprangert. Im Großen mit Furor, im Detail buchhalterisch penibel. Wie sollen wir weiterhin mit diesen Leuten zusammenleben, manche von uns sogar unter einem Dach mit ihnen?

Noch mehr Angst als vor der Vergangenheit bekommt man aber vor der Zukunft. Perec zeigt auf, dass die Welt in einem gigantischen Domino-Day gefangen ist: Die Klimaerwärmung taut die Permafrostböden immer weiter auf, das setzt immer noch mehr Treibhausgase frei, das setzt den Regenwald immer weiter unter Druck und so weiter. Hinter uns liegen also die Taten von Verbrechern, vor uns zeichnet sich der totale Kollaps ab. Yeah, baby!

Ich sitze in Al-Gore, umgeben von circa eintausend Mitmenschen, und fühle mich einsam, später sitze ich zu Hause, »im Kreise der Liebsten«, und bin ganz allein. Doch es gibt nötigen und unnötigen Schmerz, und vielleicht ist dieser nötig. Noch nie habe ich so intensiv über unsere Gesellschaft nachgedacht wie seit Prozessbeginn. Noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, dass ein naiver Schleier von meinen Augen entfernt wurde. Trotz aller möglichen Einwände gegen das Verfahren ist das die große Leistung dieses Prozesses und der PfG. Mit größter Spannung wird am kommenden Montag die Befragung des Beschuldigten Eilers durch Perec erwartet. Auch von mir.

Comment-Section:

Kommentarius

typisch weibliches rumgeflenne völlig ohne jeden

inhalt nur kräftig auf die tränendrüse drücken und dann bekommt man das zeug schon an den mann bzw … Mehr lesen

SchoenenTagNoch

mann sollte sie alle aufknüpfen!!!!

Tom X.

Ein runder Artikel, wie ich finde, trotz des melancholischen Tons.

JoeJoeJoe

komm mal runter man

Troglodytes

No offense, but it’s boring. hard truth.

Lissy_2031

lololol… 

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www.nuernbergtoday.de/innenansicht/em

Dingo lässt dichten grauen Rauch zum Himmel steigen, während er finster vor sich hin brütet. Niemand fragt, worüber er nachdenkt, was ihn noch zorniger macht. Erica ist wegen Philly schon völlig durchgedreht, und jetzt spricht sie auch mit ihren Eltern nur noch in gereiztem Ton, wenn überhaupt. Und das nur wegen diesem gottverdammten Prozess! Ihre Wut über die Partynacht kann er dagegen sogar ein wenig nachvollziehen, da seine wahrheitsgemäße Aussage, sich an mehrere Stunden überhaupt nicht mehr erinnern zu können, wohl tatsächlich nicht gerade vertrauenerweckend gewirkt hat. Aber die beiden gutmütigen Alten, ohne die sie beide auf der Straße sitzen würden, nein, die haben eine solche Behandlung nicht verdient. Er ist so gereizt, dass er kaum ruhig sitzen kann.

Mika und Spex versuchen, an die Bälle des Tischkickers zu kommen, ohne Geld einwerfen zu müssen. Der Regen prasselt heftig an die hohen, bunten Scheiben, und es ist eigentlich wahnsinnig gemütlich in der Landauerkapelle. Faris und Ben sitzen in warmen Jacken nahe bei Dingo auf einem der vielen abgeranzten Sofas und trinken aus einem Flachmann, den Faris mitgebracht hat. Mika hat wie immer »aufgesperrt«. Er kann das mittlerweile in Sekunden.

Vor ein paar Jahren hat sich die Stadt Nürnberg schweren Herzens bereit erklärt, die Erhaltungskosten des maroden Gotteshauses zu übernehmen, und dort dafür einen kleinen Jugendtreff eingerichtet. In dem steinernen, kühlen Raum spielen in den heißen Sommermonaten ein paar Kinder unter Aufsicht Kicker, Tischtennis und ein paar überholte VR-Spiele. In den Übergangszeiten weicht Dingo mit seinen Freunden gerne hierher aus, wenn es zu regnerisch für den Park ist und über Mazurs Dachgeschoss wieder die Flugzeuge donnern. Im Winter dann, wenn es wirklich kalt ist, gehört die Kapelle allein dem lieben Gott.

 

»Hört mal, Leute«, sagt Dingo so laut, dass sich auch Spex und Mika angesprochen fühlen müssen, »ich will ja echt nicht mosern, aber das ist doch alles total jämmerlich.«

Niemand reagiert in irgendeiner Weise, Mika kriecht mit Werkzeug im Mund unter den Kicker.

»Ernsthaft, Jungs, so geht’s nicht weiter! Schaut doch mal, was aus uns geworden ist!«

Dingo ist aufgesprungen und rauft sich die krausen Haare. Ben sieht ihn erstaunt an, aber die anderen lassen sich noch immer nicht stören.

»Geht’s euch nicht auch so, dass ihr es kaum noch aushalten könnt, dieses ständige Rumsitzen und Nichtstun? Dass man denkt, man zerspringt, wenn nicht gleich irgendwas passiert? Kennt ihr das nicht?«

»Ne, aber du machst heute den Eindruck, als hättest du das falsche Zeug erwischt«, sagt Faris. Ben lacht. Und Dingo tickt aus. Einfach so, wegen dieser fehlenden Ernsthaftigkeit. Er macht den anderen und sich nichts vor, spielt nicht den Ausrastenden, sondern hat einen erstklassigen Wutanfall und wirft den schweren Tischkicker um, sodass Mika, der noch halb darunter gekauert hat, erschrocken zurückfährt. Dingo schreit sie zornig an, was in dem kahlen, hohen Raum noch mehr Eindruck macht.

»Schaut euch doch mal an! Ihr hockt rum und brecht Tischkicker auf! Trinkt Opa-Schnaps aus einem Flachmann! Aber niemand macht mal irgendwas! Wie wär’s denn, mal was zu machen? Statt die ganze Zeit zu Hause zu sitzen und stundenlang VR-Pornos zu schauen! Wie wär das?!«

Dingos wilder Blick bohrt sich zuletzt in Faris’ Gesicht und alle schauen deswegen ziemlich betroffen. Jeder der Jungs weiß, dass Faris pornosüchtig ist und jeden Tag vier Stunden die VR-Brille auf hat. Mindestens. Echten Sex kriegt er dafür seit Jahren nicht mehr zustande, einfach zu geringe Reizstimulation.

Faris ist kein Schlägertyp, er fällt eher in sich zusammen. Mit sanftem Druck kriegen Mika und Spex Dingo dazu, sich schwer atmend zu setzen. Je mehr er sich beruhigt, desto unangenehmer wird Dingo der Vorfall, und er entschuldigt sich kleinlaut bei Faris.

Immerhin interessieren sich die anderen danach endlich dafür, was ihn heute so sehr beschäftigt: »Wie meinst’n das: ›Was machen‹? Woran denkst du?«

Dingo blickt sie herausfordernd an: »Ich spreche natürlich von diesem gottverdammten Prozess. Lasst uns den ein bisschen durcheinanderbringen! Nichts Schlimmes, nur etwas stören, ein wenig ausfällig werden – etwas zum Ausfallen bringen, wenn ihr versteht. Nur eine kleine, zusätzliche Denkpause an entscheidender Stelle schaffen!«


Es ist Freitag, kurz nach 12 Uhr, und Gloria Perec nimmt gerade den früher sehr einflussreichen, mittlerweile aber steinalten Bauernführer der 20er-Jahre, Anton Deindl, in dessen Abwesenheit auseinander. Die ganze Woche schon hat sich der Prozess ausschließlich um ihn und sein Wirken als »Cheflobbyist der konventionellen Turbolandwirtschaft« gedreht. Neben Insektensterben und Grundwasserverseuchung ist es vor allem um die fatale Verbreitung antibiotikaresistenter Keime gegangen, die zur Mitte des 21. Jahrhunderts hin immer weiter zugenommen haben. Inzwischen sind diese hochentwickelten Keime eine weit größere Gefahr, als es AIDS oder BSE in Deutschland je waren. Ericas Empfinden nach sind dies die bislang belastendsten Prozesstage gewesen, in denen die Übertragung der multiresistenten Erreger über Luft, Fleisch und Gülle zusammen mit den gravierenden gesundheitlichen Folgen detailliert nachgezeichnet worden sind. Das ist fast genauso auf den Magen geschlagen wie die Situation zu Hause, wo Philly tagsüber immer noch unbeaufsichtigt mit Dingo herumsitzt. Dazu ihre Eltern, die ihr mit zunehmender Dauer des Prozesses immer fremder werden.

Gerade fasst Perec noch einmal gnadenlos die letzte Prozesswoche zusammen und legt energisch Deindls Rolle in dem ganzen gewaltigen Schlammassel dar, bevor es am Montag dann mit Eilers, dem einzig persönlich erschienenen Angeklagten, weitergehen soll.

»… und so hat sich während der 2020er-Jahre auch die Menge an Antibiotika, die in der deutschen Tiermast eingesetzt wurde, nicht etwa weiter verringert, sondern ist im Gegenteil von deutlich unter 1000 Tonnen pro Jahr noch einmal auf über 1500 Tonnen pro Jahr angestiegen! Der Angeklagte stand dieser vernunftwidrigen und fatalen Entwicklung nicht nur wohlwollend gegenüber, sondern hat persönlich …«

Da bemerkt Erica plötzlich, dass ihr Handy vibriert. Es ist Lynn, eine sehr gute Freundin, mit der sie zusammen sechs Jahre in einer Nürnberger Brennpunktgrundschule überstanden hat. Sie drückt den Anruf weg, schickt aber gleich eine Nachricht hinterher:

Gerade busy, was gibt’s?

Sofort kommt die Antwort:

Nicht per Messenger. Wann kannst du reden?

Ericas Puls steigt, irgendwas ist da los.

In 5 min, ok?

Ok!

Erica packt schnell ihre Tasche zusammen und steht leise auf. Ihre PfG-nahe Nachbarin starrt sie entgeistert an, weil sie in einem solch wichtigen Moment den Saal verlassen möchte. Sogar ihr anderer Sitznachbar, dieser Tom, sieht mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hoch.

Draußen, im großen Foyer des Forums, zieht Erica ihr Handy wieder aus der Tasche, ihre Freundin geht sofort ran.

»Lynn, was ist los?«

»Ich halte es hier keine Sekunde länger aus«, flüstert diese. Man hört, dass sie sich zwingen muss, ruhig und leise zu sprechen.

»Was ist denn los? Wo bist du?«

»Zu Hause! Ich kann mit diesen Menschen nicht mehr unter einem Dach leben. Ich weiß eigentlich nicht, wie ich es jemals konnte!«

»Wieder Streit mit deinen Eltern gehabt?«

»Erica, hör zu, das war kein Streit. Wir sind fertig mit-

einander! Zerwürfnis, totaler Bruch!« Lynns Stimme ist trotz des Flüsterns hoch und dünn geworden, Erica hört mit angehaltenem Atem zu.

»Und jetzt?«

»Kann ich vielleicht bei dir unterkommen? Nur vorübergehend?«

Erica lacht trocken auf.

»Bei mir? Lynn, bei uns brennt es an allen Ecken und Enden, du kommst vom Regen in die Traufe. Wenn überhaupt, dann ziehe ich zu dir!«

»Ich habe heute beim Streamen meine Eltern mal explizit gefragt, ob sie sich nicht ein bisschen für ihre früheren Eskapaden schämen wollen, aber mein feiner Papa hat nur dreckig gelacht und gesagt, jede Kreuzfahrt, jeder Wochenendtrip in die USA und das alles sei es absolut wert gewesen, weil sie dadurch zumindest früher ein geiles Leben gehabt hätten. Und dann ist mir der Kragen geplatzt, und ich habe geschrien, dass man sie allein für dieses dreckige Lachen an die Wand stellen sollte. Erica, ich kann hier nicht mehr bleiben!«

Erica muss schlucken.

»Okay, ich verstehe. Ich fahre nach der Verhandlung gleich heim, dann kannst du kommen. Ich schreibe dir!«

»Was werden deine Eltern sagen?«

»Was sie in solchen Situationen immer sagen: Mi casa es tu casa. Vielleicht behalten wir die Einzelheiten aber besser für uns. Kopf hoch und bis später!«

Das weitläufige Foyer, ein Meilenstein des schwer angesagten Faunal-Stils, ist inzwischen voller Menschen. Kriebl hatte offenbar schon Hunger. An wichtigen Verhandlungstagen mischen sich in der Mittagspause hier Zuschauer, Journalisten und auch ein paar der Prozessbeteiligten zu einem aufgeregten Austausch, bevor alle in die Forumskantine verschwinden, in die Erica nicht gehen kann, weil das Essen dort zu teuer ist. Ihr Prozessnachbar steht ganz in der Nähe, schüttelt wie auch sonst in den Prozesspausen pausenlos Hände und nickt mit seiner intelligenten Brille hierhin und dorthin. Er scheint wirklich jeden zu kennen. Ihre Blicke treffen sich zufällig, als sie an ihm vorbeigeht, und er unterbricht sein Gespräch.

»Erica! Alles okay bei dir? Du hast dich so plötzlich davongemacht …«

»Ja, alles klar. Musste nur dringend eine Freundin zurückrufen. Hat sich mit ihren Eltern, äh, gestritten, um es mal zurückhaltend zu formulieren, und will jetzt übergangsweise zu mir ziehen.«

Das scheint ihn nun doch zu interessieren. Er hält seinen Kopf schief, zieht die Augenbrauen zusammen und sieht sie fragend an.

»Doch nicht etwa deswegen?«

Er deutet vage in Richtung Al-Gore-Saal.

»Letztlich irgendwie schon, denke ich.«

Er seufzt, schüttelt den Kopf und geht dann gedankenvoll in Richtung Kantine, jedoch nicht ohne ihr vorher aufrichtig alles Gute bei der Aufnahme des »Flüchtlings« gewünscht zu haben. Die zweite Hälfte des Prozesstages kommt Erica sehr lang vor, ihre Gedanken schweifen ständig ab.

Ein paar Stunden später sitzt sie in der kleinen Dachgeschosswohnung, im ersten Stock des von ihren Eltern gemieteten Reihenhäuschens, wo es inzwischen ziemlich eng geworden ist. Wo am Abend nach Phillys Rückkehr noch die Gästematratze lag, ist nun Lynns Isomatte ausgebreitet, und Erica ist froh, dass Lynn da ist. Sie hat jetzt das Gefühl, zumindest eine Verbündete in ihrem plötzlich so fremden Zuhause zu haben. Phillys Matratze dagegen hat sie gleich am Tag nach der Party eigenhändig ins Wohnzimmer geworfen.

Erica weiß nicht, ob ihre Eltern ihren Artikel gelesen haben, erwähnt haben sie ihn jedenfalls nicht. Eigentlich ist ihr das ganz recht, doch sie muss sich trotzdem eingestehen, davon irgendwie enttäuscht zu sein. Trotz aller Reibereien hatte sie eigentlich immer einen guten Draht zu ihren Erzeugern. Lynn dagegen hat den Artikel sogar Korrektur gelesen und fand ihn klasse, auch wenn sie sich noch viel mehr Schärfe gewünscht hatte. Du schonst die Alten immer noch viel zu sehr, hat sie mehrmals gesagt. Immer feste druff, Schluss mit der permanenten Verdrängung, das war ihre Devise.

Jetzt sitzt Lynn auf der Bettkante und weint, vor ihr steht ihr halb ausgepackter Rucksack. Ein paar Ersatzklamotten, einen Waschbeutel und was sie am Körper trägt – mehr hat sie nicht mitgenommen. Erica sitzt neben ihr, drückt sie an sich und murmelt: »Wird schon wieder«, oder: »Wir finden schon eine Lösung.«

Sie blickt auf die dünne Isomatte. Ach ja, die gehört auch noch zu Lynns Gepäck.


Montag, wenige Minuten vor der Sitzung. Über dem ganzen Forumsgelände liegt ein so gespanntes Surren wie seit der Prozesseröffnung nicht mehr. Da die Pflichtverteidiger bislang kaum in Erscheinung getreten sind, beginnt der Prozess in gewisser Weise erst heute, mit Eilers’ Aussage, findet Erica. Sie ist bereits auf dem Lesch-Platz gewesen und hat mit ein paar der tausenden Demonstrierenden gesprochen, hier und da auch Notizen gemacht. Wieder gibt es zwei Lager mit Anhängern und Gegnern der PfG beziehungsweise an diesem Tag eher Anhängern und Gegnern von Eilers. Erneut schirmen hunderte Polizisten die beiden Blöcke voneinander ab, hin und wieder fliegen trotzdem ein paar Gegenstände, und man muss darauf achten, rechtzeitig den Kopf einzuziehen.

Als Erica schließlich ihren Platz auf der Pressetribüne einnimmt, sieht ihr Nachbar hoch und nickt ihr freundlich zu.

»Moin, moin! Wie war das erste Wochenende mit Notbesuch?«

»Morgen. Ganz okay.«

An Lynns Anwesenheit liegt die schlechte Stimmung zu Hause jedenfalls nicht, schiebt sie in Gedanken frostig nach und blickt nach vorne. Wenigstens ist übermorgen endlich Oma Doros Geburtstag und Philly danach wieder zurück in Leipzig.

Mit großer Überraschung bemerkt sie aus den Augenwinkeln, dass dieser Tom sie noch immer mit einem interessierten Lächeln im Gesicht geradewegs ansieht. Weil sie eine lächerliche Nervosität in sich hochsteigen spürt und außerdem nicht Lynns Lebensgeschichte ausbreiten will, entschließt sie sich zu einem Ablenkungsmanöver.

»Der Herr Journalist heute von Kopf bis Fuß in Schwarz, dazu die ungewohnt gute Laune – ist jemand gestorben?«

Etwas Besseres ist ihr auf die Schnelle nicht eingefallen, dennoch stellt sie mit Genugtuung fest, dass sie ihn aus dem Konzept gebracht hat. Er betrachtet sich erstaunt und murmelt etwas, das für Erica wie »Tatsächlich … hmnm … einzige Hose … Wäscherei im Hotel … hmnmn … graues Sakko fleckig …« klingt.

Beide sehen an seinem langen, etwas schlaksigen Körper hinab, und er rückt mit einem Hüsteln seine intelligente Brille zurecht. Diese plötzliche Unbeholfenheit findet Erica irgendwie putzig, sie bringt den großen Redakteur ein wenig auf die Erde zurück. Erica hat sogar den Eindruck, als hätte sich eine feine Röte in sein Gesicht geschlichen. Da aber beide nun nicht so recht weiterwissen, entsteht eine verlegene Gesprächspause – keiner hat den passenden Kommentar auf den Lippen, aber einfach wegdrehen und nach vorne schauen ist auch keine Option. Erica spürt eine fast teeniehafte, angenehme Aufgeregtheit in sich, die ihr vor sich selbst äußerst peinlich ist. Sie schiebt sie entschieden weg.

 

»Sag mal, wusstest du eigentlich, dass es das letzte Mal in Nürnberg auch Freisprüche gab?«, fragt Tom schließlich. »Vergisst man immer!«

»Du hast Angst um Eilers, stimmt’s? Dass es ihm heute an den Kragen geht …«

»Ach was!«, sagt Tom und winkt belustigt ab. Die Small-Talk-Klippe ist damit erfolgreich umschifft und beide können wieder nach vorne sehen.

Tatsächlich ist Erica selbst etwas besorgt, als Eilers bald darauf unter dem Raunen der Zuschauer den Saal betritt. Einzelne klatschen, ein paar buhen. Nach seinem Coup beim Prozessauftakt war es still um ihn geworden, obwohl er bislang keine Verhandlungsminute verpasst hat. Hin und wieder schreibt er in sein papiernes Notizbuch, ansonsten folgt er stumm dem Prozess. Auch heute scheint er ohne Anwalt hier zu sein, wenn man einmal von seinem Pflichtverteidiger absieht.

Eine der großen Online-Klatsch-Plattformen hat heute Morgen mit einem Umfrageergebnis getitelt, wonach zwei von drei Bundesbürgern mit Eilers sympathisieren. Und das paradoxerweise bei der gleichzeitig fast ebenso großen Grundsympathie für die PfG! Diese Schlagzeile ist an den Wänden der Bushäuschen, auf den Lehnen der Sitzbänke und auf dem Gehweg unter allen Laternen, die Erica an diesem Morgen passiert hat, wie wild auf und ab gehüpft. Die Umfrage ist zwar bestimmt nicht repräsentativ, doch Erica hat das Gefühl, dass sie die landesweite Stimmung wirklich treffend wiedergibt. Der jung gebliebene Rentner Eilers hatte Mut bewiesen und seinen grauen Lockenkopf nach Al-Gore, ins Auge des Sturms, getragen. Nun fürchtet man, Perec würde dieses Haupt dem trotteligen Kriebl heute auf einem Silbertablett servieren und Eilers’ seniorigen Körper ihren Assistenten zum Fraß vorwerfen. Erica selbst teilt diese Sorge. Sie würde gerne auch ihre PfG-nahe Nachbarin links befragen, wie es in ihrem Inneren bezüglich Eilers aussieht, aber sie kommt erst wieder auf die allerletzte Sekunde, als Kriebl die Verhandlung schon eröffnet und »den Angeklagten Jochen Eilers« nach vorne ruft.

Eilers’ Pflichtverteidiger raunt seinem Mandanten etwas zu, vielleicht »Alles Gute« oder »Viel Glück«, und erntet dafür nur einen frostigen Blick. Im Blitzlichtgewitter geht Eilers mit undurchschaubarer Miene zu dem einzelnen Stuhl ganz im Zentrum des Saals. Als er Platz genommen hat, sind keine Fotos mehr erlaubt, die Kameras jedoch laufen weiter. Eilers sitzt sehr aufrecht und blickt konzentriert nach vorne. Richter Kriebl ergreift das Wort.

»Sie sind der Angeklagte Jochen Eilers, geboren am 21.02.1980 in Stuttgart, wohnhaft in 10243 Berlin, Rapinoe-Weg 13?«

»Ja.«

»Sie sind in Stuttgart aufgewachsen. Dort haben Sie die Grundschule und anschließend das Gymnasium besucht. Bereits im Grundschulalter sind Sie zum ersten Mal Gokart gefahren. Ist dies so weit korrekt?«

»Ist korrekt.«

Eilers macht jetzt einen entspannteren Eindruck und hält den Kopf etwas schief, so als würde er den Prozess untersuchen und nicht umgekehrt der Prozess seinen Fall.

»Wie kam es zu diesem ersten Kontakt mit dem Rennsport?«

»Mein Vater war bereits ein begeisterter Rennfahrer, wenn auch nur als Amateur. Er hat mir das Gokartfahren beigebracht, als ich etwa acht Jahre alt war.«

»War dies damals ein weit verbreiteter Sport?«

»Im praktischen Sinne nicht, der Aufwand und somit auch die Kosten waren durchaus beträchtlich. Rennsport im Fernsehen zu verfolgen ist jedoch sehr verbreitet gewesen, vor allem die Formel 1.«

»Dorthin zog es Sie dann selbst. Nach dem Abitur konzentrierten Sie sich ganz auf eine Karriere als Rennfahrer. Sie haben in unteren Ligen begonnen und sind mit 23 schließlich in dieser Formel 1 angekommen. Dort waren Sie insgesamt 13 Jahre aktiv und wurden zweimal Weltmeister. Ist dies korrekt?«

»Ja, doch statt von ›Ligen‹ hat man im Rennsport von ›Rennserien‹ gesprochen.«

Eilers scheint von dieser Befragung sogar belustigt zu sein.

»Ist notiert, vielen Dank. Anschließend haben Sie sich an der Organisation von solchen ›Rennserien‹ beteiligt, zunächst wieder auf eher unteren Ebenen. Im Jahr 2024 dann sind sie Geschäftsführer der Formel 1 geworden. Den Posten bekleideten Sie bis zum EU-weiten Verbot professionellen Motorsports im Jahr 2032. In dieser Funktion wurden Sie als Stimme des Autorennsports wahrgenommen und fanden weltweit Beachtung. Nach 2032 waren Sie nicht mehr erwerbstätig und haben sich dauerhaft in Berlin, äh, niedergelassen. Ist das richtig?«

Verhaltenes Gelächter im Saal. Eilers’ Party- und Frauen-Eskapaden in der Zeit nach ’32 sind vielen noch aus der Boulevardpresse in Erinnerung.

»Kann man so sagen.«

»Dies sind, stark komprimiert, die für die Vernehmung relevanten Rahmendaten Ihres Lebenslaufs. Ist etwas von Bedeutung noch nicht zur Sprache gekommen?«

»Nichts, was mit Blick auf diese Veranstaltung von Belang wäre.«

»Dann übergebe ich an die Frau Staatsanwältin.«

Eilers dreht sich auf dem Stuhl etwas, seine Körperhaltung verrät zugleich Spannung und Gefasstheit. Jeder im Saal scheint sich etwas nach vorne zu lehnen. Perec erhebt sich betont langsam, blickt auf die Unterlagen, dann auf Eilers.

»Herr Eilers, können Sie sich erinnern, wann Sie das erste Mal die Begriffe ›Klimawandel‹ oder ›Umweltkrise‹ hörten?«

»Natürlich nicht, wie sollte ich?«

»Liegt dies daran, dass diese Begriffe bereits in Ihrer Kindheit omnipräsent waren?«

»Über das ›omni‹ ließe sich streiten, aber sie waren damals schon präsent, ja.«

»Sind Sie damals auch selbst davon ausgegangen, dass ein Klimawandel stattfindet, oder haben Sie dies bezweifelt?«

Zum ersten Mal macht Eilers eine Pause. Er scheint ernsthaft zu überlegen.

»Irgendwie weder noch, glaube ich.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Ich denke, wir haben das als Kinder und Jugendliche damals einfach so hingenommen und überhaupt nicht groß darüber nachgedacht.«

»Wurde bei Ihnen im häuslichen Umfeld über das Thema gesprochen?«

»Nein. Außer vielleicht indirekt, wenn mein Vater über die Vegetarier, Veganer, Radfahrer und so weiter hergezogen hat. Er hat sie alle aus tiefster Seele gehasst.«

Eilers lächelt versonnen.

»Wie haben Sie dann als Jugendlicher und junger Erwachsener über die Themen Umweltschutz und Klimawandel gedacht?«

»Ich habe mich damit weiterhin kaum beschäftigt. Es war eine sehr stressige Zeit, wie Sie sich vorstellen können. Wenn überhaupt, habe ich das Umweltthema zu diesem Zeitpunkt höchstens als Randproblem wahrgenommen. Und danach, wohl so in den späten 2010er- und vor allem dann in den 2020er-Jahren, als der Klimawandel erstmals real spürbar wurde, dachte ich – wie viele meiner Kollegen und Freunde auch –, der menschliche Einfluss auf das Klima sei eher gering.«

Bislang hatte Perec ein wenig schief, fast lässig gestanden. Nun plötzlich steht sie kerzengerade, ihre Stimme ist schneidend.

»Halten Sie heute, im Jahr 2049, die Umwelt- und

Klimakrise für ein primär menschengemachtes Problem? Halten Sie den Menschen für die Hauptursache unserer Probleme?«

Eilers blickt sie ungläubig an.

»Natürlich! Was denken Sie von mir? Ihre Fragen haben sich auf Einstellungen bezogen, die mehrere Jahrzehnte zurückliegen.«

»Wann hat sich dieser Wandel Ihrer ›Einstellungen‹ vollzogen? Seien Sie bitte so konkret wie möglich!«

Wieder nimmt sich Eilers einen Moment des Nachdenkens. Schließlich antwortet er zögerlich.

»Wie gesagt, die ersten Folgen der Klimakrise waren ja spätestens in den 2020er-Jahren nicht mehr zu übersehen. Hinzu kamen immer stärkere wissenschaftliche Argumente, die den menschlichen Einfluss auf das Klima belegten. So ganz eingestanden habe ich es mir aber erst in den 2030ern, nach meiner Zeit in der Geschäftsführung der Formel 1.«

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