Aufwind

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Dass die Angst vor einem unbekannten Virus die Anpassungsfähigkeit eines Großteils der Bevölkerung maßgeblich beeinflusst, hat wiederum die Corona-Krise eindeutig gezeigt. Wie sehr die Menschen ihr Leben aber wirklich verändern wollen oder eben nicht, förderte erst ein erstes Abebben der Infektionen im Sommer 2020 zutage. Erster Widerstand gegen die Maßnahmen der Regierung wurde laut, Verschwörungsideologien fanden regen Zuspruch. Die Kluft zwischen denen, die ihr altes Leben ohne Einschränkungen trotz Covid-19 zurückhaben wollten, und jenen, die immer noch große Angst vor dem Virus hatten, wuchs bedenklich an.

Gefühle beeinflussen unsere Anpassungsfähigkeit. Angst lässt uns eher durchhalten, Wut verleitet zum Widerstand. Der Neid auf jene, die sich den Regeln widersetzen, produziert wiederum Zorn bei denen, die sich das nicht trauen (das Denunziantentum feierte während und nach dem Lockdown fröhliche Urständ). Dass unsere Tochter versucht hatte, sich umzubringen, führte bei mir zu starken Schamgefühlen, die bewirkten, dass ich mir klein und wertlos vorkam. Ich hatte sogar in dieser extremen Situation den Drang, es allen recht zu machen: Besucher zu empfangen, die so überfordert waren, dass ich sie stützen musste, anstatt umgekehrt. An das Pflegepersonal möglichst keine »Extra-Wünsche« zu stellen, um ja nicht als aufdringlich empfunden zu werden. Sich kluge Sprüche und Weisheiten von Menschen anzuhören, die in Wahrheit keine Ahnung hatten. In Gesellschaft von Freundinnen nicht (mehr) zu weinen oder über meine Trauer zu sprechen, um niemanden zu belasten oder die gute Stimmung zu zerstören.

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Bei Alex verlagerte sich das Gefühl der Wertlosigkeit hingegen auf den beruflichen Bereich. Die Erschöpfung, die aus der monatelangen Überforderung durch unsere Situation resultierte, machte ihm Angst, dass er uns nicht mehr versorgen könnte. Obwohl wir finanziell abgesichert waren und uns beiden dank bisheriger Ausbildungen und Erfahrungen Möglichkeiten offenstanden, hatte er das Gefühl, nichts zu leisten. Während unsere Tochter noch im Wachkoma lag, war für diese Gefühle kaum Zeit, jeder Tag war geplant und eng durchgetaktet. Nach ihrem Tod und während der ersten Zeit der allumfassenden Trauer meldeten sich diese dafür aber mit größter Vehemenz.

Der Umgang mit diesen (und anderen) vermeintlich negativen Gefühlen veränderte sich: Versuchten wir sie anfangs zu verdrängen, so schafften wir es schließlich, uns ihnen mit therapeutischer Hilfe zu stellen. Nicht alle Emotionen hingen mit der akuten dramatischen Situation zusammen, manche hatten ihren Ursprung in frühkindlichen Prägungen. Diese Erkenntnis brachte nicht unbedingt eine Veränderung der Empfindungen, aber sie beeinflusste unseren Umgang damit zum Positiven.

Das Leben ist kein Wunschkonzert, heißt es oft so treffend. Immer wieder sind wir genötigt, Erwartungen und Vorstellungen, die wir einmal aus bestimmten Gründen getroffen haben, über Bord zu werfen. Freiwillig geschieht dies in den seltensten Fällen, denn Veränderung ist mühsam und braucht sehr viel Durchhaltevermögen. In einer schweren Krise kann ich mir allerdings nicht aussuchen, ob ich mich an sie anpassen will oder nicht. Wenn meine Firma aufgrund der Covid-19-Beschränkungen in Konkurs gegangen ist, muss ich mir eine neue Arbeit suchen – ob ich will oder nicht. Als unsere Tochter Nina nach ihrem Suizidversuch in der Intensivstation lag, mussten wir uns auf diese Situation einstellen – so schwer es auch war.

Als Nina im Dezember 2015 verstarb, kippte ich in ein tiefes Loch. Dreizehn Monate lang hatten wir alle Energien mobilisiert, um ihr und unseren anderen Kindern bestmöglich beizustehen, und nun war sie tot. Die ständige Anspannung fiel ab und hinterließ eine unendliche Leere. Alles schien umsonst gewesen. Ich stellte nicht nur die letzten Monate, sondern mein ganzes Muttersein, meine ganze Persönlichkeit in Frage. Und damit bekam alles, was geschehen war, einen Sinn: Es musste sich etwas verändern, und zwar tiefgreifend und langfristig. Unsere Beziehung stand auf dem Prüfstand: als Liebespaar, als Elternpaar, als Sohn und Tochter unserer Eltern.

Veränderungsbewusstsein bedeutet für uns, auch »erfolgreiche« Bewältigungsstrategien zu hinterfragen. Wer von einem Schicksalsschlag getroffen wird, hat keine Zeit, um zu reflektieren, wie und ob er »gesund« reagiert. Das Notfallprogramm, das dabei abläuft, ist oft ein uraltes, das häufig schon in der Kindheit angelegt wurde. Doch in der Krise nach der Akutphase ist es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um zu reflektieren. Was kann ich tun, um meine Anpassungsfähigkeit zu verbessern? Passen meine Bewältigungsstrategien auch in der aktuellen Situation noch oder stecke ich fest? Habe ich mich kognitiv zwar auf die Krise gut eingestellt, körperlich den Bogen aber weit überspannt?

Leider wird die mentale Gesundheit, die von der körperlichen nicht zu trennen ist, in Österreich immer noch sträflich vernachlässigt. Wenn man es sich nicht leisten kann, privat eine Therapie zu finanzieren, wartet man oft wochen- oder sogar monatelang auf ein kassengestütztes Angebot. Neben dem persönlichen Bewusstsein braucht es entsprechend Geld und Zeit, um eine Krise dermaßen nachhaltig zu bewältigen, dass man daran wachsen kann.

Mit der Aufhebung der Corona-Maßnahmen wird für viele weder die wirtschaftliche noch die psychische Krise vorbei sein. Aber auch wer gesundheitlich und finanziell verschont geblieben ist und nun darauf hofft, möglichst schnell wieder zur »alten« Normalität zurückkehren zu können, wird enttäuscht werden. Die Covid-Krise hat gesellschaftliche Wunden gerissen, die erst langsam und nicht ohne gemeinsame Anstrengung verheilen können. Die langfristige Bewältigung einer Krise kostet genauso viel Kraft wie die dramatische Zeit davor.

Hätten wir nach Ninas Tod »einfach« ein paar Monate trauern und dann mit der ganzen Tragödie abschließen sollen, um weiterzumachen wie zuvor? So wie uns nicht wenige unserer FreundInnen oder nahen Verwandten geraten hatten?

Das hätte bedeutet, dass vieles, was wir gerade als Persönlichkeiten in der akuten Phase gelernt und entwickelt hatten, in gewisser Weise rückgängig gemacht werden hätte müssen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Hatte ich versucht, es in den ersten Monaten allen recht zu machen, so musste ich mit der Zeit lernen, mich zu wehren, z. B. dem Pflegepersonal deutlich und nachdrücklich zu sagen, wenn ich das Gefühl hatte, dass bei Nina etwas nicht stimmte. Ich musste des Öfteren für das Wohl meiner Tochter kämpfen. Umgekehrt machte Alex bald die Erfahrung, dass er mit seinem »Cheftrainer-Verhalten«, nämlich Dinge selbst in die Hand zu nehmen bzw. energisch einzufordern, nicht mehr weiterkam. Er musste in mancher Hinsicht diplomatischer auftreten.

Ich fühlte mich nach der ersten Phase der allumfassenden Trauer durch diese Erfahrung sehr gestärkt. Wenn ich so ein dramatisches Erlebnis wie Ninas Suizidversuch und seine Folgen überstanden hatte, dann müsste es mir doch gelingen, auch in meinem restlichen Leben bestimmte Dinge anders zu regeln. Ich wollte meinen Ärger nicht mehr hinunterschlucken, ich wollte meine negativen Gefühle nicht mehr ständig verdrängen, ich wollte sagen können, wenn mir etwas nicht passte. Gleichzeitig waren meine Energiereserven so leer, dass mir klar wurde, dass ich einen neuen Umgang mit meinen negativen Gefühlen lernen musste. Denn sie weiterhin zu verdrängen hätte nicht nur viel mehr Kraft gekostet, sondern auch bedeutet, dass ich mich als Persönlichkeit selbst verleugnet hätte.

Doch der Weg dorthin sollte länger dauern, als vermutet, davor gab es noch einige Schichten an erlerntem Verhalten, übernommenen Glaubenssätzen und verdrängten Kindheitserinnerungen abzutragen. Und das nicht nur als Einzelperson, sondern in einem Familiensystem: mit Kindern, die ebenfalls durch das Geschehene traumatisiert waren, und einem Partner, der ganz andere Bewältigungsstrategien und -geschwindigkeiten fuhr als ich selbst.

2

VERSTEHEN HILFT

Suizid ist in Österreich in der Altersgruppe zwischen 15 und 29 Jahren die zweithäufigste Todesursache, in Deutschland sogar die häufigste. Diese nackten Statistiken – erschreckend und den meisten Menschen wohl unbekannt – bedeuteten in den ersten Wochen nach Ninas Suizidversuch eine gewisse Erleichterung für uns. Wir waren nicht alleine. Ein ähnliches Schicksal wie unseres ereilte viele Eltern in Österreich, auch wenn man es nur ganz selten mitbekam. Dass die Pubertät mit all ihren körperlichen, hormonellen und sozialen Veränderungen eine extrem vulnerable Phase in der Entwicklung eines jungen Menschen ist, war für uns nichts Neues, doch warum waren gerade unsere Kinder von Depressionen betroffen? Warum hatte sich Nina zu dieser Kurzschlusshandlung hinreißen lassen, wenn sie doch miterlebt hatte, dass ihrem älteren Bruder geholfen worden war? Auf diese Fragen brauchten wir dringend Antworten, und zwar von Menschen, die professionell mit dieser Thematik zu tun hatten. Kluge Sprüche und Küchenpsychologie gab es ohnehin genug.

Seit wir unser Schicksal öffentlich gemacht haben, sind viele Menschen an uns herangetreten, sei es im Bekanntenkreis, beruflich oder privat über Briefe oder Social Media. Angesichts der Todeszahlen durch Selbsttötung (und da sind Suizidversuche noch gar nicht eingerechnet) gibt es sehr viele Betroffene. Sehr viele Menschen, die verzweifelt zurückbleiben. Es ist eine Angewohnheit von mir geworden, jeden Tag die Todesanzeigen in der Zeitung zu studieren. Wo ist keine genaue Todesursache vermerkt? Wo steht (gerade bei jungen Menschen) »plötzlich und unerwartet« dabei? Die Toten, die sich selbst um ihr Leben gebracht haben, bleiben im Dunkeln. Ich kann oft nur vermuten. Hinter vorgehaltener Hand wird aber gemunkelt, manchmal erfahre ich erst viel später über Umwege, dass in diesem und jenem tragischen Fall wirklich Suizid im Spiel war.

 

Zeitungen und Fernsehen berichten entweder zu wenig über Suizid oder falsch. Die einen fürchten den sogenannten Werther-Effekt, der besagt, dass ein Bericht über Selbsttötung weitere Suizide nach sich zieht. Die anderen stürzen sich mit Sensationsgier vor allem auf Suizide von prominenten Persönlichkeiten, da werden oft alle Bedenken über Bord geworfen.

Es gibt bessere ExpertInnen zur Berichterstattung über Suizide als uns, aber wir können sagen, dass ein unglaubliches Interesse an Aufklärung besteht. Depression ist eine potenziell tödliche Krankheit, die immer mehr Menschen betrifft. Suizidgedanken können dabei eine ganz normale Symptomatik darstellen, genauso wie Angsterkrankungen oder andere psychische »Störungen«. Würde ich bei einer anderen körperlichen Erkrankung (wie z. B. Krebs o. Ä.) ein so wichtiges Symptom verschweigen? Noch dazu eines, das zeigt, wie weit fortgeschritten die Erkrankung ist?

Suizidgedanken zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass man bereits Suizidpläne schmiedet. Für mich persönlich stellte in der schlimmsten Phase meiner Depression, aber auch meiner Trauer, der Suizid einen letzten Ausweg dar, wohl wissend, dass ich das meiner Familie in dieser Situation nie antun könnte oder würde. Doch allein das Gedankenspiel gab mir mehr Handlungsspielraum: Wenn alle meine Bemühungen, das alles zu bewältigen, scheiterten, oder wenn mir irgendwann die Kraft ausginge, dann …

Ich schaffte es kaum, über diese Gedanken zu sprechen – sogar mit meiner Therapeutin fiel es mir schwer, und mit Alex ging es schon gar nicht. Ich bekam Angst vor mir selbst: Hatte Nina etwa mit ihrem Tun die Büchse der Pandora geöffnet und verführte damit den Rest der Familie zur selben »Lösung«? Gleichzeitig schämte ich mich, die anderen in Gedanken im Stich zu lassen.

Diese Vorstellung von Suizid wird ganz oft und fast ausschließlich von Film und Fernsehen vermittelt. Wie musste ich bei einem Abendkrimi hektisch umschalten, weil sich wieder einmal ein Böser seiner gerechten Strafe durch Selbsttötung entzogen hatte!? Oder ein junger Mensch, weil er mit seinem Tun jemand anderen bestrafen wollte. Da ist keine Rede von mentaler Erkrankung, von Behandlungsmöglichkeiten, von Therapie. Dabei bräuchte es genau das: das offene Sprechen über die psychische Erkrankung, über Suizidgedanken als Symptome derselben und über gangbare Auswege. Dies würde den sogenannten Papageno-Effekt bewirken, der viel stärker als der Werther-Effekt ist: Menschen würden sich getrauen, Hilfe zu holen.

In den Schulen unserer Kinder wagte man es in den wenigsten Fällen, unser Schicksal und dadurch das Thema ­Suizid offen anzugehen. Die Angst, Jugendliche erst darauf zu bringen, erstickt viele Aufklärungsversuche im Keim. Dabei wäre das Interesse so groß: Die Freunde unserer Kinder, egal welchen Alters, haben das Sprechen darüber ganz von selbst übernommen. Und: Auf Suizidgedanken muss man niemanden bringen, die kommen von ganz alleine. Was man aber wegnehmen müsste, ist die Scham und die Angst, darüber zu sprechen.

Der kognitive Zugang bekam am Beginn unserer Aufarbeitung das meiste Gewicht. Zu verstehen, warum Nina trotz psychiatrischer und psychotherapeutischer Begleitung versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, dass es sich um eine sogenannte »plötzliche suizidale Einengung« gehandelt haben musste, machte die aufwallenden Gefühle von Scham und Schuld ertragbar. Nina war erst seit wenigen Wochen medizinisch begleitet worden, und mehrere Behandlungsmöglichkeiten standen noch offen bzw. waren geplant. Niemals hätten wir (schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt) damit gerechnet, dass sich unsere Tochter, die immer so lebensfroh und voller Pläne gewesen war, etwas antun könnte. Wir wollten auch wissen, wie Nina reagieren würde, wenn sie wieder zu sich käme. Würde unsere Tochter überhaupt noch leben wollen, oder wäre sie wütend, weil wir ihr Vorhaben zu sterben vereitelt hatten?

Dieses Sprechen über Depression und Suizid führte dazu, dass wir das Geschehene zumindest in einem gewissen Ausmaß akzeptieren konnten. Akzeptanz gilt als eine wichtige Säule von Resilienz, was aber nicht bedeutet, dass man sich seinem Schicksal tatenlos ergeben muss.

Heute schreiben sich diese Zeilen recht souverän, damals war es der verzweifelte Versuch, eine Erklärung für das zu finden, was geschehen war. So rational wir jetzt darüber sprechen und schreiben können, so emotionsgeladen und überwältigend war die Situation damals. Hier zeigt sich gut, dass ein rein kognitiver Zugang natürlich unmöglich ist: Obwohl wir von Beginn an unsere ureigenen Tabus bekämpften, brauchte es in weiterer Folge eine Aufarbeitung der Gefühle, um so wie jetzt wirklich klar und offen über Suizid sprechen zu können. Daher ist die für dieses Buch gewählte Einteilung in einen kognitiven, einen körperlichen und einen emotionalen Zugang rein der besseren Verständlichkeit geschuldet. Wir reagierten zu jeder Zeit sowohl rational als auch emotional und körperlich. Bei der Bewältigung unseres Schicksals veränderte sich mit der Zeit jedoch die Gewichtung der unterschiedlichen Zugänge – und mit ihr auch das Bewusstsein, was das für unsere persönliche Verarbeitung bedeutet.

Als Ehepaar ergänzten wir uns in dieser ersten Phase der ständigen Alarmbereitschaft ausgezeichnet. Unsere Überlebensstrategien griffen perfekt ineinander. Alex war der, der nach außen kommunizierte und beispielsweise jeden Tag in der Früh auf Ninas Station anrief, um zu fragen, wie die Nacht verlaufen war. Ich übernahm die Kommunikation nach innen, fing unsere beiden Jüngsten auf, versuchte allen in der Familie Halt zu sein. Ansonsten bewältigten wir zunächst alles gemeinsam: die Diagnosegespräche in der Klinik, die genau getakteten Besuche auf der Intensivstation, die Treffen mit dem Suizidexperten.

Während wir zu Beginn unseren Gefühlen und der körperlichen Schockreaktion mehr oder weniger ausgeliefert waren, so verhalf uns das kognitive Begreifen der Situation zu einer ersten Stabilisierung. Alex wollte etwa auf der Intensivstation genau wissen, was gerade vor sich ging und wie die nächsten Schritte aussehen würden. Klare, eindeutige Botschaften waren trotz der allgemeinen Unsicherheit enorm wichtig. Das kleinste Missverständnis ließ unsere Angst ins Unermessliche wachsen. Gleichzeitig mussten wir aber irgendwie die Situation bewältigen, durften nicht in einem Meer der überwältigenden Gefühle ertrinken.

Wir mussten kognitiv lernen, wie wir mit bestimmten überbordenden Emotionen umzugehen hatten, um nicht in eine sich immer schneller drehende Negativspirale zu geraten – und zwar mit professioneller Hilfe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen. Schuldgefühle, die sich zwangsläufig aufdrängten, das Gefühl der Scham, dass uns so etwas passiert war, die Angst, dass Nina es nicht schaffen würde – die Emotionen waren natürlich da, aber wir durften ihnen keinen Platz in unserer Gedankenwelt geben. Wir sollten uns von ihnen nicht in den Abgrund ziehen lassen, mussten uns auf das konzentrieren, was zu tun war. Es war ein ganz hart erlerntes Leben im Hier und Jetzt. Ein Funktionieren im Augenblick, um das tun und organisieren zu können, was notwendig war, um unseren Berufs- und Familienalltag an diese Ausnahmesituation anzupassen.

Diese Art des Funktionierens begegnete uns auch zu Beginn der Corona-Krise. Und zwar in einem positiven Sinn: Nachbarschaftshilfen wurden organisiert, ältere Menschen versorgt, Freiwillige nähten Masken, wer konnte, verlegte seine berufliche Tätigkeit ins Internet, und es gab Balkonkonzerte zur allgemeinen Motivation. Aus der Not eine Tugend machen – diesem Sprichwort wurde ein überwältigender Anteil der Bevölkerung gerecht.

Ich hatte kurz vor dem Lockdown noch verschiedenste Farben und anderes künstlerisches Material besorgt. So verbrachten unsere Kinder einige sehr kreative Wochen, indem sie Fenster, Leinwände und Steine bemalten. Damals, als Nina in der ersten Zeit nach ihrem Suizidversuch in der Klinik gelegen hatte, waren es unsere eilig organisierten Kindersitter gewesen, die unseren jüngeren Töchtern mit Kunst und Kreativität über diese schwere Phase halfen.

Rund vier Wochen nach ihrem Suizidversuch wurde Nina in ein Rehazentrum verlegt. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass sie sich im Wachkoma befand. Das bedeutete, dass wir uns nun zusätzlich auch mit dieser Thematik auseinandersetzen mussten. Wie würden die zukünftigen Therapien aussehen, wie konnten wir unsere Tochter dabei unterstützen, wie standen die Chancen, dass sie sich wieder erholte?

Wir spürten recht schnell, dass es uns guttat, wenn wir selbst kleinere Aufgaben übernehmen konnten: mit Nina im Rollstuhl spazieren gehen, sie frisieren, beim Waschen helfen etc. Was für viele in diesem Augenblick vielleicht eine erschütternde Vorstellung ist, für uns waren das Momente, die uns guttaten und um die wir auch kämpften. Zu wissen, was zu tun ist, wenn sich gewisse Werte am Monitor veränderten, auf welche Art und Weise wir sie am besten ansprechen und berühren sollten – das war wichtig, um uns unserer Selbstwirksamkeit wieder bewusst zu werden. Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Säule von Resilienz: Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gibt einem Menschen die Kraft, weiterzumachen und auch schwerste Krisen zu bewältigen.

In meinen Augen gibt es aber noch einen Grund, warum wir uns auf diese Ausnahmesituation recht schnell einstellen konnten. Wir hatten im Rahmen unserer beruflichen Tätigkeit bereits früher eine Familie kennenlernen dürfen, deren erwachsener Sohn ebenfalls im Wachkoma lag. Wir hatten also ein gewisses Vorwissen und erlebt, wie jemand anderer ein ähnliches Schicksal meisterte. Die meisten Menschen haben überhaupt keine Vorstellung davon, was es bedeutet, im Wachkoma zu sein. In Film und Fernsehen liegen die Betroffenen stets friedlich und ruhig, wie schlafend, in ihren Betten. Doch Wachkoma umschreibt viele verschiedene Zustände, in unserem Fall hätten wir Nina diese vermeintliche Ruhe oft gewünscht. In Wirklichkeit wurde sie über viele Monate von furchtbaren Spastiken und Infekten gequält, die medikamentös kaum in den Griff zu bekommen waren.

Ich möchte an dieser Stelle ganz salopp behaupten: Wer vor den Schicksalen seiner Mitmenschen nicht den Kopf in den Sand steckt, der fällt auch nicht aus allen Wolken, wenn er selbst betroffen ist. Zu erfahren, dass die eigene Tochter im Wachkoma liegt, ist eine Katastrophe, aber wenn man ein bisschen Ahnung davon hat, dann findet man schneller zur eigenen Handlungsfähigkeit zurück. Mit Nina in diesem Zustand gut umgehen zu können, hat mich stolz gemacht und mir Kraft gegeben. Unabhängig von Monitorwerten zu spüren, ob es meiner Tochter gut geht oder nicht, verstärkte meine innige Beziehung zu ihr. Ich war Nina, wie meinen anderen Kindern auch, immer schon sehr nahe gewesen, und daran konnte auch ihr Suizidversuch nichts ändern.

Um unsere jüngeren Kinder kümmerten sich am Nachmittag, wenn wir bei Nina waren, über lange Zeit liebe Freundinnen und Familienangehörige. Aber es war klar, dass sie auch uns Eltern brauchten, und so organisierten wir unsere Woche schließlich so, dass immer ein Elternteil daheimblieb und es auch Tage gab, die wir alle gemeinsam verbrachten (während die Oma oder eine Freundin bei Nina war). Dies miteinander zu besprechen, auch rational zu begreifen, dass wir einen Weg finden konnten, unser Schicksal zu meistern, ohne dass die Kinder zusätzlich darunter leiden mussten, war enorm wichtig.

Denn das schlechte Gewissen, es als Eltern nicht richtig zu machen, meldete sich in diesem Fall nicht selbst, sondern wurde von außen an uns herangetragen: Wir würden unsere anderen Kinder vergessen, wenn wir so oft bei Nina wären. Es wäre doch besser, unsere Tochter in der Rehaklinik »quasi abzugeben« und zu Hause wieder ein »normales« Familienleben zu führen. Wir müssten lernen »loszulassen«.

Als ob jemand von uns in der Lage gewesen wäre zu vergessen, was passiert war! »So tun als ob« als Lösung. Wir haben uns ganz rational und mit emotionaler gegenseitiger Unterstützung dafür entschieden, unseren Kindern vorzuleben, wie man auch ein so schweres Schicksal meistern kann. Es gibt keine Garantie auf ein dauerhaft glückliches und unbeschwertes Leben, auch in der Kindheit nicht. Aber man kann seinen Kindern bestmöglich helfen, Krisen durchzustehen, mit der eigenen Kompetenz als Eltern und mit Hilfe von außen.

Mit dem Gedanken, schlechte Eltern zu sein, quälten wir uns ja ohnehin durch die Tatsache, das uns »so etwas« passiert war (siehe unser Buch »Mut zur Klarheit«). Warum hatten wir nicht erkannt, wie verzweifelt Nina gewesen war? Warum hatten wir mögliche Vorzeichen auf einen Suizid nicht gesehen? Hatte ich nicht selbst über andere betroffene Familien früher gedacht: Da muss doch etwas schiefgelaufen sein? Ich schämte mich so! Doch unserer Kinder- und Jugendpsychiaterin, bei der Nina und unser Sohn in Behandlung gewesen waren, gelang es, diesem bohrenden Gefühl Folgendes entgegenzusetzen: Wenn ich unsere Familie von außen betrachtete, hätte ich dann immer noch den Eindruck, etwas sei daran falsch? Nein, diesen Eindruck hatte ich nicht, auch wenn ich ganz ehrlich mit mir war. Wie viele lebten ein ähnlich vielfältiges und aktives Leben und waren nicht von Depressionen betroffen. Nina hatte es nicht geschafft, sich uns Erwachsenen anzuvertrauen (auch ihrer Ärztin nicht). Sie war in Behandlung, hätte es klare Anzeichen gegeben, wäre von mehreren Seiten sofort reagiert worden.

 

Wir waren eine starke Familie und wollten es auch bleiben. Wir mussten dieses Schicksal nun meistern, und zwar so, dass es alle heil überstehen würden (auch an Ninas Genesung glaubten wir noch fest). Dafür galt es nun, die volle Verantwortung zu übernehmen, wir mussten auf unsere Kinder und auf uns selbst schauen, damit die Energie für alles reichte. Wir holten uns Hilfe, wo sie nötig war, und griffen auf unsere vielfältigen Kompetenzen als Pädagogin, Trainer und AVWF-Coaches zurück. Verantwortung übernehmen, Lösungen finden, Beziehungen gestalten – all das sind tragende Säulen von Resilienz.

Unser gemeinsamer Weg, unser gemeinsames Kämpfen schweißten uns als Paar zusammen. Bisherige Beziehungsprobleme rückten fast in den Hintergrund. Mit Ausnahme des Themas Schuld: Wir haben schon in »Mut zur Klarheit« erläutert, dass es eine Phase gab, in der ich Alex für alles, was geschehen war, die Schuld gab. Dass er in seiner Zeit als Skisprungtrainer weder körperlich noch gedanklich für unsere Familie da gewesen war, dass nur der Erfolg seiner Athleten gezählt hatte.

Hinter dem stand aber auch meine Wehmut darüber, dass ich mir immer ein anderes partnerschaftliches Zusammenleben gewünscht hatte. Alex’ Beruf brachte es mit sich, dass wir eine sehr klassische Aufgabenteilung lebten: Er verdiente das Geld, und ich kümmerte mich um Familie und Haushalt. Ich hatte es zwar geschafft, neben den Kindern zu studieren und schließlich auch zu arbeiten, das bedeutete aber auch eine riesige Kraftanstrengung, wie mir erst heute so richtig bewusst ist.

In dieser akuten Phase gab diese Aufgabenteilung aber auch Sicherheit. Jeder kümmerte sich um das Gewohnte, und das war schwer genug. Ich konnte Stärke daraus ziehen, wenn ich mit den Kindern etwas unternommen hatte, Alex, wenn er beruflich unterwegs gewesen war. Ich unterbrach zu dieser Zeit meine berufliche Tätigkeit, niemals hätte ich mich in unserem Zentrum für Stressregulierung und Lernförderung um die Probleme anderer Menschen kümmern können.

Unsere Wertschätzung füreinander, für das, was wir leisteten, wuchs in dieser Zeit ungemein. Ich war froh und stolz, wenn Alex von einem Vortrag heimkam, er wusste genau, wie wertvoll ich für unsere Kinder in dieser Situation war.

Gleichzeitig waren wir im Laufe der Zeit beide dazu gezwungen, unsere »Komfortzone« zu verlassen. Jeder von uns musste auch Aufgaben übernehmen, die ihm nicht so leichtfielen. In meinem Fall hieß das beispielsweise, auch einmal etwas energisch einzufordern und nicht nur die »Liebe und Nette« zu sein; sei es in Bezug auf die Pflege bei Nina oder in Bezug auf die Schule bei den anderen Kindern. Auch für die Unterstützung in der Kinderbetreuung musste ich mich auf die Füße stellen, denn 13 Monate sind eine lange Zeit. Situa­tionen, in denen ich forscher auftreten musste, hinterließen bei mir ein ambivalentes Gefühl. Einerseits war ich stolz darauf, mich durchgesetzt zu haben, andererseits fühlte ich mich schlecht dabei, andere womöglich verletzt zu haben. Kognitiv war mir zwar klar, dass mein Vorgehen unerlässlich gewesen war, mein Körper und meine Emotionen kamen aber nicht mit und zeigten entsprechende Stressreaktionen (mehr dazu später).

Als klassisches Liebespaar gab es Alex und mich zu diesem Zeitpunkt kaum noch. Wir waren in erster Linie Eltern. Für mich war körperliche Nähe fast nicht möglich. Ich hatte das Gefühl, unseren Kindern in dieser Situation so viel geben zu müssen, dass ich für Alex keine Energie mehr übrig hatte. An Intimität war nicht zu denken, die ständige Alarmbereitschaft und auch Erinnerungen an das Geschehene in völlig »unpassenden« Momenten ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Zudem war Schlaf ein wertvolles Gut. Beide hatten wir in den ersten Tagen bzw. Wochen Medikamente gebraucht, um überhaupt etwas abschalten zu können, doch wir wollten keine Abhängigkeit riskieren und nahmen die entsprechenden Benzodiazepime nur sehr eingeschränkt.

Für mich war es daher wichtig, gerade am Abend auch kurze Auszeiten für mich selbst zu bekommen, um besser ausruhen zu können. Wir schliefen daher in getrennten Zimmern. Ich musste mich als Erwachsene, so gut es irgendwie möglich war, um meine Regeneration kümmern, um das Pensum, das wir auferlegt bekommen hatten (und wir auch selbst auf uns nahmen) schaffen zu können. Auch Selbstfürsorge gilt als ein Baustein von Resilienz.

Denn jeder Tag war anders, jeder Tag konnte eine weitere Verschlechterung bringen, und weitere Hiobsbotschaften blieben in diesen 13 Monaten des Wachkomas nicht aus. Alex’ allmorgendliches Telefonat mit Ninas PflegerInnen war ein erstes Check-up für den Tag, je nachdem was vorgefallen war, richteten wir uns darauf ein, was uns heute erwartete. Mein Optimismus war dabei unerschütterlich: Egal von welchen Sorgen die Pflegekräfte berichteten, ich fand immer etwas Positives dabei. Optimismus, der feste Glaube daran, dass Krisen überwunden werden können, ist eine weitere Säule von Resilienz.

Meinen ansteckenden Optimismus habe ich bis heute nicht verloren. Egal wie tief die Täler sind, die wir immer wieder durchschreiten müssen, es gibt immer eine positive Zukunft für uns.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?