Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit

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Eine Auszeit, die alles veränderte . . .

Dr. Elisabeth Karamat, eine erfolgreiche Karrierediplomatin bei der Europäischen Union in Brüssel, ist von ihrem Berufsalltag müde und ausgebrannt. Eineinhalb Jahre nach einem Urlaub auf der idyllischen Karibikinsel St. Kitts, lässt sie sich vom diplomatischen Dienst beurlauben und beschließt für einige Zeit auf dieser Insel zu leben. Die faszinierende Geschichte einer starken und mutigen Frau.

Glück, das ist heute für mich ein stiller Moment. Ein Moment, in dem ich die wärmende Sonne auf der Haut spüre, wenn ich auf der Farm arbeite oder die würzige Brise des Meeres einatme, und mich in den Armen von Kwando, meinem Lebensgefährten, geborgen fühle. Karriere, Geld, Erfolg – all das hat für mich nichts mehr mit Glück zu tun. Das habe ich hinter mir gelassen.

Mein altes Leben spielte in Brüssel. Ich arbeitete als Diplomatin an der österreichischen Botschaft, hielt Vorträge, betreute politische Dossiers der Europäischen Union und war viel unterwegs. Ständig stand ich unter Strom. Da war die Verantwortung für meine drei Kinder, – das Jüngste war 16 – die mich und meinen geschiedenen Mann noch brauchten. Da war der Leistungsdruck meiner Arbeit, die Einsamkeit eines Lebens aus dem Koffer. Mein Körper reagierte mit zwei Bandscheibenvorfällen und Schmerzen. Meine Reaktion war: Weitermachen und Leistung bringen. Sobald ich eine Minute Luft hatte, wenn die Kinder bei ihrem Vater waren, schrieb ich an meiner Doktorarbeit. Irgendwann meldeten sich meine Gefühle: Ich war ausgebrannt, erschöpft und traurig. Ich sehnte mich nach Ruhe und Natur. Nur noch raus aus diesem Laufrad. Nur wie das gehen sollte, das wusste ich nicht. Ich versuchte es mit Sitzungen bei einem Psychotherapeuten – wirklich geholfen hat es mir nicht.

Der Impuls, meinem Leben eine neue Richtung zu geben, kam unerwartet von ganz anderer Seite. Vor sechs Jahren lud mich eine Kollegin zum Urlaub in ihre Heimat St. Kitts in der Karibik ein. Ich lernte die Insel und ihre freundlichen Menschen kennen und schätzen. Auch das milde Klima tat mir gut. Ich blühte regelrecht auf und fühlte seit langer Zeit keinen Druck auf meinen Schultern. Doch niemals hätte ich es für möglich gehalten, hier später auch meine große Liebe zu finden: Kwando Harvey, Farmer, Imker und spiritueller Heiler aus St. Kitts. Das erste Mal nahm ich ihn damals bei meinem ersten Besuch an einer Bushaltestelle wahr. Er, der als junger Mann bei einem Motorradunfall ein Bein verloren hatte, lehnte kerzengerade mit Krücken an einer Bretterbude. Ich spürte quer über den Platz seinen Blick auf mir ruhen. Und nahm eine seltsame Kraft wahr. Ich konnte sie nicht beschreiben, sie blieb mir aber in Erinnerung. Kurz darauf musste ich zurück nach Brüssel. Ich weinte, als das Flugzeug abhob. Wie gern wäre ich länger auf dieser Insel geblieben. Es wäre genau das, was ich brauchte.

Wieder heimgekehrt, zehrte ich von meinen schönen Erinnerungen. Nach einigen Monaten meldete sich ein Pfarrer, den ich in der Karibik kennengelernt hatte. Überraschend bot er mir eine Stelle in einem Landwirtschaftsprojekt an, das ich begleiten sollte. Ohne zu zögern sagte ich zu, obwohl ich bis dato von Ackerbau kaum Ahnung hatte. Aber ich spürte, dass dieses Angebot eine Chance für etwas Neues sein könnte. Vielleicht war das mein Rettungsanker. Ich suchte nach Möglichkeiten nach St. Kitts für das Projekt entsandt zu werden. Eineinhalb Jahre später war es soweit, die Wiener Erzdiözese und die österreichische Organisation Horizont 3000 waren bereit, mich als Entwicklungshelferin für zwei Jahre zu finanzieren und so ließ ich mich vom diplomatischen Dienst beurlauben.

Ich spürte Widerstand gegen meinen Neustart auf der Karibikinsel St. Kitts. Freunde und Familie meinten damals, meine Sicherheit so aufzugeben sei fahrlässig. Heute, fünf Jahre später, reden die meisten nicht mehr so überzeugt von Sicherheit angesichts der Finanzkrise in Europa. Meine Kinder waren damals zwar schon erwachsen, so erwachsen wie man mit 18, 20 und 22 Jahren sein kann. Aber zum ersten Mal blieb ihre Mami richtig weit weg von ihnen. Sie hatten Angst, dass ich sie im Stich lasse. Doch ich wusste, sie würden auf eigenen Beinen stehen können. Ich musste mein Leben in die Hand nehmen. Für mich um zu heilen.

Was ich völlig unterschätzt hatte, war die körperliche Herausforderung bei dem Landwirtschaftsprojekt, das ich gemeinsam mit der Regierung von St. Kitts und der Kirche organisierte, damit jugendliche Arbeitslose von Experten geschult würden, um eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu bekommen. Die Menschen waren freundlich, doch allmählich verstand ich ihre Sorgen und die bitteren Konsequenzen der Armut in ihrem Leben. Tropische Temperaturen und die ungewohnt harte Arbeit auf dem Feld setzten mir zu. Stundenlang pflanzte ich bei sengender Hitze Stecklinge. Aufgeben kam mir nicht in den Sinn. Ich biss die Zähne zusammen, machte Pausen, trank Wasser, aß Salziges. Ich sah es als Fitnesstraining und lernte dabei viel über tropische Landwirtschaft.

Eines Tages traf ich Kwando wieder. Im Bus war der einzige freie Platz neben ihm. Wir kamen ins Gespräch, er bot an, mich zu besuchen, brachte mir Honig in einer alten Rumflasche, half mir mit dem Projekt. Ich war fasziniert von seiner Andersartigkeit. Seiner Intelligenz. Seinem ehrlichen Interesse an mir. Da begegneten sich zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Ich, die verkopfte Karrierefrau. Und er, den sie auf der Insel nur den »Honigmann« nennen, weil er als Imker arbeitet und die Nester wilder Bienen umsiedelt. Er vertraute mir, der Frau aus einer anderen Welt, sprach über seinen Glauben und seine spirituellen Erfahrungen mit mir. Stellt mich seiner Mutter vor. Wollte alles mit mir teilen, was er besaß. Er nahm sich sogar vor, mir eine Kuh zu schenken, wenn er einmal genug Geld habe. So eine Großzügigkeit hatte ich vorher noch nicht erlebt. Doch sein Bedürfnis nach Nähe überforderte mich, die aus einer kalten einsamen Welt kam. So begann ich zu schreiben. Ich musste unsere Liebesgeschichte niederschreiben, um zu begreifen, dass Kwando und ich trotz aller Gegensätze uns wie durch ein unsichtbares Band miteinander

verbunden fühlten. Kwando musste erst lernen, dass ich ihn liebe, auch wenn ich nicht rund um die Uhr bei ihm sein konnte. Ebenso lernte ich von ihm, mich wieder zu öffnen und meine weiche Seite zuzulassen. Das Schreiben half mir tatsächlich, unsere Beziehung zu verstehen, bis ich soweit war, meinen autobiografischen Roman »Honigmann« zu publizieren, um anderen Menschen Mut zur Veränderung und Hoffnung in die Liebe zu geben.

Kwando, der Honigmann und ich sind aus unseren Krisen gewachsen. Seit zwei Jahren führen wir gemeinsam ein Projekt auf seiner Farm. Auf der Insel herrscht eine Affenplage. An die 100.000 Grünmeerkatzen zerstören jede essbare Ernte. Während ausländische und lokale Experten nach Wegen suchen, die Affen zu dezimieren, bauen Kwando und ich in unserem Projekt experimentell Nutzpflanzen an, die die Affen in Ruhe lassen. Kwando will keinem Tier auf seinem Farmgrund schaden, denn als Rasta und Vegetarier hat er eine besondere Beziehung zu Tieren. Schließlich nennen sie ihn ja auf der Insel den Honigmann, weil er so gut mit Bienen umgehen kann. Mit der Hilfe internationaler Freiwilliger, die sich bei uns melden, binden wir einheimische Farmer und Jugendliche in die Arbeit ein, damit sie später einmal die Farmen ihrer Eltern übernehmen können. Heilpflanzen, wie Ingwer und Pfefferminze züchten wir für den Verkauf. Zudem haben wir Drahtkäfige für Gemüse errichtet, um es vor den Affen zu schützen. Kwandos Esel haben für ihn als Amputierten eine wesentliche Bedeutung bei der Verrichtung der Farmarbeit; zudem halten die Esel das invasive Guineagras in Schach und liefern Dung für unser Biogemüse. Sie sind wunderbare Wesen unsere Esel. Mit ihnen hielten wir auch ein Sommercamp für behinderte Kinder auf der Farm, eine Initiative, die wir im Juli dieses Jahres (2013) mit einer österreichischen Tiertherapeutin wiederholen werden.

Ich bin weiterhin vom diplomatischen Dienst beurlaubt, verdiene umgerechnet etwa 500 Euro im Monat, also viel weniger als in meinem alten Leben. Bereut habe ich meine Entscheidung nie, trotz der Widrigkeiten. Ich habe das kreative Schreiben entdeckt, »Honigmann« publiziert. Ich habe durch Kwando, der tief in seinem christlichen Glauben verankert ist, sich zum spirituellen Heiler ausbilden ließ, einen neuen Weg zu meinem alten Glauben gefunden.

Manche bezeichnen mich als Aussteigerin, doch bin ich nicht ausgestiegen oder abgehauen, viel eher erlebe ich Begegnungen mit Menschen in Europa oder in St. Kitts intensiver als je zuvor. Durch die Öffentlichkeitswirkung meines Buches »Honigmann« melden sich Freiwillige, Gäste, die uns in St. Kitts besuchen. Heute lebe ich ehrlicher, bin in offenherzigerem Kontakt mit Menschen. Und geben wir es doch zu, mit den heutigen Möglichkeiten ist die Welt ein Dorf geworden. Ich bin dankbar, dass ich in St. Kitts weilen kann. So ernte ich, umgeben von Eseln und Pferden, Ingwer oder Minze auf der Farm mit Kwando, unseren Mitarbeitern und den Jugendlichen. Mit meinen Kindern habe ich eine tiefe Verbindung, wir skypen fast täglich und ich fliege mehrmals im Jahr zu ihnen. Doch mein Platz ist jetzt hier, mit Kwando, dem Honigmann.

Elisabeth Karamat

Den spannenden autobiografischen Roman »Honigmann« (erschienen bei Bastei-Lübbe) gibt es im Internet oder jeder Buchhandlung.

Der Prozess, es endlich zu wagen

Leon Schulz, Autor des Buches »Sabbatical auf See«, möchte alle Gleichgesinnten ermutigen, ihre vage Zukunftsvision vom Ausstieg auf Zeit in Realität zu verwandeln


© Leon Schulz

 

Es konnten unzählige Gründe aufgezählt werden, warum gerade wir ein Sabbatical auf See niemals in die Tat umsetzen würden. Ich pflegte mit Ehrfurcht Segelbücher zu verschlingen, die von all den anderen Glücklichen handelten, die es geschafft hatten, ihre Träume zu verwirklichen. Wir hatten keine Erfahrung im Blauwassersegeln und zudem einen attraktiven Arbeitsplatz als Ingenieure und Kinder, die zur Schule mussten. Wir zweifelten, ob wir es uns überhaupt leisten könnten, ein ganzes Jahr ohne finanzielle Einnahmen auszukommen. Viele gute Gründe dort zu bleiben, wo man sitzt, oder? Aber nachdem wir wieder einmal einen Vortrag von einer echten Blauwasserseglerin gehört hatten, ging ich am Ende des Referates zu ihr und sagte, dass wir auch so gerne das machen würden, wovon sie gerade erzählt hatte. »Na, dann tu’s doch!«, antwortete sie forsch. Ich dachte, sie hätte mich nicht verstanden. Damals war ich noch davon überzeugt, dass ich mein so sorgsam geregeltes Leben weder verändern dürfe noch könne. Wie engstirnig ich doch war! Heute weiß ich: Was man wirklich will, das kann man auch und sollte es tun! Daher warne ich meine Leser: Falls Sie mein Buch »Sabbatical auf See« lesen, tun Sie dies auf eigene Verantwortung! Es könnte sein, dass auch Sie vom Fernweh angesteckt werden, Ihre Chancen sehen und plötzlich den Entschluss fassen, ebenfalls die Leinen loszulassen. Auf jeden Fall würden wir uns sehr freuen, Ihnen auf den Weltmeeren zu begegnen, denn Platz ist dort genug, und das Risiko, dass Sie Ihren Aufbruch bereuen, scheint mir eher gering. Tatsächlich bereuen die meisten Menschen am Ende des Lebens eher das, war sie im Leben unterließen, als was sie gewagt haben. Und mir ist noch keiner begegnet, der am Ende bereute, nicht genug gearbeitet zu haben….

Vielleicht denken Sie ähnlich wie ich damals, dass man als Familie speziell gestrickt sein muss, eine große Menge Mut braucht, ein wenig Waghalsigkeit, sogar einen Hauch Naivität und schließlich auch überdurchschnittliches Glück, damit alles gutgehen kann.

Wir nahmen unsere Kinder aus der Schule, verkauften unser Haus, gaben unsere Berufe auf, und dann, ganz einfach, ließen wir die Leinen los und segelten aus dem Hafen. Vielleicht sind wir tatsächlich etwas abenteuerlich veranlagt, und wir brauchten sicherlich auch eine Portion Mut, aber wir sind nicht mehr von Glück gesegnet als andere Familien. Im Gespräch mit den vielen segelnden Eltern-und-Kinder-Crews, die wir unterwegs getroffen haben, wurde deutlich, dass wir alle eine sehr ähnliche Entwicklung durchlaufen haben: mit den gleichen Fragen, mit denselben Ängsten und vergleichbaren Erlebnissen vor, während und nach der Durchführung unseres Segelabenteuers.

Meiner Erfahrung nach führt ein Sabbatical durch vier Phasen: 1. Träumen 2. Planen 3. Durchführen und 4. Wiedereinsteigen.

Typisch nähert man sich einem Sabbatical nämlich als Träumer. Es vergehen oft Jahre, in denen man von einer Auszeit träumt, und hier gehört man wirklich nicht zur Minderheit, wie eine Forsa-Umfrage neulich bestätigte. Aber nur 2% schaffen es am Ende den Schritt tatsächlich zu wagen. Zu schade!

In der Rückschau war für uns der Übergang zwischen der Phase vom Träumen zum Planen tatsächlich am schwierigsten. Diesem Schritt ging ein langer, innerer Kampf voraus, der sich in unzähligen Gedanken und Diskussionen im Kreis drehte. Immer wieder erwogen wir dieselben Vor- und Nachteile, Risiken und Chancen, ohne ein klares Bild zu bekommen. Die Herausforderung schien einfach zu vielschichtig, denn wir hatten Angst vor einer Veränderung! Dieser Prozess ist verständlich und sogar notwendig.

Sollten auch Sie diesen inneren Kampf schon in sich selbst gespürt haben: Keine Sorge, wir haben alle darunter gelitten – er gehört dazu! Angst ist der Schrecken jedes denkenden Menschen! Angst steht im Zusammenhang mit stammesgeschichtlich herausgebildeten Warn- und Schutzfunktionen und kann schon bei der Vorstellung einer potentiellen Bedrohung auftreten. Daher führt sie oftmals zu Vermeidung, unterdrückt möglicherweise die Freude am Erkunden von Neuem oder am Spiel und hemmt somit Initiative und Kreativität. Aber man kann sie überwinden und den bewussten, reflektierten und respektvollen Umgang mit Angst in einem weitgehend kontrollierten Rahmen auch als lustvoll, befreiend und zutiefst befriedigend erleben. So tobt ein lebenslanger Kampf in jedem Einzelnen von uns zwischen dem Suchen, Ausprobieren und Erkunden auf der einen und dem Vermeiden, Kontrollieren und Bewahren-Wollen des Bekannten auf der anderen Seite. Beide Pole haben ihre Berechtigung, und jeder Mensch muss seine eigene Balance zwischen diesen beiden konkurrierenden Kräften in sich finden. Gewinnt die Vernunft diesen Kampf jedoch vielleicht zu oft in unserer von Rationalität geprägten Informationsgesellschaft? Werden unsere Gefühle unterdrückt, fehlt es an Fantasie, Neudenken sowie der Bereitschaft umzudenken? Sind wir deshalb für individuelle und daher unübliche Gedankengänge zu blockiert? Die Evolution hat uns den Verstand und die Fähigkeit zum Angsterleben gegeben, um Gefahren zu erkennen und ausweichen zu können, denn das Unbekannte könnte gefährlich sein! Aber ohne den Mut, manchmal auch das Risiko einzugehen, etwas zu unternehmen, das wir nicht ganz verstehen oder kennen, das heißt, dessen Konsequenzen nicht von Anfang bis Ende ersichtlich sind, gäbe es keine persönliche Weiterentwicklung und keinen Fortschritt.

Wir haben einen Freund, der einmal gesagt hat, er wolle das Blauwassersegeln lieber gar nicht erst ausprobieren, denn er habe Angst, es so zu genießen, dass er nie mehr in einen normalen Alltag zurückkönne.

»Besser es nicht zu wissen…«, murmelte er, während er in seinem Büro mit dem Gestus großer Wichtigkeit bedeutungsvolle Papiere von einem Haufen zu andern schob. Nachdem wir das Blauwassersegeln ja nun gewagt haben und seit einiger Zeit versuchen, uns wieder an unser altes Leben zu gewöhnen, muss ich zugeben, er hatte nicht Unrecht.

Die dritte Phase, das eigentliche Segeln, ist der leichteste Schritt, denn hier trifft man auf viele Gleichgesinnte, die, wie wir, in ihren Schiffen für eine kürzere oder längere Auszeit auf den Weltmeeren umherschippern. Die gegenseitige Unterstützung der Blauwassersegler – wir nennen uns die »Yachties« – ist bewundernswert und solange man vorsichtig segelt, mit viel Geduld das richtige Wetter abwartet und mit gesundem Menschenverstand reist, kann man auch unterwegs viel lernen.

Vor der vierten Phase, dem Wiedereinstieg, sei aber gewarnt: Die Eingliederung in ein gewöhnliches Leben ist oft gar nicht so einfach, wie man es sich am Anfang vorstellt. Die Welt, in die man zurückkommt, ist zwar noch die gleiche, aber man selbst hat sich verändert und hat neue, tiefsinnigere Werte im Leben gefunden. Um nur einige Beispiele unserer Veränderung zu benennen: aus Angst war Vorsicht und Respekt geworden; Hast, Hektik und Stress wurden ersetzt durch Gelassenheit; Vorurteile wandelten sich in Verständnis; sture Pläne wurden zu Optionen; Notwendigkeiten zu Prioritäten, die nicht alle erfüllt werden mussten; Phobien machten der Neugierde und Freude am Unbekannten Platz; Sorgen verwandelten sich in Ur- oder Grundvertrauen und Liebe.

Zeit ist für viele Menschen eine luxuriöse Mangelware, insbesondere für solche, denen sonst nichts zu fehlen scheint, die ihre Lebensziele weitgehend erreicht haben und auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Ich denke daran, wie ich früher an Time-Management-Kursen für Unternehmer teilgenommen habe, um alles optimal organisieren zu können, alles pünktlich zu vollenden und ja nicht zu spät zu kommen! Ich lächele bei diesen Erinnerungen. Welchen Nutzen hatten diese Zeitoptimierungssysteme, wenn ich sie mit der »Island Time« vergleiche, die in der Karibik von jedem Einheimischen erfolgreich praktiziert wird? Für diese Menschen ist Erfolg nicht Produktivität, sondern Glück.

Geld kann verdient, gespart, verteilt werden und auf der Bank wachsen, ohne zu altern. Mit dem kostbaren Gut Zeit verhält es sich anders. Im Gegensatz zu seinem monetären Gegenstück ist Zeit gerechterweise an alle Menschen der Welt gleich verteilt und zwar mit genau 24 Stunden pro Tag für jeden; praktisch wie ein Geschenk der Götter. Bis auf seinen ersten und seinen letzten Lebenstag erhält jeder Mensch täglich genau die gleiche Menge an Zeit; nicht mehr und nicht weniger. Es ist jedem selbst überlassen, diese 24 Stunden weise zu investieren, denn man bekommt sie nie mehr zurück. Man kann sie nicht auf ein Bankkonto einzahlen, um ein paar Reste für später aufzuheben. Es gibt keine Zinsen auf gesparte Zeit. Ähnlich kann man Zeit auch nicht auf Kredit erhalten. Zeit ist für uns nun plötzlich viel mehr wert als Geld, und wir überlegen daher genau, ob wir unsere Zeiteinheiten fürs Fernsehen ausgeben, lieber ins Bücherlesen investieren oder mit Freunden Spaß haben wollen. Zeit ist für uns zur wertvollsten Währung geworden.

Seinen Traum zu leben ist die eine Sache, aber nach der Auszeit wieder in den gewohnten Alltag einzusteigen ist eine ganz andere Herausforderung. Wie soll man beispielsweise nach einem so großen Abenteuer und der weitgehenden Erfüllung langgehegter Ziele und Träume nun neue Ziele und Träume finden? Geht es einem nach einem so erfüllenden Jahr wie dem Olympiasieger, der in eine Depression versinkt nachdem er seine Medaille gewonnen hat, für die er sein ganzes Leben kämpfte? Ich habe von einigen Seglern gehört, dass es helfen würde, ein neues Projekt zu beginnen: ein Haus zu bauen, eine neue Arbeit annehmen oder gar das nächste Segelabenteuer zu planen. In jedem Fall sollte es gelingen, nicht für den Rest des Lebens das Bedauern zu spüren, zurückgekehrt zu sein. Vielmehr muss man weiter nach vorne blicken und Ziele und Perspektiven aufstellen.

Wir waren aus unserm alten Leben aufgebrochen, um etwas Neues kennenzulernen. Ganz langsam veränderte fast alles, was wir früher für sehr wichtig gehalten hatten, seine Bedeutung. Indem wir uns ein Jahr Auszeit gegönnt haben, haben wir gelernt, uns zu öffnen und für neue Dinge bereit zu sein, und zwar für den Rest unseres Lebens. Wir verwarfen dabei nicht unser altes Leben. Im Gegenteil: Wir schätzten es umso mehr, denn es hatte uns ja zu unserem Segeljahr und unserer veränderten Sichtweise geführt. Unser altes Leben hatte uns Erfahrungen geschenkt, auf die wir unterwegs bauen konnten, denn es bestand aus wesentlich mehr als nur aus Gewohnheiten, die uns gefangen hielten. Unterschiedliche Perspektiven gehören zu verschiedenen Lebensabschnitten, und man unterliegt im Fluss des Lebens ständig kleinen Persönlichkeitsveränderungen. Diese ergeben persönliches Wachstum, und als Mensch wachsen zu dürfen, gehört zu den größten, spannendsten und bereicherndsten Erfahrungen im Leben. Gewohnte Wertvorstellungen, die ursprünglich hilfreich und dadurch bedeutungsvoll waren, können im Verlauf des Lebens an Bedeutung verlieren beziehungsweise sich sogar zu Blockaden entwickeln, die persönlichem Wohlbefinden eher im Wege stehen. Gleichzeitig entwickeln sich oft neue Überzeugungen, Werte und Grundhaltungen. Dieser Prozess stetiger Veränderung und Entwicklung, der normalerweise sehr langsam von statten geht, wird unglaublich deutlich und dynamisch während eines kurzen Segeljahres, in dem sich so viel und rasch entwickelt. Es mag fast erschreckend klingen, dass man sich so stark verändern kann, aber wir begrüßten unsere neue Weltanschauung, die unsere grundlegenden Bedürfnisse zutiefst befriedigt und unserer Persönlichkeit entspricht. Die innere Reise von partieller Fremdbestimmung und Selbstentfremdung hin zur Selbstverwirklichung haben wir erfahren dürfen.

Nach der Rückkehr aus unserem Sabbatical wurde es sehr deutlich, dass nicht alle Menschen um uns herum ihr hochprivilegiertes Leben zu genießen schienen. Viele kamen uns doch recht unglücklich und unzufrieden vor und schienen in Zwänge eingeknotet. Sie »mussten« so viel und »nur noch schnell«, wie sie sagten. Wo blieb die Muße? Sich Zeit nehmen für eine Aufgabe? Sich Zeit schenken, sich über das Ergebnis freuen? So wie der Künstler, der sein Bild liebt und sich nur ungern und unter Schmerzen davon trennt, da er sich so innig damit beschäftigt hat, es mit Geduld, Einfühlungsvermögen, Hingabe und Liebe zu schaffen. Sind deshalb Künstler die glücklicheren Menschen?

Viele Leute um uns herum hatten weder das Verständnis für noch das Bedürfnis nach Zeit und Muße. Es ging ihnen oft schlecht. Gleichzeitig empfanden sie sich aber alle als völlig normal und konnten vor lauter Streben nach scheinbar notwendiger Gewinnmaximierung, Effektivität und Produktivität die schleichende Entfremdung von sich selbst und ihren Bedürfnissen nicht erkennen. Es fehlte ihnen offensichtlich an gesunder, selbstkritischer Distanz zu sich selbst. Und immer diese Hetze! Wie soll man das auch aushalten, ohne langsam abzustumpfen und sich eine Hornhaut auf der Seele wachsen zu lassen?

 

Das Leben ist schon sehr kurz – da muss man doch ganz langsam leben!

Heute weiß ich, wie durchführbar eine ersehnte Auszeit doch oft sein kann. Man braucht nur eine Portion Mut und Hilfestellung von jenen, die es schon geschafft haben.

Um andere zum Segelsetzen zu inspirieren, habe ich das Buch »Sabbatical auf See« geschrieben. Es beschreibt uns als eine ganz normale Familie, die vierzehn Monate lang ohne viel Dramatik die klassische Route über den Atlantik in die Karibik und zurück segelt. Es ist ja nichts weiter dabei, würde ich heute sagen, denn über tausend andere Boote tun es ja auch – und zwar jedes Jahr. Es ist die Geschichte eines genussvollen Familientörns nach Norwegen, Schottland, Irland, Portugal, Karibik und wieder zurück. Wir stellten uns mit unseren Kindern Jessica (11) und Jonathan (9) auf unserer 40-Fuß-Segelyacht der Herausforderung, unseren abgesicherten Alltag gegen eine neue Erfahrung einzutauschen. Für uns wurde es zum äußeren und inneren Wendepunkt – voller Spannung und völlig angstfrei.

Und noch etwas ist interessant: Es braucht scheinbar nicht viel Überzeugungskraft, um es wirklich zu wagen. Manchmal ist es nur ein Gespräch oder ein Buch, das einem die letzten Zweifel wegwischt und plötzlich ist man über Nacht gereift: aus dem Träumen wird Planen.

Trotzdem werde ich immer wieder von der Wucht überrascht, mit dem das Buch »Sabbatical auf See« zum Loslassen inspiriert. Nicht selten erhalte ich heute Danksagungen aus allen Ecken der Welt, dass sie es schlussendlich doch geschafft haben, einen Ausstieg auf Zeit zu wagen. Das freut mich sehr und gibt mir die Kraft weiterzuarbeiten, um anderen zum Sabbatical auf See zu verhelfen.

Schon längst habe ich den Wiedereinstieg aufgegeben und stattdessen meine Passion zum Beruf gemacht: Ich arbeite heutzutage nur noch mit dem Ziel, Menschen zum Fahrtensegeln zu bringen und ein dafür geeignetes Schiff für die große Fahrt auszurüsten. Zwar habe ich meinen Ingenieursberuf an den Nagel gehängt, das technische Verständnis und die Pädagogik kommen mir aber trotzdem noch zugute. So bin ich zu einem Royal Yachting Association (RYA) Yachtmaster Ocean Instructor erkoren worden und habe eine Hallberg-Rassy 46 gekauft, die ich Regina Laska nenne. Auf diesem bequemen Blauwasserschiff können nun Interessenten mitsegeln, die an der Schwelle zwischen Träumen und Planen stehen; sei es für Leute mit begrenzten Segelerfahrungen, die das Leben an Bord erst einmal testen wollen oder für diejenigen, die schon so weit fortgeschritten sind, dass sie die international anerkannte Yachtmaster-Prüfung ablegen wollen.

Für mich ist Fahrtensegeln eine Lebenseinstellung, die mit einem Sabbatical sehr gut in Einklang zu bringen ist. Das seglerische Können ist dabei viel leichter zu erlernen als die sozialen Komponenten und die Entdeckerlust, die für ein Sabbatical viel mehr gefragt sind. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Fahrtensegeln interessant, erlebnisreich und persönlich erfüllend zu gestalten. Gerade das ist das Besondere: Fahrtensegeln bietet die größtmögliche Freiheit, die eigene Individualität in Harmonie mit anderen Menschen, Natur und Umwelt auszuleben. Genau das ist es, was wir daran so lieben.

Leon Schulz

Das Buch »Sabbatical auf See” – Eine Familie setzt die Segel (erschienen im Delius Klasing Verlag), das so manchem zum Sabbatical verholfen hat, gibt es in jeder besseren Buchhandlung oder im Internet bei Amazon. Mehr Informationen, auch zum Mitsegeln, unter www.reginasailing.com